7 | Tom Tautorus

Wenn life…


Die Erinnerung kam an einem Tag, an dem ich ein neues Tagebuch begann. Als Erinnerung an die Unmöglichkeit einer clean slate, einer blank page, einer Tabula Rasa, breitete sie sich aus. Mit ihr kam die Angst und das manische Bestreben, das Weiß zu füllen, das zuzuschütten, zu übermalen und zuzukleben, was das Weiß nicht gut verbergen konnte. Manches blutet durch.


Erster Tag. Gelb-Grüner Tag.

[Verhangenes]

Così affettuoso, delicato, caro, egli era / So zärtlich, sanft und liebenswert, hatte er
riuscito ad avvolgersi davanti ai miei / es geschafft, sich vor meinen Augen in einen
occhi di un velo di innocenza così / so dichten Schleier der Unschuld zu hüllen, dass
fitta che mai avrei osato turbarlo. / ich es nie gewagt hätte, diesen zu zerstören. [1]

[Vergangenes]

Ich erinnere mich nicht daran, wie ich gebetet hatte, es möge weggehen, als du nicht genug Unschuld in mir sahst, um mich in Frieden zu lassen. Als ich nicht genug Unschuld hatte. Als dir offenbar wurde, dass meine Unschuld nur aufgemalt war, als das Wasser, voll Chlor und Kinderpisse sie abwusch. Vielleicht war ein Teil der Pisse meine eigene.

[Vergehen]

Der durch Memes überlieferte nicht unwahre Internetmythos über den Grönlandhai
(oder Pee Shark) besagt, dass sein Körper voller Urin ist. Damit ist der Hai giftig
und wird mehrere hundert Jahre alt. Dennoch haben die Isländer*innen, ergo Wikinger,
ergo starke Männer, eine Methode entwickelt ihn zuzubereiten und zu verspeisen.

[Vergeben]

Du schaust über die Kiesgrube hinweg, in der wir baden, und hast mehr Gedanken als wir alle zusammen. Du schaust den Rücken von einem der anderen Bauernjungen an. Einem der älteren, der schon eine Freundin hat, der seinem Vater auf dem Feld hilft und denkst, so ein starker Rücken. Es muss toll sein, seinen Kopf darauf abzulegen und ich frage mich, warum ich nicht so einen starken Rücken habe und merke nicht, dass du auch nicht so einen starken Rücken hast. Du schleppst deine Alibibücher mit, die dir helfen, an nackte Bauernjungen Flügel und Heiligenscheine zu malen und wenn du sie für Freunde hältst auch Teufelshörner, während sie nur einen Teufel kennen und das ist Hitler.

Ich laufe durch den Rosengarten und weine. Hier sind viele Menschen, die weinen, hinter jeder Rose einer und die Dornen der Rosen schmerzen mehr als deine Poesie und Sünde ist nicht nur ein Wort so wie „Freundschaft“ es für dich ist. Also reißen wir uns die Finger an den Rosenkränzen auf, zu denen du uns verdammst, und schlafen auch nach der Hochzeitnacht noch manchmal mit einer Frau.

Ich versuche zu erzählen, was ich heute gemacht habe und merke, dass ich als ich in dieser Erzählung eigentlich keine Stimme und keine Erlebnisse habe, wenn ich nicht du sage, als sei schwule Literatur der 40er Jahre auch nicht die Lösung, also gehe ich weiter und suche mir das nächste Arschloch.

getippt in die Handynotizen

 


 

Zweiter Tag. Kirschroter (cherry lips) Tag.

1. Ich esse einen Eisbergsalat. Blatt für Blatt. Über der Spüle. Auf dem Kopf, um der Unordnung Herr zu werden, ein Piratenkopftuch. Ich google deinen Namen. Ein Schritt, den ich immer für falsch und peinlich hielt, bis meine Therapeutin mir dazu geraten hat. Ich finde Artikel irgendeiner Regionalzeitung. Du leitest jetzt einen Jugendtreff, organisierst Sachen. Ob die Kinder wissen, dass ich nicht älter war als sie, als du dich hast verführen lassen? Ich scrolle nach unten. Kontakt.

2. Ich trage kirschroten Lippenstift, eine schwarze Kapuze. Will ich dich zu Fall bringen? Lokalprominenz in einer Stadt werden, in der ich noch nie war? Kamerablitze, die aus allen Ecken leuchten. Gerichtsprozesse, in denen du dir eine Akte vors Gesicht hältst. Genugtuung mittelbraun vertäfelt, wenn ich mich nur entschließen würde. Doch jetzt stehe ich noch in der schwach beleuchteten Küche. Ich reiße ein Blatt des Eisbergsalates nach dem anderen heraus. Ich ficke dich. Ich ficke dich nicht. Ich ficke dich. Ich ficke dich nicht. Natürlich nur metaphorisch.

3. Meine Augen sind verbunden. Ich muss abwägen. Szenario A. Ich sage nichts, ziehe mich aus der Verantwortung. Szenario B. Ich stelle dich und mache den Zeitungsleser*innen Angst vor schwulen Kinderfickern.

4. Ich bin dir böse. Wärest du schöner, berühmter, mächtiger; würde sich das ganze Drama nicht nur auf der Onlineseite einer unbedeutenden Lokalzeitung abspielen. Es gäbe Abgründe, Fallhöhe. Es gäbe öffentliches Interesse. Es gäbe irgendetwas. So gibt es nur jemanden, der im Dunkeln Salat über einer Spüle ist. Duschen sollte er auch einmal.

5. Meine Eifersucht auf Lolita-.

5.-10. Liebes Tagebuch,

heute habe ich diesen Text geschrieben. Danach habe ich mich übergeben.

Das hier ist so schlecht und ich kann es doch nicht lassen, noch mehr daran zu schreiben. Als könne man es irgendwie retten. Ich habe extra Kerzen angezündet.

Light of my life. Fire of my loins. [2]

Wenn man genauer hinhört sind ein großer Teil der Songtexte von Lana del Rey nicht kenntlich gemachte Zitate aus Lolita. Was macht diese Geschichte zum Mythos unserer Jugend?

Ich kehre zurück in meinen Handybildschirm. Ich erkenne deine Hässlichkeit und ich sah, dass es
gut war.

getippt in die Handynotizen

 


Ich mag es, wenn in Pornos nach dem Sex beide Darsteller über ihre Erfahrung, ihre liebsten und unangenehmsten Momente des Drehs sprechen. Gerne würde ich mir Compilations nur von diesen postkoitalen Gesprächen ansehen.

getippt in die Handynotizen

 


Vierter Tag. Hellblauer Tag.

Meine schmalen weißen Handgelenke.
Meine schmalen weißen Handgelenke lassen dich glauben.
Meine schmalen weißen Handgelenke lassen dich glauben, dass…

Die Popmusik [3] hat unrecht, wenn sie sagt, der*die unglücklich Liebende wäre eingesperrt, festgehalten, müsse frei gelassen werden. Er*sie*ich lässt*lasse nicht los. Ich schmiede dich ein, will dich starr machen, damit ich weich sein darf, dich einhüllen kann ohne Kontamination, doch du zerspringst in tausend klebrige Stücke.

Something in her demanded victimization and terror, so she corrupted my dreams,
led me into dark places, I had no wish to explore. It was no longer clear to me which of
us was the victim. Perhaps we were victims of one another [4]

Bullshit!

In historischen Weltuntergangsszenarien friert die Welt zumeist ein. Zu viele Rußpartikel in der Atmosphäre lassen nicht genug Sonnenstrahlen durch und die Welt erkaltet. Meine schmalen weißen Handgelenke, mein silbernes Haar.

The cold has never bothered me anyway. [5] Ich weiß nicht, mit der Erderwärmung umzugehen. Sie ist unästhetisch. Alles zerläuft. Meine Poren weiten sich und meine Ausdünstungen und Körperflüssigkeiten verschwimmen mit denen anderer Menschen, sodass wir beginnen sollten, Abstände und das Bedecken von Körperöffnungen neu zu regeln. Es gibt keine Machtfrage mehr. Kein Opfer. Keinen Täter. Kein Who’s screwing who?6 Denn wir verlieren unsere körperlichen Grenzen. Das Patriarchat fickt uns alle und eine Natur, die weiblich ist. Brauche ich Narration, um diesen Punkt zu machen? Figuren, Orte, Handlung? Vielleicht kann ich euch ein wenig Schweiß senden.

geschrieben ins Tagebuch

 


[1] Pier Paolo Pasolini in Amado Mio preceduto da Atti Impuri.
[2] Lana del Rey: Off to the Races
[3] Vgl. Kim Wilde: You keep me hanging on und Miley Cyrus: Prisoner (feat. Dua Lipa)
[4] „Bullshit!“ würde ich schreien, wenn du so etwas sagen würdest. Jetzt schreibe ich es ab. Anna Kavan in
Ice.
[5] Elsa in Frozen: Let it go
[6] Janelle Monáe: Screwed (feat. Zoë Kravitz)


 

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Tom Tautorus

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6 | Steve Strix

kinderweihnacht

 

in der mitte der strasse
im schein der strassenlaterne
sehe ich mich aus einem der
schmalen fenster sehen
ich stehe in der mitte der strasse
jemand hat mich mit bunter kreide
auf schwarzen asphalt gemalt
ich gehe
nicht mehr
nach oben
nach unten
nach vorne
oder zurück
über entfernte abgründe
die strasse ist leer
ich wohne hier nicht mehr
ein paar dinge bleiben
verlaufen in mir

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Steve Strix

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5 | Sofie Morin

Erster Advent

Der Advent ist unser Refugium. Die kerzenwarmen Grüße hat selbst das Löschpapier nicht verhärmt. Die Karten baumelnd an der Leine über dem Kamin, rotbebändert wie verknotete Zuversicht. Gesammelte Trophäen der Mitmenschlichkeit, saugen sie sich voll mit mistelumkränzten Blicken. Wie tief die Hoffnungen auch hängen mögen, wachsende Vorratshaltung der Wünsche. Sie gehen uns nie aus.

In der Küche wohnt das Leben selbst. Mutters Teig beatmet unsere Sehnsucht. Ihre Zuneigung flüssiges Metall. Insgeheim schlinge ich die Kekse noch warm hinunter. So gehen sie in mir auf wie kein Same je, und mein Körper wird zur Stadt. Ähnlich der, die unweit im Tal flackert. Uns lockt sie nicht. Wir bleiben im Territorium unserer Weiblichkeit.

Großmutter klopft ans Fenster und hat heute den Schnee dabei, den der Wolf sich aus dem Fell geschüttelt hat. Lässt ihn unterm Gejohle der Schwestern zu unseren Füßen auf den Küchenboden rieseln. Ein tiefes Gurren aus nahenden Raunächten kommt mit ihm ins Haus.

Ihr leichtes Gepäck hat sie dabei nicht verraten, sie trug die alte Mär gewandt in der Kraxn. Auf dem Steingut schmelzen die Schneekristalle passend zum Aggregatszustand meiner Sinne. Kein Geruch enthüllt die wilde Natur. Ich sehe mich um und bemerke keine Veränderung. Mutter wischt den See mit ihrer Nachsicht auf. Dieses Augenzwinkern haben wir an ihr noch nie gesehen. Gewiss hat sie im Fell der Nacht die Habergeiß gewittert.

Im oberen Stock die Tante in emsiger Bettstatt zugange. Wir hören sie gut und singen altbekannte Lieder darüber hinweg. Kein Mann habe ihre Lust entstellt. Und uns hat die Mutter vor den Perchten gewarnt!

Um den Küchentisch scharen wir Stoßgebete wie Kinderreime, während das Verlangen unaufhaltsam in uns tropft. Übers Stiegengeländer flocken Sporen der Leidenschaft zu uns herunter, vermischen sich schlierig mit dem Duft aus Großmutters Kaffeemühle. So unschuldig wie möglich sehen wir uns um, ob alles beim Alten geblieben wäre.

Zwiebelmuster aufs Porzellan gemalt und das Begehren an die Wand. Wir lösen einander das Haar. Der Zirbenkranz in der Tischmitte flicht unser Wissen zu einem einzigen Zopf. Lodernd
brennt darauf die erste Kerze.

 

Zweiter Advent

Tagesanbruch. Wir benennen nicht, was aus den Wäldern steigt. Wie Nebel, die Reste des vorangegangenen Tages und die Hütten halten darunter die Luft an. Aus unserem Schornstein aber steigt Rauch, dessen Schatten uns der Mond auf die Schneedecke legt. Zögerlich hebt sich die Nacht vom ermatteten Firn. Tief die Spuren johlender Schritte darin. Ihr Kettengerassel klingt uns noch in den Ohren, das schwere Klopfen an die Holztür, vom Verlangen, das Einlass begehrt. Glücklich haben die sorgsam geflochtenen Zöpfe uns davor nicht bewahrt.

Wir Schwestern wollen alles sehen. Sowie wir unsere Nasen an die Scheiben pressen, schmelzen die Eiskristalle. Draußen lichten sich unsere Sehnsüchte über dem Tal.

Dunstschwaden ziehen am alten Flusslauf entlang. Erinnerungsfetzen der Geschöpfe, die mit uns leben. Jäh ruft der Eichelhäher, wenn unsere Blicke die Baumgrenze überschreiten. Der Föhnwind hat die Perchten über die Bergrücken getrieben, heute kommt der Nikolo. Ich will über die Alm sehen, bis dahin, wo ich jüngst Haselruten geschnitten, ihr Mark mit meinem Monatsblut gefüllt. Zwischen Wurzelwerk ersteht die Stiefmutter aus Alraunen auf. Ihr Rauchwerk ist handverlesen. Sie betont jedes Wort wie ihr letztes: Alles, was uns wahrhaft gehört, ist geborgt von einem höheren Stern.

Das Mühlrad am Haus dreht sich und dreht uns. Ein leiser Windhauch durch Fensterritzen lässt uns wissen, worin wir geborgen sind. Du irrst dich, klagt die Schwester, nicht Mutterns
Nachsicht war es, ich habe den Schnee vom Küchenboden aufgeleckt!

Horch, Stiegenholzknarren. Herab steigt die Tante in neuem Gewand. Kein Ring an ihrem Finger weist sie aus. Staunend befühlen wir das niegekannte Stickwerk auf ihrer Walkjacke. Fäden aus vielen Jahren gesponnen. Voll Zuversicht bürstet sie sich die Vergangenheit aus dem Haar. Alles Brauchtum ist sinnlich, sagt sie. Wie auf ein Stichwort unter der Hörschwelle holt die Mutter das Kletzenbrot aus dem Ofen. Ob wir rauskönnen, fragen wir, nun, da die Nächte nicht mehr rau sind. Mutter und Tante sehen sich an und brechen in unbändiges Gelächter aus, das die Stube durchsprüht. Wie Wunderkerzen, flüstert die Jüngste und klatscht in die Hände. Ich verstehe den Mond nicht mehr, sagt die andere und schnäuzt sich in ihre Schürze. Wir Schwestern haben uns allzu lange nicht an den Händen gehalten, denke ich und tue es beidseits. Die Hoffnung reicht bis zum Esstisch. Und als läge uns nichts näher, zünden wir darauf die zweite Kerze an.

 

Dritter Advent

Das Feuer im Ofen ist fast heruntergebrannt. In den welligen Scheiben der Holzveranda brandet das Morgenrot. Tunkt das Haus in einen neuen Tag, noch bevor es verlischt. Ich lege drei Scheite nach, für jede Generation eines. Du hast die Urli vergessen, schimpft meine Schwester, und ich blase beschämt in die Glut. Zahllose Ahninnen, so viele Scheite hast du nicht, sagt die Großmutter und ihre Stimme war nie heller. Unter ihren kundigen Handgriffen wacht die Küche auf. Die Teekanne wiegt beinahe nichts. Nicht in ihren Händen, die einst Tag um Tag Gewänder über die Wäschehobel geschrubbt, weitab des Flussbetts.

Die Sonnenwende naht und der Schnee ist vor der Zeit getaut. Mir gefällt nicht alles, was darunter zum Vorschein kommt, doch ich weine ihm nicht nach. Großmutter kleidet sich in die Farben des Waldes. Eines Tages wird sie nicht zurückkommen. Wimpernumrandet ihr letzter Gruß und ihre Sanftmut bleibt. Käferbrut wird sich von uns nähren, lacht sie unlängst.

Meine Schwester meint, ihre Bluse müsse wohl sauber geworden sein. Atemwolken begleiten sie in die Waschküche. Ihre Herzhaut weicht nicht zurück. Sie trägt meine Bewunderung wie eine Zierde zum Festtag. Ich atme tief durch und gehe hinaus, Feuerholz holen, bevor der Stoß kippt. Kein Knirschen mehr unter den Schuhen. Die Erde ist scheinbar wieder näher gerückt. Stein und Stein schichte ich auf den bemoosten Baumstumpf. Opfergaben an die Treulosigkeit meiner Trauer. Darunter liegt das Tier begraben. Unser Streit darum ist beigelegt. Die Nachsicht hat der Mutter eine Kette um den Nacken gelegt, die alles andere ist als ein Hundehalsband. Der Großmutter hätte das Funkeln gefallen. Gib es nur immer weiter, sagt die Mutter und streicht der Ältesten übers Haar. Die Entbehrungen des Jahres sind über den Blutmond vergessen. Noch ein Viertel, sagt die Mutter. Und wir sehen zu, wie der Germteig beim Ofen aufgeht, wo die Katze am liebsten liegt. Wir haben genug, sagt sie und schlägt den Striezel ins Tuch. Im Tal raufen die Buben um den Sterz, weiß sie und wir mit ihr: Entfesselte Kräfte rauben unseren Mut nicht! Morgen zieht sie ihre Schuhbänder fest.

Der Bach, sonst ein Rinnsal, ist von der Schneeschmelze angeschwollen. Die Holzschaufeln des Mühlrads trinken sich gurgelnd satt und die Jüngste schlürft auf Mutters Schoß Zuversicht aus ihrem Becher. Ich schließe die Holztür mit dem Winterwind hinter mir. Ein Luftzug, der wie meine Großmutter heißt, ist mit mir gekommen und hat einen Docht ausgeblasen. Nicht die erste Kerze, nicht die dritte, frisch angezündete. Die zweite ist es. Die Zeit tut, als wäre nichts geschehen – bald schon, bald! – und lässt uns lichter auflodern.

 

Vierter Advent

Das ist die letzte lange Nacht. Wir alle vollziehen die uns verbliebenen Rituale der Dunkelheit. Atemluft zwischen Handflächen gewärmt, schüren wir eine Glut, die sich tags vor uns verbergen mag, winden Bänder um entflohene Mythen. Auf dem Fensterbrett die Stille in Milchschalen gegossen, die letzte Anrufung, um die wir sicher wissen. Wenn auch die Großmutter gegangen sein wird, so bleiben wir ruchbar im Schwesternuniversum. Und jede unserer Gesten sei angetan, die Wiederkehr der erstarkenden Sonne zu bezeugen.

Morgen gleichen sich Tag und Nacht. Lockend ziehen Schwaden neuen Glücks dicht an der Hauswand vorbei. Nichts hat uns darauf vorbereitet. Vogelpaare streiten in der Dämmerung lautstark um den Nachwuchs, der ausbleibt. Wartet noch, wartet, will ich sie trösten, die lichte Zeit kommt bald zurück! Sie glauben nicht mir, sondern allein der Witterung der Zeit selbst. Ahnen nicht, dass mich nichts sonst derart verwirrt, wie ihr steter Verlauf.

Was wissen wir schon? Meist sehen wir die Welt durch unser Fenster, schicken unseren Blick hinaus, tags mehr als nachts. Aus Scheiben, das Werk alter Hände, spiegelnd aus Quarzsand getaucht. Heften Zwirnfäden an unsere Bestimmung, verlassen uns auf die Saligen. Dass sie von den Gletschern herabsteigen, uns innewohnen, sobald die Welt aus dem Nebel fällt.

Ich wage einen Schritt vor die Tür. Jetzt ist da ein Glitzern von tanzenden Schneeflocken rund um mich. Tränen kristallisieren auf meinen Wangen. Ich gehe bis zur Grenze. Dort treffe ich sie. Sie bietet mir Obst an, das ich zunächst nicht annehmen will. Einen glasierten Apfel, glänzend und ahnungsvoll süß knackend. Sie lacht, beißt selbst hinein. Die Apfelhaut rotglühend in ihrem Mund wie das Schwesternzahnfleisch. Sie bückt sich, die Haare fallen ihr über die Schultern nach vorn, ich glaube es sind meine, formt mit bloßen Händen aus der Erde neues Leben. Reicht es mir. Das und die Bitte, es unterm Gaumendach zu verwahren.

Zurück in der Stube sehe ich meine Schwestern verändert an. Die Mutter birgt ihr Gesicht in Kinderhaut weich. Am Tisch ist mein Platz frei. Die Karten liegen über ihn verstreut, wie kleine Zündflammen, schmelzen die Schatten der Schriftzeichen, über Jahre ins Holz gekerbt. Ihr Abdruck ist weithin nahbar. Wir wissen, was diese Umarmung bedeutet und behängen die Äste. Das Christkind zählt drei Tage von der Sonnenwende hinauf. Verlässliches Uhrwerk meiner Geborgenheit. Die baumelnden Schokokugeln in weißes Fransenpapier geschlagen, sind ihre Zahnräder. Vier Kerzen zitieren uns die Himmelsrichtungen. Morgen gleichen sich Tag und Nacht. Die Feuer werden die Hänge hell erleuchten. Alles hat uns darauf vorbereitet.

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Sofie Morin

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4 | Marlies Blauth

Landschaft

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Marlies Blauth

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3 | Angela Ahlborn

Spurensuche

Jost atmet tief durch. Jetzt nur nichts sagen, es hat keinen Sinn, es würde die Situation nur verschlimmern. Er meidet den Blick seiner Mutter; zu oft hat er sie in dieser resignierten Abwehrhaltung gesehen, tapfer ausharrend, mit Tränen in den Augen. Die Stimme seines Vaters schwillt an, jedes ausgespieene Wort ist ein Treffer. Wo lauert die unbändige Wut, die unberechenbar wie aus dem Nichts immer wieder aufflackert? Hatte sie stets in seinem Vater gebrodelt, nur gedeckelt und gut versteckt? Die Wesensveränderung sei der Krankheit geschuldet, beteuern die Ärzte. Jost will das glauben, bei jedem einzelnen Zornesausbruch seines Vaters gibt er sich größte Mühe.

Ihn quält wie so häufig die Frage, ob man hätte achtsamer sein müssen. Als sein Vater begann zu verschwinden, hatte es kaum jemand bemerkt, im Rückblick erscheinen ihm die Vorboten schmerzhaft deutlich. Vor Jahren schon verstand sein Vater bei einem Weihnachtsfestessen den bei solchen Gelegenheiten ständig erzählten Familienwitz nicht mehr. Mit merkwürdig großen Augen erklärte er Josts Schwester, ihn noch nie gehört zu haben. Er sorgte mit dieser Aussage für ein kurzes erschrecktes Innehalten der fröhlichen Gesellschaft. Josts Mutter lachte die Beklommenheit weg. Einige Wochen später fand Jost beschmutzte Unterwäsche seines Vaters, versteckt an den unmöglichsten Stellen. Seine Mutter schmunzelte auch darüber und riet ihm, sich nicht zu sorgen, der Vater sei nun auch nicht mehr der Jüngste, da passiere so etwas und es sei ihm sicherlich peinlich.

Mit den Jahren ließ das Lachen in Josts Elternhaus nach. Sämtliche Versuche, die Mutter auf den Zustand des Vaters anzusprechen, wurden von ihr boykottiert. Die zunehmende Vergesslichkeit ihres Mannes sowie seine sich plötzlich entwickelnden Eifersuchtsanfälle entschuldigte sie mit seinem Alter. Josts Vorstoß, einen Neurologen zu konsultieren, wurde mit groben Unflätigkeiten kommentiert; nie zuvor hatte er seinen Vater solche Worte sagen hören. Wie ein Tuch legte sich die Sorge vor drohendem Unheil auf die Familie, Frohsinn und Unbekümmertheit wurden herausgefiltert.

Demenz. Der Zustand des Vaters hatte jetzt einen Namen. Kompromisslos und nicht diskutierbar. Erstmalig ausgesprochen und als weitere Diagnose in den Entlassungspapieren schriftlich festgehalten. Sein Vater hatte mehrere Tage wegen einer Niereninsuffizienz im Krankenhaus verbracht. Der Damm war gebrochen, Josts Mutter konnte sich alles von der Seele reden, sie war befreit vom Druck, die Situation zu verharmlosen. Gleichzeitig zwang sie der Befund, sich von der Illusion einer normalen Alterserscheinung zu verabschieden. Jost konnte das Ausmaß ihrer Einsamkeit nur erahnen. Der Vater war von allem unberührt. Niemand traute sich, das Thema anzusprechen, zu groß war die Furcht vor einem erneuten Wutausbruch, den letztlich seine Mutter mehrere Tage auszubaden hätte.

Die Krankheit war launisch; es gab hellere Tage, in denen man sich der Hoffnung hingeben konnte, der Verlauf wäre eventuell zu stoppen oder würde sich gar bessern. Als die Diagnose endlich feststand, kam fast so etwas wie Euphorie bei Jost auf. Er hoffte, nun könne man handeln, Ärzte um Medikamente und Therapien bitten, Ratschläge von Betroffenen einholen, einen Pflegedienst hinzuziehen. Die Erkenntnis über die Unheilbarkeit einer Demenz traf ihn schwer. Auch der Rat, das Wohlbefinden des Betroffenen zu fördern, stellte keine Entlastung dar; sein Vater wehrte sich gegen jede noch so kleine Hilfeleistung, da er keine Krankheitseinsicht empfand.

Jost vermisste seinen Vater schmerzlich. Die ausführlichen Gespräche zwischen ihnen gehörten der Vergangenheit an, jedwede Logik erreichte den Vater nicht mehr. Von dem ehemals klugen und belesenen Feingeist schien nur noch die optische Hülle existent zu sein. Immer wieder suchte Jost seinen Vater in dem so vertrauten, doch meist ausdruckslosen Gesicht. Tatsächlich fand er ihn manchmal ganz weit in der Vergangenheit; dort waren sie beide sicher, es war fast wie früher, die Rollen klar definiert, Vater und Sohn. Viele Ereignisse aus der Kindheit und Jugend waren noch abrufbar und belebten die sonst so leere Miene des alten Mannes. Jost hatte noch nie zuvor den Wunsch verspürt, etwas schriftlich festzuhalten, aber jetzt gab er dem Bedürfnis nach, jedes Detail ihrer Beziehung aufzuschreiben, bevor sein Vater sich gänzlich in sich zurückziehen würde.

Ihm war die Sinnlosigkeit der Frage bewusst, ob die Veränderung des Vaters ausschließlich auf die Demenz zurückzuführen war oder die damit verbundene fehlende Impulskontrolle seinen wahren Charakter zum Vorschein brachte. Jost hatte sich schon immer an der Dominanz und Selbstgerechtigkeit seines Vaters gerieben, jedoch gingen diese Eigenarten vor der Krankheit nie über ein erträgliches Maß hinaus. Etwas in ihm flehte danach, den Vater aus der Verantwortung zu ziehen, wenn dieser wieder einmal seine Mutter mit wüsten Beschimpfungen und haltlosen Eifersuchtstiraden quälte. In diesen immer häufiger vorkommenden Situationen besaß Jost nicht den Abstand, die verbalen Gewaltexzesse seines Vaters  mit dem dementiellen Syndrom zu entschuldigen, sondern sah einen bösartigen Menschen, der eine nicht auszuhaltende Belastung für seine Mutter darstellte. Im Anschluss empfand er Scham und versuchte, sein Verhältnis zum Vater neu zu definieren, was ihm jedoch nicht wirklich gelang. Hatte er früher seine Bindung zu ihm ohne Zögern mit Liebe und Zuneigung assoziiert, war da jetzt ein verwirrendes Vakuum, das er gerne mit mehr als pflichtbewusster Sorge befüllt hätte. Und er fürchtete sich vor der Erinnerung an seinen Vater: Würde er ihn später nur noch als den Menschen sehen, der er in seinen letzten Jahren gewesen war?

Jost schreckt auf, ein klirrendes Geräusch unterbricht die zornigen Beschimpfungen. Sein Vater hat eine Tasse nach seiner Mutter geworfen. Er unterstellt ihr einen zu freundlichen Umgang mit dem Pflegehelfer. Die Mutter weint leise, der Vater erhebt sich, Jost steht bereit, sich schützend vor die Mutter zu stellen, doch sein Vater geht stumm in den Garten. Hilflos nimmt Jost seine Mutter in den Arm, versucht zu trösten. Noch als er die Scherben auffegt, ist er von Wut erfüllt.

„Kannst du nach ihm schauen, Jost?“, bittet seine Mutter. „Ist wohl besser, wenn du das tust.“

Mit dem Gefühl, der Situation nicht mehr gewachsen zu sein, geht Jost auf den Rücken seines Vaters zu. In Erwartung einer wie immer sinnlosen Auseinandersetzung setzt er sich neben ihn auf die Gartenbank. Ohne ihn anzuschauen greift der alte Mann nach seiner Hand.

„Ich weiß nicht, was los ist, Junge, irgendwas stimmt nicht in meinem Kopf“, weint er leise. Fest umschließt Jost die Hand seines Vaters.

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Angela Ahlborn

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2 | Marc Späni

Zielorte

Im Homeoffice habe ich die praktische Philosophie entdeckt.

Wann immer es die Arbeit zulässt – und das ist eigentlich immer –, gehe ich zur S-Bahn-Station und helfe den Leuten, ihren Weg zu finden.

Ich bin aber keiner von denen, die Bibeln verteilen oder mit Kreide den ganzen Asphalt vollschreiben, Gott ist der Weg. Jesus rettet dich. Das Gebet wirkt.

Das Zentrum meines Wirkens ist der Billettautomat, dieser stählerne rot-blaue Altarblock, das Kontrollzentrum der Station, ihr Gehirn.

Zehn, fünfzehn Minuten bevor der Zug fährt, stehe ich da.

Ich helfe auch denjenigen, die mit dem Automaten nicht klarkommen, wie man ein 24-Stunden-Anschlussbillett für drei Zonen löst oder ein halbes nach Olten 1.Klasse. Meine eigentliche Zielgruppe sind aber diejenigen, die nicht wissen, wohin sie eigentlich wollen. Ihnen mache ich Vorschläge. Mittlerweile sehe ich es den Leuten nämlich immer besser an, wo ihre Bestimmung liegt. Schwierig sind diejenigen, die behaupten zu wissen, wo sie hinwollen, und sich nicht von ihrem Irrtum abbringen lassen. Erst einmal ist es mir gelungen, einem solchen gegen seinen Willen das Ticket zu seiner richtigen Bestimmung zu lösen und es ihm im letzten Augenblick in die Hand zu drücken, als sich die Zugstüren schon schlossen. Man muss diese Leute zu ihrer Bestimmung zwingen. Schwierig sind auch diejenigen, die den Automaten für sich in Anspruch nehmen, da kommt es schon mal zu kleineren Rangeleien, vor allem zu Stosszeiten.

Selten ist niemand da. Meistens wenigstens Oberholzer, mit seinem karierten Hemd und der verschlissenen Manchesterjacke.

Ihm brauche ich nicht zu helfen, er kennt seine Bestimmung: Er will nirgendwo hin.

Mit Oberholzer erörtere ich philosophische Fragen: Wer sind all die Leute, die ein- und aussteigen? Wer sind wir? Worauf warten wir eigentlich? Was sollen wir sonst noch tun? Am Automaten komponieren wir immer ausgeklügeltere Tickets: Mit einer Mehrfahrtenkarte erster Klasse von Goppensteig nach Ganterswil via Le Locle, Arosa und Brunnen SZ haben wir neulich die Marke von 17'000 Franken gesprengt. Natürlich kann man solche Billette am Ende nicht am Automaten kaufen. Es sind Gedankenexperimente, Denkspiele.

Immer freitags kauft Oberholzer ein Ticket, nach Amriswil, Puntrutt, Höri oder sonst wo hin, faltet es, steckt es sorgfältig in sein Portemonnaie und geht nach Hause. Er muss schon eine große Sammlung haben.

Wenn ich ihn frage, warum er nie fährt, schüttelt er den Kopf. «Der Zug fährt genau dahin, wo die Schiene hinführt, egal was du dir für ein Billett kaufst.» Seit einiger Zeit ist er auch überzeugt, dass Orte wie La Tine, Tinglev, Tinizong oder Tincques nur Erfindungen eines verrückten Programmierers sind.

Und langsam gelange ich zur Überzeugung, dass er recht haben könnte.

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Marc Späni

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1 | Tara Meister

richtung mittel

Socken

Mike hob den Karton hoch über das zerlegte Bettgestell und seine Muskeln glänzten, deltoideus, trapezius, biceps, das volle Programm.

Mia seufzte, schon den ganzen Vormittag. „In ein paar Tagen habe ich vergessen, wie es ausgesehen hat.“

Ihre nackten Füße ragten über den Couchtisch, dahinter stapelte sich beinahe alles, nur das Regal stand noch.

In der Küche wickelte Ben Gläser in Zeitungspapier ein, Wassergläser und Weingläser, die ein bisschen klebrig waren. Dass sie nicht zerbrachen, auf den 47 Kilometern zwischen hier und dort.

Aus der Musikbox kam Big Thief, regelmäßig unterbrochen von dem Akku-leer-Geräusch.

Ob er in der neuen Wohnung noch den 2 Euro 80 Wein trinken würde, überlegte Ben, oder nicht mehr, bei 2,3 brutto.

Mia kam in die Küche, drehte die Musikbox leiser. „Es geht mir zu schnell“, sagte sie und: „Kann ich deinen Duschvorleger haben?“

„Ja.“

Zerbrechliches

Ben stapelte ein eingepacktes Glas nach dem anderen in den Karton.

„Da steh ich dann nackt drauf und nass, wenn ich aus der Dusche komme und denk an dich“, sagte Mia, „voller Mitleid.“

Sie griff nach den restlichen Weintrauben in der Obstschale.

„Danke“, antwortete Ben.

Junger Mann fällt mit Fahrrad in den Donaukanal hieß es auf der Doppelseite, in die er die Zuckerdose einwickelte.

„Wer als nächstes, frag ich mich“, Mia ließ eine Traube zwischen ihren Zähnen platzen, „hat bei dir auch niemand kommen sehen, dass du eines Tages arbeiten gehen würdest.“

Sie trug ihren fliederfarbenen Pullover, mit Absicht, vermutete Ben. Den, den er an einem Abend ein wenig angesengt hatte. Wenn sie ihm den Rücken zuwandte, sah er das dunkle Brandloch.

„Ich bau das Regal jetzt ab!“, rief Mike aus dem anderen Zimmer.

„Passt!“, rief Ben zurück.

„Willst du alle Bücher behalten?“

„Ja!“

„Alle, alle?“

„Ja!“, brüllte Ben über das einsetzende Geräusch der Bohrmaschine.

„Wer liest denn Bücher zweimal?“

Sonstiges

Ben stand zwischen den Kisten, nippte an seiner Bierflasche, seine Augen waren ein bisschen feucht. Mia bemerkte es erst, als sie ihre Zigarette fertig geraucht hatte.

„Schon gut“, sagte sie und zwickte ihm in die Wange, „irgendwann wären wir sowieso hässlich geworden. Sogar Mike, das glaubt er mir nur nicht.“

Später war der Flur vollgeräumt und die Wohnung leer.

Zu dritt setzten sie sich vor die Zimmertüre auf den Boden und begannen die Sticker von dem Milchglas zu kletzeln. Es dauerte lange und unter jeder Schicht kam eine neue. Politische Parolen, Veranstaltungen, Musikbands, klebrige weiße Fussel sammelten sich unter ihren Fingernägeln.

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Tara Meister

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24 | Sofie Morin

Wie der Christbaum schwimmen lernte, der hätte der unsrige werden sollen

Nur diesen einen Wunsch habe ich, nur diesen, nichts sonst wünsche ich mir zu Weihnachten, habe ich zu dir gesagt: Lass uns zusammen einen Baum aussuchen, habe ich gesagt, für uns. Und mir den Baum dabei schon als einen geschmückten gedacht, und das gemeinsame Aussuchen so, als gäbe es uns mit einem gemeinsamen Heim rund um diesen Baum.

Mich daran zu gewöhnen, dass du in letzter Minute doch nicht kannst, dazu habe ich bereits genügend Zeit gehabt. Anscheinend nicht ausreichend. Vorhin noch, allein vor dem Christbaumstand, habe ich meine Zuversicht durchschwommen, und womöglich auch die deine. Quer zur Fließrichtung, das in jedem Fall. Jedenfalls in dem Fall unseres verfehlten Zusammentreffens, wieder einmal.

Es ist wahr, finde ich nun, so wie ich den Baum unverhüllt durch die Straßen schleppe, so wie ich mich dahinschleppe und den Baum nur als Vorwand, ohne dich. Es ist wahr, die besinnungslose Freude kennt uns kaum mehr. Ansatzlos heben wir uns von allem ab, was wir einst waren und nie sein werden. Die Ringe an unseren Fingern haben ab dem ersten Augenblick von unserer komplizierten Verfassung gezeugt: nicht zusammenpassend. Wohl haben wir vorgeblich unwissend getan, als hätten wir uns bei unseren Treueschwüren versprochen. Und dennoch, eine Tatsache, nicht nur an Feiertagen: Du wie ich einem anderen Menschen zugetan.

Das Ausharren und Zuwarten seither unsere Lebensaufgabe. Oft umsonst. Darum also, der Baum, den ich allein über den losen Neuschnee schleife, den Baum, den du nicht mit mir trägst, verzweifelt, als ginge es darum ein Wettrennen zu gewinnen. Auf befestigten Straßen eile ich, als könnte mich das retten, oder auch nur etwas von uns, und denke an die Zeit, als Anfang war und Frühling freilich und meine Verfügbarkeit zum Beispiel durchaus zur Debatte gestanden ist. Mit zusammengebissenen Zähnen haben wir uns einst einander vorgestellt. Um das Schlimmste zu verhüten, das wir noch kaum ahnten, das Schlimmste, das meine Offenbarung sein mochte oder deine.

Ich und der Baum bewegen sich über die Friedensbrücke, als gäbe es keine andere denn diese schicksalshafte Querung. Wiewohl die Richtung stimmt, unterwegs zu dir, ist meine Lust entvölkert. Ich denke an Wildbienen, die ich den domestizierten immer schon vorgezogen habe, und denke bereits an unseren Baum getunkt in ein Das-wäre-auch-zu-schön-gewesen! Und spüre ihn entgleiten, den Christbaum, der hätte der unsrige werden sollen, aus meinen verkrampften Händen, hinab, als wäre da kein Geländer, in die Donau, wo ich ihn kurz darauf treiben sehe, wie unsere Zuversicht: gegen die Strömung.

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Sofie Morin

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23 | Sarah Claire Wray

c scham

ich war und bin und werde immer sein
durch arbeit definiert

schaffe schaffe häusle baue

nur wer leistet,
ist
ein guter mensch ein lieber mensch
ein mensch der von anderen gelobt wird

doch jetzt ist alle leistung still gedreht.

und ich ich bin

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Sarah Claire Wray

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22 | Carolina Reichl

Die Geburt Schatzibinkis

Rückblickend bezeichnet meine Mutter die Geschehnisse als ein Wunder.

Den ganzen Advent war sie auf der Suche nach einer neuen Wohnung. Mein Vater hatte ihr Ende November angekündigt, dass er dieses Jahr mit seiner neuen Freundin Weihnachten feiern würde. Er glaubte, dass auch sie eine Affäre hätte.

Meine Mutter zog allein in die erstbeste Wohnung, die sie fand.

Am 24. Dezember half ich ihr beim Übersiedeln. Wir bestellten Pizza bei einem Türken auf Mjam. Zum Kochen fühlte sie sich nicht im Stande. Sie heulte nach der dritten Flasche Weißwein. Sie verstand nicht, wie es soweit kommen konnte. 26 Jahre hatte sie ihre Bedürfnisse denen meines Vaters untergeordnet.

Wir öffneten einen Zweigelt. Betrunken schliefen wir vor dem Fernseher ein.

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Am nächsten Morgen saß meine Mutter neben mir und strahlte über das ganze Gesicht. Vor uns auf dem Boden ein Katzenjunges mit zerzaustem Fell, das sich über einen Teller Schinkenwürfel beugte.

„Das ist Moritz“, sagte sie. Mich hätte sie auch Moritz genannt, wenn ich ein Junge geworden wäre. „Ich war um 5:00 schon wach und hab den Müll rausgetragen. Da hab ich ein Miauen gehört. Jemand hat den Kleinen einfach in der Mülltonne ausgesetzt, kannst du dir das vorstellen? Wie lang er da wohl schon gewesen ist. Ein Wunder, dass er noch lebt.“ So hatte sie ihn empfangen, unbefleckt, aber verdreckt.

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Bereits nach wenigen Tagen wurde aus Moritz Morli beziehungsweise Schatzibinki. Morli benutzte sie, um über ihn zu sprechen; Schatzibinki in der direkten Anrede. Seither hat für meine Mutter eine neue Zeitrechnung begonnen. Wenn sie von einem Ereignis berichtet, das vor der Trennung geschehen ist, dann sagt sie nicht: Vor der Trennung, sondern: Vor Morli.

Anfangs fand ich es gut, dass sie Morli behalten hatte. Er lenkte sie von meinem Vater ab und bewahrte sie davor, alleine zu sein. Doch dann begann sie, um 4:00 Uhr morgens aufzustehen, weil er Frühstück wollte. Sie hörte auf, auf Urlaub zu fahren, weil sich irgendjemand um Morli kümmern musste und ihrer Meinung nach konnte das nur sie; vor anderen hatte Morli Angst. Sie verzichtete sogar auf ihre Maniküre, auf die seit Jahrzehnten schwor, nur um ihm das teuerste Futter und Leckerlis in allen Formen zu kaufen. Mit Sticks, Pudding und Bites ringt sie um seine Aufmerksamkeit. Manchmal kauft sie ihm auch Neuburger. Den liebt er. Sie selbst mag Leberkäse nicht.

Ich sage oft: „Du verwöhnst ihn zu sehr.“

Sie meint, ich müsse das verstehen. Wenn er fraß, wäre er glücklich. Recht viel mehr gäbe es in seinem 40m2 Universum nicht.

Selbst als sich herausstellte, dass sie eine Katzenhaarallergie hatte, beschloss sie, ihn nicht herzugeben, sondern lieber Tabletten zu nehmen. Es wäre ja nur ein leichtes Kratzen im Hals und ein bisschen Husten, sagte sie.

„Es ist nicht immer einfach, aber das Gute ist, ich kann mich auf ihn verlassen. Er wird immer bei mir bleiben.“ Dann fügte sie hinzu, es sei vorherbestimmt gewesen, dass sie einander gefunden hatten.

„Wer sollte das bestimmen?“, fragte ich. Darauf antwortete sie nicht. Sie meinte nur, es könne kein Zufall sein, dass sie ihn ausgerechnet an Weihnachten gefunden hatte.

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Am 24.12.2019 sprach sie zum ersten Mal von Morli dem Retter. Er hätte sie vor der Verzweiflung bewahrt und von ihrer Trauer erlöst. Sie hob ihr Glas und trank auf ihn.

Aber Morli ist kein Erlöser. Er ist verfressen.

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Wenn ich meine Mutter besuche, überlege ich, die Wohnungstür offen zu lassen, damit das geliebte Schatzibinki in die Freiheit läuft und sie ihre zurückbekommt.

Vielleicht hätte ich die Einschränkungen verstanden, die meine Mutter für Morli hinnahm, wenn Morli ein Hund gewesen wäre. Hunde erwidern Zuneigung bedingungslos. Morlis Liebe ist an den Futternapf geknüpft.

Bevor er sein Fressen bekommt, ist er am zutraulichsten. Sobald er hört, wie das Schälchen geöffnet wird, schwattelt er in die Küche. Ich staune jedes Mal, wie dick er geworden ist. Sein Bauch schaukelt so heftig von links nach rechts, dass er alle Muskeln anspannen muss, damit es ihn nicht aus der Bahn wirft.

Dann schmiegt er sich um die Beine meiner Mutter, zuerst mit dem Kopf, dann mit dem ganzen Körper. Streicheln, hochheben, abbusseln, das lässt er alles zu, schnurrt dabei sogar und manchmal schleckt er ihr auch über die Wange.

Sobald er aufgegessen hat, ist sein liebes Getue vorbei. Versucht meine Mutter ihn zu berühren, streckt er die Krallen aus und beißt ihr mit voller Wucht in die Hand. Seine Reaktionen sind unergründlich.

Meine Mutter schreit nicht, auch nicht wenn der Kratzer tief ist und blutet. Sie ist ihm niemals böse. Sie sagt dann, sie wäre selbst schuld, sie hätte ihn nicht anfassen dürfen. Nach dem Essen mag er das nicht.

Auf ihrer Hand sind so viele Narben, dass ich sie gar nicht mehr zählen kann.

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Ich frage mich, ob Katzen ein Bewusstsein dafür haben, wenn sie über einen Menschen Macht verfügen. Und wenn ja, ob es ihnen Spaß macht.

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Eines Tages öffne ich die Tür und stelle eine frischgeöffnete Packung Neuburger ins Treppenhaus.

 „Komm“, flüstere ich. Morli sitzt am Gang und beobachtet mich, wie ich ihm seinen Weg nach draußen deute.

Ich lehne mich gegen die Wand, sodass er problemlos an mir vorbeilaufen kann. Meine Mutter kriegt von alldem nichts mit. Wir haben uns bereits verabschiedet, sie steht in der Küche und räumt auf.

 „Es war ein Versehen“, würde ich ihr sagen. „Er war so schnell, ich unkonzentriert. Es tut mir leid.“ Sie würde weinen, mich beschimpfen, aber irgendwann würde sie mir verzeihen.

Ich bin verwundert, dass Morli sich nicht gleich in Bewegung setzt.

„Komm schon, ich weiß, wie sehr du den liebst“, sage ich noch einmal und hebe eine Scheibe hoch, tanze damit vor seinem Gesicht. Er wird gleich zubeißen, denke ich.

Gelassen sieht er mich an, schließt die Augen und öffnet sie wieder.

Einige Minuten stehen wir so da. Dann wird es mir zu blöd.

Ich trete über die Schwelle, packe den Leberkäse wieder ein und nicke ihm zu. Dann schließe ich die Tür.

Er bleibt bei meiner Mutter, so wie sie es prophezeit hat.

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Carolina Reichl

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