freiTEXT | Kerstin Fischer

freiTEXT_Illus7-6

Todesblume

Die Todesblume kennt den toten Leib,
zeichnet weiße Linien in seinen stillen Ernst.
Auf das Bett ist die Hoffnung geträufelt.
Die Augen sind noch geöffnet.
Niemand wagt sie zu schließen,
bei all dem, was sie gesehen haben –
und Blut ist an den Füßen.
Durch Scherben sind sie gelaufen
in den gläsernen Abrissbauten der Kindheit.
Und blass sind die Finger,
der Lebenssaft zurückgezogen.
Der Geist indes sitzt wachsam daneben.
Er ist ansprechbar für jedermann,
der ihm zuhört
und kreuzt die Lilie über den weißen Händen.

Kerstin Fischer

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freiTEXT | Lütfiye Güzel

freiTEXT_Illus7-7
hatte so großes vor
bis mir auffiel
dass es so großes gar nicht gibt
& es ist mir gleich
die wäsche in den waschsalon
zu schleppen
& 54 minuten kreise zu drehen
& wenn es dann
dampft & stockt
bleibe ich sitzen
& warte was passiert
& es endet dann damit
wie so oft
dass nichts passiert
 -
Lütfiye Güzel
-

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freiTEXT | Philipp Böhm

freiTEXT_Illus6-9

Ruhende Kräfte

Bald, ja bald werde ich ein Flieger sein. Ein Junge braucht seine Ziele und Wünsche. An den Rändern unseres Gartens, wo die Verkrautung der Grundstücksgrenzen bereits weit fortgeschritten ist, proben wir für den Ernstfall und freuen uns bereits auf den nächsten Krieg. Mein Großvater sagte immer, die Zeichen seien damals klar gewesen. So sind sie auch jetzt, wir sind uns da sicher. Also liegen wir im Gras, wenn wir nicht gerade den Absprung üben, und blicken in den ungetrübten Himmel in der Hoffnung auf baldigen Bombenabwurf. Stets versichern wir uns aufs Neue, es könne sich nur noch um Tage, schlimmstenfalls Wochen handeln, ehe sie fallen. Doch der Sommer vergeht mit Hoffen und mit ihm unsere Euphorie. Für den Herbst wünschen wir uns keinen Krieg herbei. Nein, es muss der Sommer sein. So begrüßen wir die ersten fallenden Blätter mit Schweigen im Wissen um ein verlorenes Jahr.

Philipp Böhm

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freiTEXT | Jonis Hartmann

freiTEXT_Illus6-12

Zangenabdruck am Ticket, Zahnabdruck am Hals

W. aus B. prüft die Fahrkarten im Zug. Heute Nacht hat ihn jemand geprüft. Man kann es sehen, wenn er sich über sein elektronisches Multitool mit Schulterriemen beugt. Bald wird er Nachtschichten fliegen, der W. aus B.

Jonis Hartmann

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freiTEXT | Lina Mairinger

freiTEXT_Illus6-10

Ich bin die Sprache los

Ich habe meine Sprache verloren. All meine Worte, welche ich für normal pausenlos aus meiner Lunge quetsche, sind abgehauen, ohne Abschiedsworte, ohne große Reden. Es war ein sprachliches Ende, das ich eigentlich hätte vorhersehen können, denn nach wochenlangen algebraischen Rätseln, war annehmbar, dass meine sprachlich fähigere linke Gehirnhälfte, die nicht in Worte fassen konnte was ich an Zahlen zu verstehen versuchte und was ich bei den Zahlen überhaupt suchte, kapitulieren und sich aus dem Staub machen würde. Aber es ist gut, somit habe ich nämlich mehr Zeit dafür, ohne vorher lange Reden zu halten, auszurechnen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit sei, dass meine linke Gehirnhälfte nach Argentinien geflüchtet war und nun ein als, verschwiegen bekanntes Opossum, erfreut. Dieses Opossum begeistert womöglich nun mit meiner sprachlichen Gehirnhälfte, zahlreiche vor Erstaunen sprachlose Opossums, mit verwirrten Reden und konjugiert die Möglichkeitsformen von possum.

Vielleicht gründet das Opossum eine neue sprachliche Gattung. Nicht umsonst berichteten schon früh in der Antike Op-mer, Op-vid und Op-laton von dem kommenden Staatssystem der Op-olitiker, angeführt von Op-ama. Die Opossums wären auch bald viel beliebter als alle Menschen, denn während diese sich mit mathematischen Formeln definieren, gewinnen die Opossums mit wörtlichem argumentieren. Sie würden die Sprache revolutionieren, denn die tote Sprache Latein, würde neu fungieren. Mit O-possum als moderne Möglichleiten etwas zu können.

Menschliche Forscher ziehen sich wortlos in die Statistiken über Sterberaten von „an Worten erstickten Opossums „ zurück und hätten somit ein Hobby für ihre restliche Existenz. Inzwischen habe ich mich vermutlich einhirnig und verkrüppelt zurückgezogen. Denn der bessere, schwerere Teil meines Gehirns fehlte ja nun und ich gehe ich ja stets schief. Mit meinen neu erworbenen mathematischen Kenntnissen, kalkuliere ich vermutlich meinen beruflichen Erfolg als Bestattungsunternehmer für Opossums, denn das spannende, waren die vielen Scheintoten Opposums, die sich die Möglichkeiten des O-possum seins zunutze machen und ihren Tod vortäuschen um an ihr O-Pension ranzukommen.

Eines Tages wenn ich dann gerade kritisch ein scheintotes Opposum untersuchen würde, sehe ich vielleicht ein Opa-ossum, das die Straße entlang an mir vorbeispaziert, mich erkennt, mir und den vielen Mathematiknachprüfungen dankt, die ihnen das Wort in den Mund legten und sich dann unsicher wegen meiner bedeutungsschweren Existenz tot oder ‚nichttot‘ umfallen würde. Schweigend würde ich mich dann für mein restliches Leben wie Prometheus fühlen können, wenn nicht sogar besser, denn was ist schon das Leben verglichen mit der Sprache.

Ja, so wäre es wohl, wenn meine linke Gehirnhälfte nicht, nach langen mathematischen Foltermethoden, abgehauen und Ich nun für immer sprachlos wäre.

Lina Mairinger

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freiTEXT | Satie Gaia

freiTEXT_Illus6-11

Sandmensch

Sie bröckelt wie Sand auseinander, wenn niemand da ist, der sie hält,
sie rinnt aus, wie Wasser aus einem zersplitterten Glas,
Vom In-die-Höhe-Schießen
kam ihr der Boden unter den Füßen abhanden.
Jetzt schwebt sie irgendwo über allen Menschen,
doch auch nur der geringste Windhauch
vermag sie herumzuschleudern,
wie ein Orkan eine Papierblume.

Satie Gaia

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freiTEXT | Marie Gamillscheg

freiTEXT_Illus6-8

Julian (Auszug)

Als der Bus nicht kam, ging Julian das kurze Wegstück den Berg hinauf zu Fuß. Der Boden war eisig und Julian rutschte in seinen glatten Lederschuhen immer wieder ein wenig ab. Wenn es in den nächsten Tagen weiterschneite, würde er festere Stiefel für den Weg nehmen und seine schönen Lederschuhe erst in der Schule anziehen, beschloss er. Als er die Tür aufschloss, rief er ein „Hallo“ in das leere Haus. Es roch nach Nivea-Creme und Staub. Erst als er durch das Wohnzimmer ging und die Tür zur Küche öffnete, hörte er, wie Pfannen und Töpfe geräumt wurden und Metall und Glas aufeinander klangen.

„Hallo.“ Julian holte sich ein Glas aus der Kommode, das seine Mitbewohnerin wohl gerade eingeräumt hatte. Die gelblichen Kästen und Ablagen der Küche waren schmierig. Julian hatte einmal versucht sie zu putzen, doch es hatte nicht geholfen. Als ob die ölige Schicht nicht mehr zu durchbrechen war.

„Ah, Julian.“ Seine Großmutter stand in der Speisekammer. Julian glaubte, dass sie oft aus Langweile einfach Lebensmittel und Küchengeräte von einem Ort an den anderen räumte. So lange sie nicht seine Kaffeemaschine anfasste, war ihm das egal. Sie trug heute einen dunkelblauen, langen Rock und eine grüne Wollweste über der weißen Bluse, die sie oft anhatte, wenn sie nicht außer Haus ging. Ihre dicken Füße steckten in schwarzen, festen Hauspantoffel, die klackerten, wenn sie über den Laminatboden in der Küche ging. Sie beobachtete Julian, wie er den Kochtopf mit Wasser auf die Herdplatte stellte, die Hitze auf die höchste Stufe drehte und Zwiebel und Knoblauch schnitt. Julian hasste das. Er war zu seiner Großmutter gezogen, weil er seine Wohnung nicht mit fremden Menschen teilen wollte und um allein zu sein, wenn er es wollte.

„Gehst du heute noch außer Haus?“ Er hatte auf diese Frage gewartet. Sie konnte nicht schlafen, wenn sie allein im Haus war. Er antwortete nicht und holte Tomaten aus dem Kühlschrank, die er langsam in kleine Stücke schnitt, den Saft ließ er vom Schneidbrett auf den Boden tropfen. Er wusste, dass es sie quälte, wenn er nichts sagte, aber vielleicht würde sie es sich dann abgewöhnen. Als Julian sich die dampfenden Nudeln aus dem Sieb auf einen Teller kippte und sich ins Esszimmer setzte, blieb sie in der Küche. Er hörte bald, wie Gläser aneinander stießen und er wusste, dass sie wieder Gläserstapel auseinander nahm um sie neu anzuordnen oder vielleicht um die kleineren auf die größeren zu setzen oder um einige davon erneut abzuwaschen.

Nachdem Julian sich geduscht und umgezogen hatte, zog er sich seine Stiefel an und nahm leise seinen Mantel von der Garderobe. Erst als er laut die Tür zuwarf, würde seine Großmutter merken, dass er gegangen war. Er lächelte noch immer, als er in den Bus stieg und sich die verzweifelten kleinen Schritte seiner Großmutter von der Küche in ihr Schlafzimmer vorstellte. Vielleicht würde sie seine Mutter anrufen und sich beschweren. Die Fensterscheiben im Bus waren beschlagen, trotzdem sah Julian nach draußen. Es schneite schon wieder. Wenn er nicht wiederkommen würde, würde sie einfach zwischen ihren Pfannen und Töpfen verrecken, dachte er. Er stellte sich vor, wie sie am Boden lag, um sie herum Gläser, Tassen und Teller, teilweise zerbrochen. Er würde sich hinknien und ihr die Augen schließen, wie er es aus den Filmen kannte, und ihre Haut wäre von einem Ölfilm belegt, wie ihre Pfannen.

Der Gedanke mit den Kindern kam ihm erst, als er die Schule betrat. Die Lehrerin, die eine prall gefüllte, abgegriffene Ledermappe unter dem Arm trug, schüttelte ihm die Hand und sagte: „Schön, dass auch heute noch junge, engagierte Männer in den Lehrberuf streben.“ Julian nickte und folgte ihr in die Klasse, zwanzig Kinder starrten ihn an. Er stellte sich kurz vor und sagte, dass er in der letzten Reihe sitzen würde, um den Unterricht zu beobachten. „Hospitanz, Pflichtseminar von der Uni“, fügte er hinzu. Er faltete seine Hände vor seinem Körper, er hätte auch gern eine Ledermappe in der Hand. Den Schülern war keine Reaktion anzusehen, sie hingen in ihren Stühlen und auf den Tischen, als ob die Pubertät ihnen zu viel Kraft rauben würde. Die Mädchen wussten, wie sie ihre jungen Körper, die sich gerade zu formen beginnen, am besten in enge T-Shirts zwängten und deren Ausschnitt so ausdehnten, dass der erste BH darunter zu sehen war. Die Jungs wirkten daneben jung, in ihren zu großen Pullovern, in die sie noch hineinwachsen mussten. Julian war erschöpft, als er sich hinten in die letzte Reihe setzte. Er war froh, dass er nicht selbst unterrichten musste. Von hinten waren es weniger Augen und weniger Aufmerksamkeit, Julian entspannte sich wieder. Die Lehrerin referierte über den Präpositionsgebrauch im Englischen, doch Julian konnte sich nicht konzentrieren. Er beobachtete, wie vor dem Fenster die kargen Bäume im Schneewind zitterten und drinnen, obwohl es vorgab eine andere Welt zu sein, in den Tischreihen die Mädchen sich scheinbar im selben Takt bewegten, wie sie ihre schmalen Rücken in die Höhe streckten oder sich gen die Tische beugten.

Der Rauch verflüchtigte sich schnell im hohen Raum, als ob er sich vor der Großmutter einen Stock darunter verstecken müsste. Julian machte seine Lippen schmal und versuchte Ringe auszustoßen, aber auch diese behielten nur kurz ihre Form. Der Raum war hell und trocken vom Morgenlicht. Julian fühlte sich ein bisschen wie die blonde, schöne Frau in weißer Unterwäsche in diesem Schwarz-Weiß-Film, die sich im Bett räkelte und rauchte. Vielleicht war es Brigitte Bardot, Julian wusste es nicht. Selten hatte er etwas ähnlich Ästhetisches gesehen wie diese Frau. Als er den Film vor Jahren zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er mehrmals wieder zurückgespult, um sie wieder zu sehen; wie sie sich im Bett zur Seite drehte, sich aufrichtete und wieder zurück fallen ließ, wie sie sprach, dunkel, rauchig säuselte sie ihre Worte, das Bett groß, weiß, um sich darin zu verlieren – mit ihr. Vielleicht hatte er wegen ihr zu rauchen begonnen, überlegte er sich, und nicht nur, um sein Spießertum zu verstecken. Er griff unter der Decke neben sich und fasste auf einen nackten, behaarten Oberschenkel. Sebastian schlief immer so lang. Seine Großmutter würde bemerken, wenn er das Haus verließ und Julian müsste wieder sagen, dass er auf der Couch übernachtet hatte, weil er zu viel getrunken hätte, um noch Auto zu fahren. Julian drückte die Zigarette im Aschenbecher am Nachtisch aus und stieg vorsichtig aus dem Bett. Er öffnete die großen Flügeltüren, auch hier weiße Vorhänge, und trat nach draußen auf den Balkon. Er blickte über die Terrasse bis zur Innenstadt, wo sich die roten Dächer aneinanderdrängten, obwohl es rundherum noch genug Platz gäbe. Julian wollte schon immer auf einer Anhöhe wohnen; er hatte die Ebene der Vorstadt satt.

Es hatte geschneit über Nacht. Die zwei hohen Fichten trugen so schwer, dass sich die Äste zu Boden neigten, die Naturgeräusche klangen gedämpft, wie eingehüllt vom Schnee. Seine Großmutter würde ihm sofort sagen, dass er den Schnee aus der Einfahrt räumen müsste, wenn sie ihn sah. Julian trat wieder nach drinnen. Unter der Decke war es warm, Julian drängte seine kalten Beine gegen Sebastians. Langsam öffnete er seine Augen und gähnte, er rieb sich die von der Nacht zugequollenen Augen, um sie wieder in ihre natürliche Form zurückzudrängen. Er schmeckte nach ungeputzten Zähnen, als er Julian küsste. „Guten Morgen“, sagte Julian. „gut geschlafen?“

Sebastian nickte und drückte sich noch tiefer in den weißen Polster.

„Wann hast du Uni heute?“

Marie Gamillscheg

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Über das Literarische Quartett und ein literaturkritisches Medienformat Fernsehen

Dass Marcel Reich-Ranicki in der von 1988 bis 2001 ausgestrahlten Literatursendung Literarisches Quartett durch seine Sprachgewalt die Zuschauer immer wieder in seinen Bann zog und er als „Literaturentertainer“ Qualitäten besaß, steht außer Frage. Was aber in Frage gestellt werden darf, ist die Qualität der Literaturkritik, die von einem literaturfernen Medium Fernsehen bzw. dessen Literaturprogramm ausgehen soll.

Doch auf dem Weg vom sublimen Stil der schriftlichen Literaturkritik zur mündlichen Propaganda geht genau jener Bezug zum Gegenstand verloren, der sich romantischer Manier als ein ,Weiterschreiben‘ des Textes versteht, also auch jenes Relief, das ein literarisches Buch jeder gelungenen Kritik indirekt einprägt. - Hubert Winkels

Alleine die Technik und Sendeabwicklung stellen mit Kamera und Studioeinrichtung andere Voraussetzungen an ein literaturkritisches Format. Mit einem Fernsehstudio sind zwar wichtige räumliche und technische Grundlagen erfüllt, aber mit ihm kann auch gleichzeitig das Vorhaben einer literaturkritischen Sendung gefährdet sein. Was bedeutet das Fernsehstudio für eine Literatursendung? Durch die erstmalige Zulassung eines Studiopublikums im Literarischen Quartett am 12.10.1989 wurde die Sendung grundlegend verändert. Durch das Präsenzpublikum wurde die Basis einer typischen Fernsehdiskussion geschaffen, wie sie in den verschiedenen Talkshows im Nachmittagsprogramm der kommerziellen Privatsender zu finden ist. Auch wenn sich das Publikum des Literarischen Quartetts meist nur durch nonverbale Bekundungen äußerte, hatte seine Einführung einen wichtigen Einfluss auf das Verhalten der Quartettmitglieder, die bis dahin nur in einem engen Expertenkreis diskutiert hatten.

Zur Sendung gehörten also die Mitglieder auf der Bühne, das Studio und eben auch das Publikum. Der „Bühnenshow“ stand nichts mehr im Wege. Bourdieu vergleicht diesen Aufbau mit einem Theaterstück, bei dem es Akteure, einen Saal und ein Publikum gibt.[1] Auf eine Bühnenkonstellation verweist auch die Vorhangs-Metapher im Schlusssatz von Ranicki, mit dem stets die Sendung beendet wurde: „Und wieder sehen wir betroffen: den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Das Wetteifern der Akteure um die Gunst des Publikums hatte begonnen. Das Buch wurde zweitrangig. Durch die Exponiertheit vor einem scheinbaren „Live-Publikum“ wurde eine künstliche Konkurrenzsituation geschaffen. Weitere Komponenten einer Talkshow wurden ins Spiel gebracht: Performance und Durchsetzungsvermögen. Wenn sich Literaturkritik dieser manipulativen und oberflächlichen Mittel bedient, zeugt dies keineswegs von Objektivität. Abgesehen davon, dass der zeitliche Rahmen des Literarischen Quartetts jede Argumentation im Keim erstickte. 15 Minuten waren zur Besprechung eines Buches veranschlagt, d. h. dass ca. 3 bis 4 Minuten für jeden Teilnehmer übrig blieben, um ein Buch zu bewerten. Von argumentativen Standards kann daher kaum die Rede sein, von der Aneinanderreihung simpler Behauptungen schon eher.

Wenn Pressekritik einem deutlichen Bewertungsschema wie beispielsweise formalen, relationalen, inhaltlichen und wirkungsbezogenen Kriterien folgt, so erschöpft sich die Fernsehkritik in den letzten beiden Bewertungsrichtlinien. Emily Hussel untersuchte die gesamten Ausgaben des Literarischen Quartetts von 1996 und kam zum Ergebnis:

„dass nur 25,3 Prozent der gesamten Sendezeit für Wertung aufgebraucht wurden. Die meiste Zeit wurde für die Darstellung des Buchinhalts (32,6 %) sowie für allgemeine Diskussion und Moderation (32,2 %) verwendet.“[2]

Inhaltsangaben scheinen ein wichtiger Bestandteil der Sendung gewesen zu sein. Es wurde zwar gewertet, aber die Wertung war weniger wichtig als die Anmoderation. An diesem Punkt stellt sich die Frage der Qualität der Literaturkritik, die von einem Medium Fernsehen ausgeht. Reine Inhaltsangaben als Literaturkritik erinnern eher an erste Schreibversuche von Rezensionen in der Schule. Dieses Verhältnis zeigt aber damit deutlich: „Wer Literatur im Fernsehen propagiert, der tut es gezwungenermaßen nach den Regeln des Mediums“.[3] Die Regel ist das Fernsehpublikum, das von Zuhause aus die Sendung verfolgt. Der durchschnittliche Zuschauer verfügt nur über ein geringes Vorwissen. Literatursendungen kommen allgemein nur auf kümmerliche Quoten. Eine tiefergehende Diskussion würde somit zum Quoten-Exitus der Sendung führen. Wenn es das literarische Quartett nicht zustande brachte, Literatur auf mehreren Ebenen zu besprechen und die persönliche Gesprächsebene die Sendung immer wieder dominierte – der Showdown vom 30. Juni 2000 zwischen Ranicki und Löffler kann hier als Höhepunkt gesehen werden –, ist die Frage berechtigt, welche Aufgabe dem Literarischen Quartett überhaupt zukommt? Warum wird diese Sendung 13 Jahre lang ausgestrahlt, wenn sie nicht das ist, was sie eigentlich sein sollte, eine qualitative Literatursendung an sich?

Die Antwort liefert ein Begriff der Fernsehindustrie. Er ist die Voraussetzung für fast jedes Programm, er ist nicht eine Ausnahme und er stellt geradezu die Regel dar, wenn es darum geht, ob eine Sendung steht oder fällt. Es handelt sich um den Begriff „Unterhaltung“. Er stellt das Primat der Industrie dar. An ihm kann auch das staatliche Fernsehen nicht vorbei. Unterhaltung ist eine wichtige Komponente für das Literarische Quartett und sichert u. a. sein Fortbestehen. Dazu gehören Witz und Komik. Die Lacher gehen meist zu Lasten eines anderen Quartettmitglieds. Neben der Komik sorgen auch spannungsgeladene Gespräche zwischen den Quartettmitgliedern für Unterhaltung. Für das Fernsehen steht weiters fest, dass der Erregungszustand bessere Einschaltquoten als das Argument bringt. Und wenn Marcel Reich-Ranicki wieder einmal in einer Sendung mit seinen Händen in die Höhe fuhr, um eine Aussage seines begleitenden Trios mit Dramatik zu beanstanden, hatte er seine Aufgabe erfolgreich erfüllt.

Gibt es nun Literaturkritik im Fernsehen? Um diese Frage abschließend zu beantworten, lässt man am besten denjenigen zu Wort kommen, der damit reichlich Erfahrung gemacht hat. Marcel Reich-Ranicki moderiete das Literarische Quartett 13 Jahre lang, bis es auf seinen Wunsch hin eingestellt wurde. Er bekannte: „Das Fernsehen […] hat mit Literatur nichts zu tun, aber auch gar nichts zu tun. Es ist ein Massenmedium, das zur Verdummung des Menschen führt und zu einer Kritiklosigkeit, die ihresgleichen in der abendländischen Geschichte sucht.“[4] Nicht zu vergessen: „Gibt es im ‚Quartett’ ordentliche Analysen literarischer Werke? Nein, niemals. Wird hier vereinfacht? Unentwegt. Ist das Ergebnis oberflächlich? Es ist sogar sehr oberflächlich.“[5] Warum das alles? Warum das Medium Fernsehen für Literaturkritik verwenden? Warum seinen Ruf als Literaturkritiker riskieren? „Doch was ich in meinem langen Kritikerleben wollte und was mir nie ganz gelungen ist, was ich nie ganz geschafft habe – die breite öffentliche Wirkung auf das Publikum –, das hat mir das Fernsehen ermöglicht.“[6]

Dominik Obermaier

 


 

Literatur

Bourdieu, Pierre: Über das Fernsehen. Aus dem Französischem von Achim Russer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998.
Hartmann, Rainer: Literaturkritik im literaturfernen Medium Fernsehen. Literaturvermittlung    im Spannungsfeld zwischen kritischem Anspruch und TV-Realität am Beispiel des „Literarischen Quartetts“ mit Marcel Reich-Ranicki. Marburg: LiteraturWissenschaft.de 2011.
Reich-Ranicki: Mein Leben. München: dtv 2003.
Mühlfeld, Emily: Literaturkritik im Fernsehen. Wien/Münster: LIT 2006.
Schwens-Harant, Brigitte: Literaturkritik. Eine Suche. Innsbruck: Studienverlag 2008.
Winkels, Hubert: Leselust und Bildermacht. Über Literatur, Fernsehen und neue Medien. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1997.

[1] Vgl. Mühlfeld, 2006, S. 190. [2] Mühlfeld, 2006, S. 195. [3] Hartmann, 2011, S. 94. [4] Zit. n. Olga Kuhlbrodt: Quote statt Niveau?. http://journalistik-journal.lookingintomedia.com/?p=506 (Stand 08.05.2015). [5] Reich-Ranicki, 2003, S. 538. [6] Ebd. 539.


Korrektur: Johanna Wieser

Niemand ist unfehlbar - schon gar nicht bei der Herausgabe einer Zeitschrift.
Bei der Kuration von mosaik15 hat sich leider ein Fehler eingeschlichen, darum hier nochmal die korrekte Darstellung der Texte von Johanna Wieser (S. 14).


 ---

da steht was dazwischen.

da rührt mich etwas zu Zeitwörtern
wo wir tun, als wären wir
dahinter,
da wächst was.

aber ziehe einen Stern in den Staub
und stoße mich an eindeutigen Bildern.
projizierte Orte tragen. nicht
dass ich je damit kokettierte, ich
schau durch den Winkel deiner Beine hindurch
und hör nicht mehr zu
unter Wasser Konflikte zu Momenten zu
überdehnen, wo mir der Ausdruck
in alle Richtungen zerfließt
im Schatten eine Allee, die nicht weiß
auf welche Seite er sich schlagen soll.

in einiger Richtung ein Pfahl, so scheint mir,
ein Pflock.
einen Aufprall vermeiden, vermutlich

---

---

zurück mich einzutrüben in einzigartige Lage
beinäher dem Boden, gebuckelt lehnen und
ferner da
hat sich herausgestellt, worum sich
was nicht selbst um anderes dreht.

zurück mich
auszuhalten verlangt
aufgerechte Neigung hindert ein
Klares beschlagen

Johanna Wieser


 


freiTEXT | Eva Weissensteiner

freiTEXT_Illus6-6

DU

da grüble ich und weiß nicht mehr
da steh ich und versteh nicht mehr
mein herz
es springt wohin es will
und in mir rennts
und steht doch still
weiß nicht wie ich mich wehren kann
umarm mich doch und lass nicht los
berührst mich ganz tief drinnen
ich weiß nicht was da grad geschieht
im kopf die ganze zeit das lied
will bleiben und dabei nur rennen
das alles jemals noch zu kennen
und dich nicht dass das möglich wär
da grüble ich und weiß nicht mehr
mein herz sich nicht erklären lässt
so komm und halt mich bitte fest
roll weg den stein und lass es zu
der meine bröckelt grad ganz wild
dacht steine wären so beständig
so still bin ich dann neben dir
kein stein bleibt mehr am andern
die stille neben dir ist schön
bedarfs doch keiner worte
und dennoch sprudeln sie hervor
und angst lässt sich nicht halten
verschwindet dann
und löst sich auf
und greif hinauf bis zu den wolken...

Eva Weissensteiner

freiTEXT ist eine Reihe literarischer Texte. Freitags gibts freiTEXT.
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