17 | Dillen Pauli Niedert

Südhalbkugeltag

Die Kirche brannte nieder, aber
ohne Schneespur fand ich eh nicht
zum Gebet. Draußen hingen die Kugeln
im Plastik. Es schneit nicht
in M. an Weihnachten
und wenn es brennt, brennt
alles, zu heiß
für Kerzen in Bäumen, Palmen, Kirchen.

Seit Tagen presste ich die Zähne
zusammen, nur zusammen
liefen andere Tourist*innen
um mein Bett
und ich stand abends alleine auf,
um zu singen mit A.
und mit meinem Akzent, der allen
irgendwas sagte außer mir. Wir redeten
fast nie, das Wörterbuch
machte peinliche Längen.

Schnee rieselte aus dem Telefon
und aus dem Paket aus dem
Tannenwälderland. Ich streute
ihn aufs Festessen einer fremden Familie,
saß zwischen ihnen als Puppe, damit
A. nicht ohne Freundin sitzen musste
und ich nicht ohne Familie.

Am Bahnsteig später
ein unwahres see ya. Ein Pinguin
winkte am Strand,
ich fragte, wieso ein Pinguin
nach M. gehen würde an Weihnachten.
Und A. fragte, ob es wirklich
schneien würde an Weihnachten
im Tannenwälderland.

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Dillen Pauli Niedert

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16 | Suse Schröder

Deswegen

Die Ausflüge mit Vater kann ich an zwei Händen abzählen, die die ich genossen habe, an einer. Der, an den ich mich am deutlichsten erinnere, gehört zur einen Hand. Zu diesem trug Vater einen Anzug. Seit diesem vermeide ich Rummelplätze, obwohl sie zu meinem Familienerbe gehören und ich mich zu ihnen hingezogen fühlen sollte.

Vater war grob und groß. Hätte ich mich als Sechsjährige auf Mutters Schultern gestellt, hätte er mich auf die Stirn küssen können.

Er wollte eine wilde Tochter, eine Starke, die zupackte, Dinge weiß und klarkommt. So konnte ich mit fünf Jahren einen Reifen flicken, eine Schubkarre voller Mist zum Kompost fahren und auf die höchsten Bäume klettern. Aber vor Achterbahnfahrten graute mir und das wusste er. Das wollte er nicht akzeptieren, dass es etwas gab, wovor ich Angst hatte.

An einem Winternachmittag nahm er meine Hand in seine, zog mich zum Auto und fuhr mit mir zur Festwiese. Von Weitem grüßte uns das Riesenrad.

Ich seufzte glücklich, als Vater sagte: „Wir machen alles, was du willst, aber am Ende fahren wir Achterbahn.“ Ich schluckte, hörte aber schon den Losbudenbesitzer plärren und sah die Liebesäpfel glitzern. Vom Autoscooter schallte Haddaways What is Love? Und mir zuckten die Beine. Ich biss mir kurz und kraftvoll in den Handrücken, bevor ich fragte: „Alles was ich will?“

„Ja“, sagte Vater ohne zu überlegen und da willigte ich ein. Vom Bratwurststand aus verschafften wir uns einen Überblick. Fett tropfte vor uns auf den dürren, ausgetretenen Rasen. „Dann los!“, sagte ich mit vollen Backen und wir schlenderten zum Kettenkarussell. Danach mit Lebkuchenherz vor der Brust zum Autoscooter, wo wir uns ein wildes Duell lieferten und das „Bitte keine Frontalzusammenstöße“ aus dem Lautsprecher überm Kassenhäuschen überhörten. Mehrmals knackte mein Nacken beim Zusammenstoß, die ganzen zwei Minuten über kicherte ich, dass mir der Bauch schmerzte. Am Süßigkeitenstand ordneten wir unsere Glieder und ließen unser Lachen verebben. In Vaters Bart verfing sich Zuckerwatte unterm Kondenswasser, mir klebte Liebesapfelrot am Kinn, als ich ihn zur Ponymanege zog. „Nein“, entfuhr es Vater, „bitte nicht.“

„Du hast es versprochen“, sagte ich siegesgewiss und zwinkerte der Ponyfrau zu.

„Außerdem… bin ich zu schwer.“
Da trat die Frau mit einem struppigen, gescheckten Pony an seine Seite: „Rudi schafft das“, sagte sie und übergab Vater das Pony. Aus seinen Nüstern stob weißer Dampf gegen die Kälte an. Ich schwang mich auf den Rücken von Lena und wir drehten unsere Runden im Oval. Andere Mädchen schleppten ihre Eltern zum Gatter, baten und bettelten ihre Väter an auch eine Runde mit ihnen zu drehen, als die Ponyfrau Rudi einen Klaps auf den Hintern gab und er einen Sprint hinlegte, bei dem es Vater fast aus dem Sattel warf. Mit zerzausten Haaren und einem Entsetzen im Gesicht warf er sich seitwärts ab und landete auf den Knien. Ich lachte scheppernd. Die Ponyfrau hingegen half Vater auf: „Sie haben sich wacker geschlagen!“

Er richtete sich auf, klopfte den Matsch in seiner Anzughose fest und deutete auf mich: „Heute bestimmt sie, aber am Ende fahren wir Achterbahn.“

Ich schluckte und hielt Ausschau nach einem weiteren Fahrgeschäft, einer weiteren Leckerei. Die Rummelplatzbahn, die sich durch die Stände und Fahrgeschäfte schlängelte, fiel mir noch ein. Als wir die Strecke abfuhren, wurden die Lichterketten und Lampions angeknipst. Verwunschen leuchteten die Plastikgeschenke, Losbudenpreise, Karusselle.
„Schießbude“, sagte ich nach dem Ausstieg, aber der Besitzer schüttelte den Kopf. „Erst ab acht, Mädchen ab zehn.“ Wütend tippte ich mir an die Stirn. Vater schlug Entenangeln vor, aber es gab nur Aale zu greifen. Tatsächlich gelang es mir, zwei glitschige Aale aus dem Becken zu werfen. Wie ein Rosenbouquet muss ich sie im Arm getragen haben, so stelle ich mir das heute vor. Danach drehte ich mich einmal langsam im Kreis herum, wollte das Ende hinauszögern. Vater zündete sich eine Zigarette an: „Komm“, sagte er. Er hatte ja recht. Ich kniff die Augen zusammen und hielt die Luft an als er zum Kassenhäuschen trat. „Ich kann nicht“, sagte ich und presste mir meinen Unterarm in den Bauch, im anderen Arm die zappelnden Aale. „Komm, versprochen ist versprochen.“

„Und Angst ist Angst“, schluchzte ich lauter. Vater motzte und meckerte, löste dann einen Jeton für sich und bretterte die Strecke mit Loopings und Schrauben entlang. Begeistert, mit roten Wangen und einem breiten Grinsen entstieg er seinem Waggon. Danach erst erfuhr ich, dass mein Großvater zum fahrenden Volk gehört hatte. „Bei einer Testfahrt, sie hatten es bis nach Budapest geschafft, ist er mit seinem Waggon aus den Schienen gerasselt. Er verstarb noch im Krankenwagen. Deswegen!“, sagte Vater und wischte sich das Grinsen aus dem Gesicht. Schweigend fuhren wir hinter beschlagenen Scheiben zurück in die eigenen vier Wände. Seitdem stelle ich weiterhin unbeantwortete Fragen zu jeder Familienfeier, den Geburtstagen und beim Weihnachtsschmaus und bleibe Dauergästin in Archiven. Von einem Achterbahnunfall in Budapest lässt sich nichts finden.

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Suse Schröder

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15 | Valerie Zichy

hast dich /
davongestohlen /
schleichende finger / zitternder mund /
hast dein lächeln zerschnitten /
die schnipsel auf das fensterbrett gelegt /
abschiedsbriefe mit zähnen aus papier /
davongeflüstert / davongeweht /
eine stille die sich die finger bricht /
im türspalt /
eine stille die schreit / schreit / schreit /
jemand beißt sich die zunge /
ab /
du bleibst /
trotzdem /
anderswo /

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Valerie Zichy

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14 | Elia Aubry

Wolken, fett wie Kühe…

Der Ausgangspunkt sei gleichgültig, man kehre ohnehin zu ihm zurück, las ein Schreibender in einem wichtigen Buch, Kopfhörer in den Ohren, Musik und umso mehr die Frage: wie beginnen?

Vielleicht mit Gleichgültigkeit… ja.

Etwa so als wirkten die verschiedensten Kräfte in demselben Raum, ohne sich gegenseitig zur Veränderung ihres Zustandes zu veranlassen.

Etwa so wie hundert Luftballons in einem grossen Raum unbewegt daliegen, bis jemand den Raum betritt, um die Luft, die das Einzige ist, was die Ballons voneinander trennt, durch seine blosse Anwesenheit zu verdrängen, dass alles in Bewegung gerät.

Zu Beginn ist also alles gleich, gleich gültig.

Die Zeit.
Der Raum.
Seine Höhe und Breite.
Seine Bewegung.
Alles einerlei.
Auch die Aussicht, vorbeiziehend, die Frau, die ihr nachschaut, den Blick erneut ansetzt und...
Überhaupt der Inhalt.
Der Kellner durch den Raum schauend.
Die Schaffnerin, ihn grüssend.
Das Bier.
Der Wein.
Die Gäste.
Ihre Geschichten.
Heute.
Morgen.
Gestern.
Und die Durchsage: Nächster Halt...
Alles gleich, alles gleich unwichtig.
Alles bedeutsam.

Und es ist auch gleich, ob ich sage: Es gibt Augenblicke, da liebe ich meine Entschlossenheit oder meine Entschlossenheit wird zeitweilig von mir geliebt.

Die meiste Zeit aber verachte ich sie und um sie zu erschöpfen, gebe ich mich der Gleichgültigkeit hin, die mich in eine neutrale Mitte zwischen Gegensätzlichem befördert, die meine Aufmerksamkeit befähigt, eine andere Wahl zu treffen als jene auf die sich ohnehin alles zubewegt.

Oder:

Ich entnehme meiner gewölbten Hand eines von sieben zusammengeknüllten Papierchen, öffne es, nehme die darauf stehende Zahl zur Kenntnis, setze mich in Bewegung, betrete das Perron mit ebendieser Nummer, sehe einen einfahrenden Zug, der zum Stehen kommt, betrete ihn und stehle mich, von einer auf nichts zielende Lust beschlichen, davon.

Und dann?

Dann setzte sich der Zug in Bewegung.
Und der Kellner schaute immer noch durch den Raum.
Und die Frau setzte ihren Blick auf ein weiteres an.
Und die Gäste tranken immer noch Wein und Bier.
Und die Schaffnerin.
Und Morgen.
Und Gestern.
Und...

Gleichgültigkeit also?

Oder der Reisende, der eben den Zug bestiegen hatte, sich mit dem Rücken zur Wand ans Fenster setzte, um das Ganze zu sehen (ja immer das Ganze) ist einer, der von sich selber keine Ahnung hat und diese Ahnungslosigkeit anhand der Dinge, die er betrachtet rechtfertigen möchte, indem er allem die gleiche Bedeutung beimisst.

Doch irgendwann wird immer ein Urteil gefällt.
Über alles.
Und alle.
Zumindest im Traum hatte der Reisende die gleiche Landschaft oder deren stellvertretendes Abbild, das sich nun gemächlich, beinahe schadenfroh an ihm vorbeischob, als hässlich empfunden.

Er bestellt ein Bier.
Und ein Apéro Plättli für vierzehnfrankenpunktvierzig.
Verschlingt es in folgender Reihenfolge:

  1. Grüne Olive
  2. Salametti
  3. Grüne Olive
  4. Sprinzwürfel
  5. Sprinzwürfel
  6. Salametti

Und dann,
ja dann,
endlich und plötzlich, während er (der Schreibende) diese Zeilen schreibt, ragt in die Lücke zwischen seinem Kopf und dem Schreibheft das eingefallene Gesicht einer alten Frau, die Gesprochenes richtungslos in den Raum wirft. Ja, wirklich, selbst jetzt, beim Schreiben von: „Ja, wirklich, selbst jetzt, beim Schreiben von:", dringen, wenn der Schreibende den Kopf aus der Senke seines Schreibheftes in die Horizontale legt, die sprachlichen Willkürlichkeiten der noch halbwegs funktionierenden Wahnsinnigen ungewollt in sein Hörapparat und alles was daran hängt.

Unweit daneben sitzen zwei weitere Mitmenschen, die ebenfalls in einer unverständlichen Sprache plaudern, eine fremde Sprache – Lautgespräche also, die Absurdität des Übersetzungsprozesses: Kopf-Stimmbänder-Luft-Kopf wunderbar verdeutlichend.
(Wie gerne würde ich (also der Schreibende) meine (seine) Muttersprache zeitweilig nicht verstehen.)

Der Schreibende muss schmunzeln, als die Alte erneut Sprache ausstösst und ihre Augen sich dabei unmöglich verdrehen.
Die Alte bemerkt und bekundet, das Gesicht verzerrend, ihren Überbiss ostentativ hochziehend mit nun gespitzten Augen eine ungewollte Sympathie.

Vorausweisend bedeckt der Schreibende seine Augen mit einer Sonnenbrille, worauf die Lippen der Wahnsinnigen der Schwerkraft anheimfallen und sich nach unten verkrümmen.

Der Schreibende schmunzelt nun noch stärker, senkt langsam die Sonnenbrille und streckt der Alten die Zunge heraus.

Die Alte lacht.

Wohlwollend.

Am linken Fenster zieht ein Kühlturm eines Kernkraftwerks vorbei, grauer Dampf ausspeiend, geradewegs Richtung Himmel, so als wolle eine Technologie, die Atome spalten kann, ihre Göttlichkeit markieren. In den gegenüberliegenden Fenstern spiegeln sich die Gäste.

Die Schaffnerin betritt erneut den Raum.

Sie findet die Frage blöd/ zu oft gestellt/ redundant/...
ob sie's nun lieber möge die Billets zu scannen als zu knipsen,
(wie früher).
Mit der 2019er Statistik über Personentodesunfälle versucht sie ab- oder umzulenken.
0.941 Menschen pro Tag,
gemeinjährlich,
(es soll vorkommen, dass sogar die Betreuer der ungefragt Verwickelten betreut werden müssen – dann nehme es kein Ende).

Und draussen:
Schoben Hügel Hügel
verschoben Berge
schoben Zacken
stiessen Zeiten
an den Rand

Und Wolken, fett wie Kühe bildeten eine Herde.

Manchmal kam dem Reisenden das Schreiben wie Schach spielen vor.
Das Schreiben verlangt eine gewisse Begabung im Vorausdenken und das Vorausdenken wiederum eine gebündelte Konzentration.
Und Schach spielen konnte er schlecht,
der Schreibende,
und überhaupt, auf was sich konzentrieren, wenn alles gleich gültig ist?
Wenn man nicht bereit ist mit sich selbst und seinem Urteilsvermögen mit zu machen, seinem inneren Auge zu folgen, wenn man sich resolut distanziert hat von jeglichen Vorstellungen, die direkt aus der eigenen Existenz aufsteigen.
Auf was seine Aufmerksamkeit hinsteuern, wenn man das dafür nötige Ruder mit einem breiten Grinsen über Bord geworfen hat?

Wohin also?

Ja, wohin mit ihm, dem Schreibenden,
dir und mir?

Die alte Frau lachte erneut.

Unterdessen sassen auch Kinder im sich bewegenden Raum. Ihnen wurde erklärt,
dass sie erst zuhause sein werden, wenn der grosse Zeiger den kleinen überholt haben wird.
SIE VERSTANDEN NICHT,
und hielten ihre Hände vor die Augen.
Einige forderten eine Geschichte.

Die alte Frau begann:

Es gab einmal Menschen die lebten in der Zwischen-Zeit,
zwischen Herbst und Winter,
zum Beispiel,
oder zwischen messbaren Anhaltspunkten.
Es gab einmal Ereignisse,
Gegenstände,
Personen,
die hatten keine messbaren Anhaltspunkte.
Es gab einmal Menschen, keine Personen. Es gab einmal Menschen, die hatten...

Die Alte versuchte die Menschlichkeit einzukreisen.
Es gelang ihr aber nicht.
Die Kinder VERSTANDEN IMMER NOCH NICHT
und schoben ihre Finger in die Ohren.

Der Schreibende blickte in den Horizont.
An der linken Seite wähnten sich vereinzelte Bergspitzen im ausgehenden Licht in Geborgenheit. Auf der rechten Seite zogen dunkelgraue Wolken in einer martialisch inszenierten Ankündigung ihres Stattfindens über die zitternde Erdkrümmung.
Auf die Blitze folgte ein ungeheuerlicher Donnerschlag – es sah sehr überzeugend aus.

Die Alte erzählte weiter.
Und die Gäste tranken weiter Bier und Wein.
Und der Raum.
Und die Geschichten.
Und Heute und Morgen.
Und der Schreibende schob seine Kopfhörer in die Ohren
und legte erneut Musik auf.
Für sich und dich
und mich.

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Elia Aubry

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13 | Avy Gdańsk

Landflucht

Ich hatte das Schlimmste befürchtet: den Sommer. An Land war es zu trocken, trockener noch als im Vorjahr, die Erde ein schuppiges Reptil. Ich suchte in überfüllten Schwimmbädern, unbeaufsichtigten Badeseen, felsigen Buchten – in meinem Kopf lächelten schon die Krokodile. Die Suche fast wie unsere Kindheitsspiele, nur todernst. Erst am Ende der Woche verriet mir Cepha verschämt, dass sie zuletzt in der Anlage gewesen waren, wo ich Konve endlich fand – nackt, nass und erzählbedürftig. Ich hörte zu.

„Am Tag vor der Schließung feierten wir Erans 19. Geburtstag im Camp Brium, der alten Zeiten zuliebe. Wir waren die letzten Gäste. Für zwei Stunden als Tier eine Schnitzeljagd im Team machen – damals ist das eine Weltneuheit gewesen. Sie haben ihren Standard nie erweitert, du kennst das ja noch: Man kann sich nichts aussuchen. Vermutlich lief das Geschäft darum eher schlecht. Es gibt nur sechs Tiere, jedem wird eins zugewiesen. Du wolltest immer ein Rauhfußhuhn sein, Thyst, und jedes Mal musste ich dir erklären, dass keins dabei war. Kein Haselhuhn, kein Birkhuhn und kein Auerhuhn. Die waren damals schon fast ausgestorben. Doch daran dachten wir nicht. Wir hatten nur unsere eigenen Probleme vor Augen und welche Tiere wir gerne wären. Aus mir machten sie den Trilobiten. Ausgerechnet.

Wir suchten uns in den Regalen unsere Utensilien zusammen – sie führten auch Erwachsenengrößen – und ich fand den Panzer nicht. Fühlte mich wieder wie in der Schule, die wir erst abgeschlossen hatten. Nervöses Fingerkuppenreiben, Herztrommeln, Angstschweiß. Ich fragte mich, wie ich als Trilobit all die Aufgaben lösen konnte. Warum ich nicht ein Flugtier oder eins mit Krallen und Zähnen hätte sein können, so hätte ich mich sicherer gefühlt. Aber mir blieb nur das Exoskelett, dass ich dann auch aus der letzten Reihe hervorzog, schon ganz abgenutzt von zig vorigen Geburtstagen. Stromlinienförmig. Wer das wohl schon getragen hatte. Egal. Ich musste hineinschlüpfen und das Spiel begann.

Für zwei Stunden verloren wir jede Sprache, sodass ich die Ereignisse nur rückblickend aus Menschensicht widergeben kann. Meine Erinnerung besteht aus Sinneseindrücken und Intuition. Im ersten Moment gab es noch Erleichterung. Ich musste die subtilen Gemeinheiten der Gruppe nicht ertragen, in deren Rangordnung ich am niedrigsten war. Ich ließ die Blicke von Sagitt, Cepha, Versal, Eran und Robe an meinem Panzer abprallen, doch ihre Tieraugen hatten den Spott ohnehin verlernt, ihre Lippen das hämische Grinsen. Ein Marder, ein Chamäleon, eine Elster, eine Vogelspinne und ein Gürteltier standen auf einer Urwaldlichtung. Ihre echten Namen hatte ich schon vergessen. Wir stellten uns einer neuen Unfreiheit. Dann hieß es losziehen.

Tapire preschten aus dem Gebüsch. Die Spur der Rüssel unser erster Hinweis. Wir krabbelten, flogen, kletterten hinterher. Ich als Schlusslicht. Kannte das Spiel schon, hatte aber vergessen, was als Nächstes kam. War ja Trilobit. Doch ich sag dir was: Selbst Trilobiten können sich unnütz fühlen. Merken, wenn sie überflüssig sind.

Die Elster schrie, der Marder keifte und die Spinne stridulierte. Sie hatten etwas entdeckt, während wir Übrigen mit unserer Stimmlosigkeit haderten. Damit hatten die anderen zwei mehr zu kämpfen als ich.

Etwas steckte im Boden, gehalten von der Erde, die einfach nichts loslassen mag. Das besitzergreifendste Element. Wir machten uns daran, ihr das Objekt zu entringen: Das Chamäleon hielt es fest, der Marder fing an zu graben und sogar Elster, Vogelspinne und Gürteltier scharrten mit. Nur ich – kein Tunnelgräberexemplar – konnte nicht mithelfen. Niemand warf es mir vor. Sie vergaßen mich einfach.

Die Einsamkeit der Urzeittiere ist schön, weil schnell verflogen. Ehe sie ernst wird, überfällt einen der Überlebenskampf und schenkt einem gnädigen Tod oder gnädige Ablenkung. Ein treuer Begleiter in der Natur, der auch mich nicht im Stich ließ, denn schon fiel mich etwas anderes als Trübsal an.

Ein Maul. Feuchte Atemfluten. Und ich schreiunfähig. Angstapparat. Die fünf grabenden Tiere schauten auf. Eingezwängt zwischen Blicken und Zähnen stellte ich fest, dass niemand mir feind war: Das Primitive kennt keine Boshaftigkeit, nur Hunger. Warf mich voll Futtervorfreude hoch – und verlor. Denn ich landete im Wasser,

In den Zellen dumpfes Ich, kannte das Wasser, war sein Wesen, urvertraut. Plötzlich war ich leicht und beweglich – war ganz in meinem Element. Das Element, das der Erde ständig abrang, was sie besaß, und es ihr als Zerriebenes wieder zuführte. Die Wellen ahnten es an mir. Und ich, Thyst, brauchte kein Wofür, ich schwamm einfach und war bereit, es mit dem Tod aufzunehmen, als Spiel und Ziel zugleich. Du meinst, Zweck kann keinen Sinn ersetzen? Denk an die Spiele im Camp Brium, an den Rausch, wenn man sich gerettet hatte. Der Spaß der Aufgabenlösung. Gefahr oder Vergnügen reichen vollkommen aus, ein Leben zu füllen.

Die Gruppe war verschwunden, als ich auftauchte. Auch das Beutetier hatte sich verzogen. Nach Ablauf der zwei Stunden fühlte ich den Druck des Menschseins und musste ihm nachgeben, schlüpfte aus dem Panzer. Ich ließ mich in den Farn fallen wie angespült.

Erst hing ich noch dem Wassergefühl nach, dann kamen die Worte. Belegten meine Erfahrung, als hätten sie die Plätze reserviert – bestuhlte Wildnis: Zivilisation. Das brachte mich auf den Gedanken, wo die anderen blieben. Ob sie Erans Geburtstag wie früher am Steg ausklingen ließen, am Weiher, lachend wie Krokodile. Ich musste feststellen, dass ich auch ihrem Sinn entglitten war, als sie mich aus den Augen gelassen hatten.

Du kannst dir vorstellen, wie wütend ich war – doch als sie drei Stunden später auftauchten, um nach mir zu suchen, sah ich ein, was mich notwendig machte: Ohne mich geriet die Dynamik durcheinander, ohne mich schwand ihr Zusammenhalt. Konnten sie nicht mich angreifen, taten sie es gegenseitig. Ich hatte es aber satt, zum Zweck ihrer Sättigung zu existieren. Darum beschloss ich, unangenehm zu werden: Ich starb aus. Jedenfalls war meine Unauffindbarkeit für sie damit gleichbedeutend.

Ich wusste, so entstünde bei ihnen keine neue Weltordnung – sie würden sich jemand anderen suchen. Aber ich konnte hier am Gewässer in der verlassenen Anlage etwas Neues werden. Ausschwemmen, was mir nicht bekam. Den Panzer behielt ich, doch eine Rückverwandlung war nicht mehr möglich – die muss am Eingang durch die Betreiber autorisiert werden. Die hatten schon Feierabend gemacht und überließen mich meiner Evolution.

Ich musste viel an dich denken, Thyst. Habe viel Zeit im Wasser verbracht, um mich mit ihm zu verbrüdern. Habe mir gesagt, wenn ich schon nicht die Rauhfußhühner für dich hab retten können, dann rette ich wenigstens uns. Das Meer rückt nah an uns heran, sein Ellenbogen stößt uns in die Seite. Weg von der kokelnden Erde. Ich war in dieser Woche lang im Wasser, und schau, schon werde ich weich, schon werde ich weniger kalt. Meine Hände: Abschiedsflossen. Es führt ein Weg zurück.“

Konve nahm mich mit schwammigen Fingern und zog mich zum Rand. Ich bewegte mich einfach. Folgte dem Wort. Wasser war Gesang, ich war Körper – ein Ballsaal für Schwingung. Angezogen von der Melodie. Spielsüchtig. „Tauch ein. Geh unter.“ Ich verfiel meinen Sinnen.

Badeanzug aus Kaulquappen und weiches Algenhaar. Augen treiben wie Flöße über den Weiher und Haut ist Strand, an den die Wellen schlagen. Die Kussgeräusche der Kois versteckt hinter Barteln. Wasser ist Wollen. Körper bedeckt von Begierde bis über die Ohren. Ein wässriges Röcheln das Rinnsal hinunter zum Rand, schilfskolbdurchstochene Enden. Hier ist das Wasser festgenagelt, mit diesen langen Röhren, hier wandelt es sich in Morast. Tauchgang der Worte zum Grund, ein Mundvoll von schwappender Zunge. Das Wasser trägt den Himmel auf den Flächen, die Luft kippt aus den Zweigen in den Pfuhl.

Die Kuppen der Finger streicheln mal Wind und mal Nässe, am Morgen feuchte Reigen aus Gespenstern, am Abend einen Wattegeisterzug. Landunterlippen lesen Kreise aus dem Wasserläufertanz: sprunghaftes Ballett. Wünsche werden Blasen, die ans Oben denken, wo die Sonne sie mit Nadelstrahl zersticht. Die Steine tragen grünes Fell und Halskrausen aus Froschlaich. Blätter geistern wie Barken zum anderen Ufer.

„Spürst du die Urtümlichkeit, die es braucht? Nur, was es schon gab, bleibt bestehen. Wenn alles gut geht, verstehst du mich bald nicht mehr.“

Fleischbad. Moosleib. Das Grün brennt die Beine hinauf. Gliederkerzen. Arme glühen im Dunkeln. Weite Geste gestern noch. Lösen sich nun aus der Form. Wachsfigur. Quallenmensch. Quellentier. Es geht zurück.

Konve spricht. Ich verstehe.

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Avy Gdańsk

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12 | Željana Vukanac / Anna Pia Jordan-Bertinelli

Јутарња

Сваког јутра
она скида једну себе
преко главе;
ону пресањану
у мајици памучној
са неколико дугмади
умршених у коси.
Она баца себе на под,
одмах поред оне главе од јуче
и мисли
да је то довољно
за нови дан.

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Morgens

Jeden Morgen
streift sie sich ein Ich
über den Kopf ab;
sie hat es durchgeträumt
in einem Baumwollshirt
mit ein paar Knöpfen,
die sich in ihren Haaren verfangen haben.
Sie wirft sich selbst auf den Boden
direkt neben den Kopf von gestern
und denkt sich
dass das schon genug ist
für einen neuen Tag

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Aus: Željana Vukanac: Prostori. Stolac: Slovo Gorčina 2019.
Aus dem Serbischen übersetzt von Željana Vukanac und Anna Pia Jordan-Bertinelli.

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Željana VukanacAnna Pia Jordan-Bertinelli

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11 | Christina König

Finderlohn

hast du schon mal kaiserschmarrn mit eierlikör gegessen
hey es ist das beste
am weihnachtsmarkt gibts da so einen stand
da haben sie so was
ich könnt mich dort fett fressen
beim nächsten mal gehen wir da hin
ich bekehr dich schon

Schlumpfblaue Augen tanzen durch den Raum, vom pseudo-antiken Kronleuchter über Salz und Zucker bis zu mir. Überschminkte Sommersprossen sprenkeln ihre Stirn, drei Mutter­male wandern über ihre Wangenknochen wie Orions Gürtel und unter ihr Ohr ist eine Taube tätowiert. Hinter den geschlossenen Fenstern präsentieren die Schneeflocken ihr russisches Ballett und sie streckt ihnen die Zunge heraus: Sie hasse den Winter, immer sei es so kalt, sie wolle endlich wieder Sommer; ich schiebe ihr meinen Cappuccino hin, sie trinkt dort, wo vorher meine Lippen die Tasse berührt haben, und draußen rauscht ein Rettungswagen mit Blaulicht vorbei. Hinter ihr schält sich die türkisblaue Tapete ab. Dunkle Wandfarbe mit seltsamen Mustern kommt darunter zum Vorschein.

und dann sagt der ernsthaft zu mir
na dann müssen sie halt länger bleiben
das kann ja wohl nicht das problem sein
hallo gehts noch
soll ich meiner tochter sagen sie soll im kindergarten übernachten oder was
und ihr papa
also mein ex
der ist so nutzlos
den brauch ich wegen abholen gar nicht fragen
das nervt mich alles schon so 

Das Kunststück aus Schokolade, Creme und Erdbeeren landet auf dem Imitat eines japanischen Tellers neben ihrem Ellbogen. Ihre Gabel taucht hinein, gräbt die erste Erdbeere aus wie ein Bagger und fliegt zu ihrem Mund. Das zweite Stück überlässt sie mir, ein Klecks Creme bleibt an meiner Unterlippe hängen und sie tupft ihn mit dem Daumen ab, betrachtet die Fingerkuppe und leckt sie ab. Eine Zitronenscheibe sprudelt im Sodawasser, Blasen steigen an die Oberfläche und rosa Lippenstiftfasern hängen am Glasrand. Goldringe blitzen auf, sie dreht meine Handfläche nach oben und liest meine Zukunft heraus; sie bescheinigt mir zahlreiche Liebschaften und ich sage nichts. Manchmal berührt ihr Fuß mein Bein.

der letzte
o gott
der war eine katastrophe
na in einer beziehung sind wir doch nicht
warum ist das nicht wurscht wenn ich lieber pornos schau als dass ich mit dir schlaf
und wehe du verlangst dass ich mal nicht zu spät komm
emotionally unavailable
ich schwörs dir

Ihre Hand dreht die Schneewittchenhaare um die Finger wie eine Spindel, Kerzenlicht verfängt sich darin, der Kleeblatt-Anhänger an ihrer Halskette oxidiert und ich lächle. Sie weiß von nichts. Denkt immer noch, wir hätten uns zufällig kennengelernt. Als hätte ich einfach so ihre Geldtasche gefunden und zurückgegeben. Ihren Retter aus der Finanzkrise hat sie mich genannt, mir ein fast volles Säckchen Trüffelpralinen überreicht, das sie aus einer Büroschublade geklaut hat, und die Geschichte unter dem Hashtag #weihnachtswunder auf Instagram gepostet. Alle ihre Freundinnen haben kommentiert, wie viel Glück sie gehabt habe, sie redet von Schicksal und Karma, unsere Teller sind leer, die Rechnung flattert auf die Tischplatte und sie greift nach ihrer Tasche, Finderlohn, sagt sie, und ich lege meine Hand auf ihre; ich mach schon. Ihre Ringe und neongelben Nägel verschwinden unter meiner Hand, ich drücke kurz und sie lächelt. Ihre Stiefel klackern auf dem Marmorboden, ihre Hüfte streift mich und wir treten hinaus in den wirr verschneiten Winterabend.

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Christina König

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10 | Emma Joerges

jena : winter1

meine hände diesen winter sind
so rau wie deine katzen zunge

an kahlen bäumchen wachsen grippe viren
und der super gau

ich rede und rede und rede und
bis ich mir sprech blasen gelaufen habe
und mein broca gehirn areal wund ist

in den apokryphen
stehst du mir mit deinen glüh wein augen gegenüber
(mir wird klar : ibus helfen nicht gegen die
also bleibt mir nichts anderes übrig als
mich mit hoch pro sauer stoff zu betrinken
und zu hoffen dass ich verrückt werde

meinen kopf hänge ich in den weihnachts baum
(christmas vibes af)

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Emma Joerges

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9 | Enno Ahrens

Uhr-ige Weihnachten

Mutters hölzerne Tischuhr, die ihren Platz auf dem Wohnzimmerschrank gehabt hatte, war kurz vor Weihnachten stehengeblieben und zwar just in dem Augenblick, als ein Löffelverbieger, eine Art Uri-Geller-Verschnitt, im Fernsehen experimentierte.

Nun war unsere Verwandtschaft heftig am Diskutieren, ob es sich um einen Zufall gehandelt hatte oder ob es tatsächlich diesem mysteriösen Medium zuzuschreiben sei. Das Uhrwerk zu reparieren lohnte sich jedenfalls nicht mehr.

Heiligabend waren Opa, Tante Adele und ich dann bei Vater und Mutter eingeladen. Ich brauchte noch ein Weihnachtsgeschenk für Mutter. Es lag auf der Hand, mich für eine Uhr zu entscheiden. Aber was würden Opa und Tante Adele tun? Ich besann mich darauf, als Einziger der Runde Schachspieler zu sein, und die denken ja bekanntlich weiter. Die anderen würden vielleicht überlegen, eine Uhr zu wählen, dann aber sicher darauf verzichten, um der Peinlichkeit aus dem Wege zu gehen, ein zweiter oder gar dritter könnte gleiches tun. Also würde ich gerade deswegen eine Uhr schenken. Ein Schachspieler denkt eben weiter.

Exklusiv im Privatfernsehen wurde eine Porzellantischuhr angeboten, mit puttenähnlichen Figuren und feinem Goldrand verziert. Das gute Stück war originalgetreu einer berühmten Uhr aus dem siebzehnten Jahrhundert nachgebildet und in einer limitierten Auflage erhältlich. Ich war begeistert. Das musste genau das Richtige für Mutter sein. Ältere Leute mögen so etwas.

Heiligabend, wir sangen ein paar Weihnachtslieder, dann öffneten wir die Geschenkpakete. Vor Mutter standen drei Pakete gleicher Abmessungen, eins von Opa, eins von Tante Adele und eins von mir. Mutter packte eine Uhr nach der anderen aus, jede mit denselben wundervollen puttenähnlichen Verzierungen.

Zuerst schauten wir uns untereinander ziemlich betreten an. Aber als Vater anfing schallend zu lachen, trugen wir es mit Humor. Und ich gelangte zu der Erkenntnis, dass auch Nicht-Schachspieler weiterdenken können.

Wir trösteten Mutter, falls ein Uhrwerk nicht mehr exakt funktionieren sollte, hätte sie ja Ersatz. Die Uhr von mir wurde eingelagert, die von Adele bekam ihren Platz auf dem Flur und die von Opa auf dem Wohnzimmerschrank, wo die alte Tischuhr gestanden hatte.

Nach einem halben Jahr gestand Mutter mir, dass sie Porzellanuhren mit Putten kitschig fände, außerdem passten sie nicht zu ihren Möbeln. Sie verbannte sie an unscheinbare Orte in Bügelzimmer und Speisekammer. Nur wenn Opa oder Tante Adele ihren Besuch ankündigten, wanderten die Uhren geschwind auf ihre auserwählten Plätze. Ich fragte Mutter, ob ich die ungeliebten Uhren nicht auf dem Flohmarkt veräußern solle. Das lehnte sie entschieden ab, denn man dürfe keine Geschenke verhökern. Außerdem wären Opa und Tante Adele untröstlich gewesen.

Ungefähr drei Jahre gingen ins Land und die Uhrwerke der Porzellanuhren funktionierten nach wie vor mit beängstigender Präzision. Mutter befürchtete, sie würden ewig halten. Auf mein Drängen hin brachte Mutter die unverwüstlichen Zeitmesser endlich zum Trödler in die Geibelstraße. Der Verwandtschaft schwindelten wir vor, Mutter hätte die Uhren mit einem Spezialpflegemittel gereinigt und auf den Terrassentisch zum Trocknen gestellt. Dummerweise hätte ich an eines der Tischbeine meinen bulligen Rottweiler Bonzo angebunden, der bei der spontanen Verfolgung des Briefträgers den kleinen Tisch mitgerissen habe. So seien die Uhren jäh auf den Fliesen zerschellt.

Opa und Tante Adele meinten, so ein Missgeschick könne auch nur mir passieren mit meiner mangelnden Umsicht. Aber ich ertrug geduldig ihren Spott, hatte ich doch Mutter eine große Bürde genommen.

Heiligabend stand abermals vor der Tür. Diesmal kamen nur Opa und ich auf Besuch bei Vater und Mutter. Tante Adele musste mit ihrer Familie feiern. Ich wollte den leeren Platz auf dem Wohnzimmerschrank ausfüllen. Mutter zeigte mir eine Holzuhr in einem Katalog, die ihr gefiel und in deren Stil ich ihr eine schenken sollte. Opa war an jenem Heiligabend bereits morgens eingetroffen und begleitete mich in die Stadt, um ebenfalls noch ein Geschenk zu besorgen. Wir trennten uns bald im gegenseitigen Einvernehmen. Keiner sollte sehen, was der andere für Geschenke erwarb. Wir legten Wert auf Überraschungen.

Vater ließ abends den Tannenbaum im Lichterglanz erstrahlen. Wir sangen dazu, wie jedes Mal. Dann öffneten wir die Präsente. Mein Geschenk, eine schöne hölzerne Tischuhr, packte meine Mutter als erstes aus. Sie bekam sofort den zentralen Platz auf dem Wohnzimmerschrank. Opas drei Geschenke mit mir vage vertrauten Abmessungen, packte Mutter als nächstes aus. Im Nu standen drei gleiche Uhren aus Porzellan mit Putten vor ihr auf dem Gabentisch, die einmal in limitierter Auflage im Privatfernsehen offeriert worden waren. Opa triumphierte stolz. Er hätte möglicherweise die drei letzten Exemplare, die es auf dem ganzen Globus noch käuflich zu erwerben gegeben hätte, erstanden, und der Trödler in der Geibelstraße hätte ihm nicht gerade einen billigen Preis gemacht. Aber für Mutter sei ihm kein Opfer zu groß, und ich solle mich tunlichst von diesen Wertanlagen fernhalten.

Mutter machte indes ein Gesicht, als ob sie sich nicht schlüssig war, ob sie vor Verzweiflung lachen oder weinen sollte. Seitdem stand immer eine jener Porzellanuhren in der Glasvitrine im Esszimmer und ich hatte zuweilen das Gefühl, als grinsten die Putten mich hämisch an.

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Enno Ahrens

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8 | Alina Lindermuth

Vom Kleinsein

„Der Berg fordert gar nichts von uns. Nicht unsere Hingabe und auch nicht unseren Tod.“ [1]

Schneebedeckte Gipfel im Morgenrot, Blumenwiesen vor Kuhglocken-Orchestern, zerstäubende Wasserfälle im Zeitraffer.

Ich klappe den Laptop zu, schalte das Licht aus. Im Dunkeln sehe ich noch immer scharfkantig die Umrisse von Gebirgsketten an der Leinwand meiner geschlossenen Augenlider. Rieche taunasse Bergwiesen und spüre das Kratzen von heißem, trockenem Heu auf meiner Haut.

Am nächsten Morgen die übliche Intensität. Der Wecker zu schrill und zu laut, aber eigentlich nur zu früh. Eine Bluse aus dem Schrank ziehen und in die Business-Hose von gestern schlüpfen. Strümpfe nicht vergessen. Der Kaffee verbrennt meine Lippen und seine Bitterkeit trägt wenig zu Stimmung bei. Ich hätte früher schlafen gehen, die Dokumentation nicht bis zum Ende ansehen sollen.

Dazu schmiere ich mir ein Honigbrot wie jeden Morgen. Aber heute ist die Butter aus. Und ihre Abwesenheit nimmt dem Frühstück seine ganze Seele. Egal, die Zeit läuft, das erste Meeting ist für acht Uhr angesetzt und ich bin noch immer dabei, die Honigreste mit trockener Zunge von meinen Fingerspitzen zu lecken. Im Bad ziehe ich mir die Augen nach und am Weg zur die Tür hinaus den Blazer über die Schultern. Es ist Zeit!

Die Stimmen des Ö1-Morgenjournal vermischen sich mit dem U-Bahngemurmel. Ein weiteres innenpolitisches Fiasko zum Fremdschämen jagt ebenso pausenlose weltpolitische Unruhen zum Kopfschütteln. Aber: Grünes Licht zur Einführung einer globalen Mindeststeuer für Großkonzerne. Und vor allem: Es wurde eine neue Paradies-Vogelart entdeckt.

Im Büro herrscht die typische, erwartungsvolle Spannung. Fast so, als würde heute, morgen oder spätestens nächsten Mittwoch wieder etwas ganz GROßES passieren. Oder erreicht werden. Oder eher: Erreicht werden müssen.

Am hochgestellten Schreibtisch beim Fenster, wahlweise mit Blick auf Stephansdom oder Kahlenberg, verbinde ich meinen Laptop mit den Bildschirmen und stelle mich breitbeinig und gut geerdet hin. Mein Postfach ist schon hochaktiv und lässt die neuen E-Mails herein. Erst eins, zwei, drei… dann immer mehr. Wie kleine unbeabsichtigt losgetretene Steinchen, die sich zusammenschließen und als große Masse ins Tal rauschen. Aber ich stehe geerdet wie ein Murenbrecher vor dem Tisch und konsolidiere das Tal der Gesamtsituation mit schneller Reaktion. Das ist übrigens Teil der Job Description. Nur ohne Muren-Metapher.

Der erste Schwall von E-Mails ist nun zumindest kategorisiert, es ist acht Uhr und Zeit für das Meeting. Zwei Kollegen sitzen schon im Glasraum. Wir holen Kaffee und starten ein gemeinsames Brainstorming für den neuen Kunden, der eine Strategie für die Zeit nach Corona braucht. Eventuell auch ohne Corona gebraucht hätte.

Wir diskutieren, recherchieren und skizzieren Ideen am Whiteboard. Es prickelt unter der Kopfhaut und in den Fingerspitzen. Gleichzeitig steigt die Notwendigkeit, Ergebnisse zu liefern: Bis zum Abend muss ein Konzept stehen. Und beim ersten Blick auf die Uhr ist es schon weit nach Mittag.

Später stehe ich wieder am Schreibtisch und spüre, dass die Spannung steigt wie der Luftdruck in einem am Herd vergessenen Kelomat. Sie korreliert exakt mit dem Vergehen der Zeit. Aber: Wir schaffen das schon. Wir können das schließlich. Wir sind ja auch hier, weil wir das können. Und darum: Müssen wir das schaffen. Eine Alternative ist nicht angedacht.

Nach zwei anderen Meetings, einem weiteren Kaffee und Stunden sitzend und stehend am Schreibtisch ist das Konzeptpapier fertig. Es ist nicht schlecht, aber auch noch nicht so gut, dass ich es der Chefin schicken könnte. Die meisten anderen sind entweder schon zu Hause oder still an ihren Arbeitsplätzen. Draußen stockfinster, beim Blick hinaus gibt es um diese Uhrzeit keine Auswahl mehr.

Irgendwann übersteigt die Müdigkeit den Drang nach Perfektion und ich sende den ersten Entwurf ab. Dann bin ich schon draußen in der Nacht und warte auf die U-Bahn, drei Minuten bis der nächste Zug kommt. Ich schließe die Augen und öffne sie gleich wieder, denn an den Augenliderleinwänden sehe ich ein wildes Gewitter aus Zahlen, Wörtern, Diagrammen. Und ich fühle mich dabei wie im Hochgebirge. Mit Business-Outfit. Ohne Biwak. Gefährlich weit oben.

Zu Hause durchlaufe ich die gleichen Schritte wie am Morgen, nur in umgekehrter Reihenfolge. Blazer ablegen. Kleidung abstreifen. Ins Bad. Beim Essen piept mein Handy mit einer Erinnerung: „Morgen, Samstag, Abfahrt um 7:32“

Das Bergfest! Morgen? Nein, erst nächsten Samstag! Morgen? Ich durchforste meine Mails, die Nachrichtenverläufe in der WhatsApp-Gruppe, meinen Kalender. Und tatsächlich. Ich habe mich in der Woche geirrt. Dabei brauche ich den Vormittag für das Konzept. Schnell packe ich einen Rucksack und überlege dabei, wie viel Zeit mir im Zug noch bleiben wird. Im Bett schlafe ich augenblicklich ein, endlich ist die Leinwand finster.

Still gleitet Österreich an mir vorüber. Zuerst noch Stadt. Dann Vorstadt. Dann endlich Land. So ruhig ist es im Zug um diese Uhrzeit. Hügel. Fluss. Dorf. Kleinstadt. Hügel. Ausläufer von etwas Großem.

Eine gute Atmosphäre, um zu Arbeiten. Wie erwartet hat mir die Chefin ihre Kommentare geschickt. Wann sie das gemacht hat, bleibt fraglich. Ich arbeite konzentriert, es bereichert, wenn man beim Überlegen weit in die vorüberziehende Ferne schauen kann.

Kurz vor der Ankunft blinkt das Akkusymbol am Laptop auf. Beim Griff in den Rucksack finde ich kein Kabel. Zehn Minuten später ist der Bildschirm schwarz aber das Konzept unfertig zurückgeschickt. Und draußen der Himmel tiefblau.

Ich fahre weiter mit dem Bus. Dann werde ich abgeholt. Von alten Freunden. Wie jedes Jahr. Noch vor dem Umarmen ist alles wieder so wie in der Volksschulzeit. Die meisten von ihnen sind hier geblieben. Wir sehen uns wenig. Aber eben mindestens einmal im Jahr.

Die letzten paar Hundert Meter steigen wir zu Fuß auf. In den Händen Taschen voll Essen und Kisten voll Bier. Und dann sind wir oben, die Hütte ist schon eingeheizt, ein paar sind vorausgegangen und haben alles aufgebaut.

Ich schmeiße meinen Rucksack ins Bettenlager und schaue auf mein Firmenhandy. Keine neuen Nachrichten. Die anderen verdrehen die Augen, ich schalte das Handy schnell aus und schiebe es zum Laptop ganz unten in den Rucksack.

Und dann sprudelt der Nachmittag über mich hinweg, erfrischend wie eine klare Bergquelle. Nasses Gras unter den Fußsohlen, ein Glas Bier in der Hand, vertraute Stimmen im Ohr. Und all die alten Geschichten im Kopf, die wir uns jedes Jahr wieder erzählen, ausgeschmückt oder verkürzt, je nachdem, von wem sie gerade erzählt werden. Einer spielt Gitarre und die meisten singen mit, obwohl niemand wirklich singen kann. Die Hitze der Sonne brennt auf der Haut. Ich helfe beim Grillen und wende das Fleisch vom Bauern aus unserem Dorf.

Beim Schälen der Erdäpfel sitzen wir in kleinerer Runde und sprechen über das, was uns zur Zeit bewegt. Und als ich erzähle, habe ich das Gefühl, es bleiben mit jedem Satz mehr Fragezeichen zwischen den Erdäpfel-Schalen liegen. Die „Wies“ zu beantworten ist noch am leichtesten, die „Warums“ schon wesentlich schwerer. Und bei den „Wozus“ gehen mir schließlich die Antworten aus.

Aber dann plätschert der Tag weiter und der Erdäpfelsalat muss nur noch durchziehen. Wir sitzen zusammen und klauben mit den Zehenspitzen Alpenblumen von der abschüssigen Wiese. Ich lasse mich treiben, durch diesen Nachmittag, durchwegs vor der Kulisse meiner Berge.

Frühmorgens erwache ich im Bettenlager, um mich herum schlafende alte Freunde, schwaches Dämmerlicht fällt durch das winzige Fenster unter dem Giebel. Obwohl ich so müde bin, als hätte ich Wochen nicht geschlafen, steige ich aus den warmen Decken und schleiche auf leise knarrenden Brettern zur Tür. Alles noch ruhig, keiner ist aufgewacht.

Ich nehme eine fremde Jacke, finde meine Schuhe und trete vor die Hütte hinaus. Noch keine Sonnenstrahlen über der Welt. Rund um die Hütte ein paar Flaschen, ein paar Teller, das meiste schon ordentlich zusammengeräumt. Dazwischen einige von der Bergnacht nasse Seiten Papier, auf denen ausgedruckte Liedertexte verrinnen.

Ich gehe um die Hütte und steige langsam den schmalen Pfad dahinter hinauf. Müde. Schritt für Schritt. Und schwer. Aber dann komme ich auf den kleinen Platz unter den steil aufragenden Felswänden, mit einem phänomenalen Blick über das Tal.

Ich setze mich auf einen Stein und warte mit meinen Augen am Horizont auf die Sonne. Ich lege den Kopf in den Nacken und blicke die senkrechte Wand hinauf. Spüre den kleinen kalten Stein unter mir, der wohl vor langer Zeit Teil dieser Wand gewesen ist.

Rundherum so viel Weite. Keine neue Weite. Ich kenne sie seit Kindertagen. Und trotzdem: Sie fühlt sich jedes Mal wieder an wie eine neue Perspektive.

Und plötzlich bin ich bin so unglaublich klein. So klein.
In Anbetracht dessen, was um mich ist.

Und dann, mein Blick noch immer am Horizont, fällt der erste Sonnenstrahl auf diesen Tag, fällt über das Tal, über die Gipfel und über die Felsen. Fällt auf mein Gesicht, meine Pupillen, fällt durch mich hindurch bis auf die Netzhaut. Ich schließe die Augen und sehe das, was wirklich ist, durch meine Augenliederleinwände hindurch. Nämlich das, was wirklich GROß ist.


[1] aus der Dokumentation „Mountain“ von Jennifer Peedom, 2017.

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Alina Lindermuth

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