pflanzen beneiden. schreiben gegen ohnmacht

ich nehme mir vor, mehr lyrik zu lesen, besonders morgens, es räumt mir den kopf auf. ich lese mary oliver. ich lese selma merbaum, regen als tränen.

selma merbaum wurde nur achtzehn jahre alt. von den nazis in ein zwangsarbeitslager verschleppt, starb sie 1942.
ich lese ihre biografie (marion tauschwitz: „selma merbaum. ich habe keine zeit gehabt zuende zu schreiben. biografie und gedichte.“) und erfahre, dass sie nach ihrem tod unter falschem namen erinnert wurde und wird, ihr wiki-eintrag führt den noch.
ich erfahre, dass sie sich um die kinder im lager kümmerte. sie ging mit ihnen muscheln suchen, steine und pflanzen. naturkundeunterricht am fluss. ein fluss, der am lager vorbeifloss, ein fluss, an dem sich die leichen zu stapeln begannen, die über die böschung geworfen wurden.

der schmale grat zwischen bewunderung und inspiration porn. zwischen aus der vergangenheit lernen und sich in den zeiten nicht mehr zurechtfinden.

merbaum schreibt:
„und wenn die gärten verlassen sind,
dann sind sie es nur für mich.“

ich lese katrin de vries, die ihren garten verwildern lässt („ein garten offenbart sich. erzählung von einem anderen leben“).
abgestorbene bäume werden von pilzen zersetzt. wilde stiefmütterchen wachsen unter dicken bohnen. ein rasen wird ungemäht zum wiesendickicht. ein prozess, durch den sie sowohl den garten als auch sich selbst zu verstehen beginnt. der mensch als eines von anderen tieren. sich selbst weniger wichtig nehmen. ich beneide de vries um das stück land, auf dem sie eine wiese wachsen lassen, auf dem sie sich in beobachtungen vertiefen kann ganz nach ihrem ermessen. niemand, die_der ihr da reinredet, weil grundbesitz. ich beneide sie, dabei – und ich blende jetzt materielle gründe aus, denn weder meine generation noch die nach mir kann sich mal eben häuser mit gärten leisten – finde ich eigenen grund und boden in diesen zeiten eine eher schlechte idee. ich möchte zumindest das gefühl haben, jederzeit gehen zu können, die zelte abbrechen, die brücken abbrennen. privilegien, all das. wenn ich gehen will, obwohl ich bleiben kann.

stichwort privileg: ich fahre ans meer, was ähnliche auswirkungen auf mich hat wie lyrik lesen am morgen. der kopf wird klarer, das gefühl, nichts ausrichten zu können und sinnlos vor mich hinzuvegetieren, wird kleiner.
es ist so ähnlich, wie unter dem sternenhimmel zu stehen und erleichtert zu sein über die eigene nichtigkeit, nur andersherum: in der natur komme ich mir weniger nichtig vor. eher wie teil von etwas großem. vielleicht ist das widersinnig.

meanwhile zu viele handlungsskizzen, zeilenanfänge und lose enden, ich weiß nicht wozu und wohin. welchen „ideenkeimen“ (patricia highsmith) mich zuwenden?
wenn ein text auf dem papier steht, aber nicht gelesen wird, ist er dann ein text?

ich rette einen silberfisch aus der badewanne. am nächsten tag sitzt they wieder darin, oder es ist ein anderer, der them extrem ähnlich sieht, was, sage ich, hoffst du in der badewanne zu finden. dabei weiß ich genau, dass es nicht die schuld der silberfische sein kann, wenn menschen silberfischtodesfallen in ihre badezimmer einbauen. ich bin mir nicht sicher, ob das schreiben über „zur urtümlichen insektenordnung der fischchen“ (wikipedia) gehörige mitbewohner_innen zu nature writing zählt. aber ich lerne nebenbei, dass sie auch zuckergast genannt werden. sie mögen kohlenhydrate. feel you, silberfischchen.
ich beneide sie, weil politische entwicklungen für sie keine rolle spielen. sollte es irgendwann keine küchen und badezimmer mehr geben, überleben sie auch unter steinen.

ich lese viel, aber anders als früher. ich lese zeitungen, onlineartikel und newsletter. ich lese bücher von hinten nach vorn oder nur in der mitte, um sie dann wegzulegen und ein anderes anzufangen. ich sammle wörter, denn winter is coming. ich lese thriller und essays und abhandlungen über toxische männlichkeitsbilder bei jane austen.
ich experimentiere mit genres und gattungen, lesend wie schreibend.
ich experimentiere mit textschnipseln auf bluesky. zu anfang vermisse ich instagram, das ich wegen METAs vorauseilenden gehorsams gegenüber trump verlassen habe. dann beginnt es mir besser zu gehen ohne instagram. ohne das beständige hin und her zwischen politischem und pseudo-apolitischem content – ich schreibe pseudo, weil auch das eine entscheidung und damit sehr politisch ist. ohne function follows bildästhetik. ohne hassinhalte, die mir der algorithmus ungewollt anbietet. ich fühle mich ein bisschen wie nach einer entgiftung.

eine freundin schreibt mir: für dich selbst zu sorgen ist ein akt der rebellion. ich schreibe ihr, dass ich in diesem jahr (stand märz) mehr nachrichten gelesen habe als in den jahren davor zusammengerechnet. aber meine informationsaufnahme ist gezielter geworden. bewusster. vieles lässt mich verzweifeln. manches macht mir hoffnung. ich fühle mich klein angesichts der weltlageTM. ich gehe auf eine solidarität-mit-der-ukraine-demo. ich überklebe naziaufkleber. ich reposte kritische kommentare von menschen, die mehr verstehen als ich. ich probiere bandenbildung. tropfen auf heiße steine.

dieser tage beneide ich nicht nur die zuckergäste und gartenbesitzerinnen, sondern auch die pflanzen, die sich immer wieder anpassen, die sich weiterentwickeln und dem klimawandel trotzen. über_lebenskunst. sie wachsen in lücken im mauerwerk, ihre resilienz ist unvergleichlich. ihre geduld auch: jahre und jahrzehnte verharren manche samenkörner im boden und warten. auf wärme. auf regen. auf bessere zeiten.
es tut mir gut, über pflanzen zu lesen. über pflanzen zu schreiben. fast so gut, wie die finger in die erde zu schieben und die wurzeln freizulegen zum vereinzeln in der pflanzenkinderstube.
eine pflanze braucht keine hoffnung, sie macht einfach weiter. das zumindest kann ich mir von ihr abschauen. weitermachen.

 

Ann-Christin Kumm

 

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