Ram on

Es wird ein Samstag gewesen sein, denn jeden Samstag saßen Al und ich im Keller vom Ship&Mitre, um uns unter anderen Gescheiterten zu betrinken, bis das Zittern der zum Schaffen geschafften Hände endlich nachließ. Nicht dass Al und ich uns dafür verabredet hätten. Wir kannten uns vor jenem Abend nicht und für mich war er bisher eher Teil des schnapsfleckigen, nach vergälltem Leben stinkenden Interieurs der Kellerkneipe als deren Kundschaft. Zu jener Zeit verbrachte ich meine nüchternen Stunden damit, tagsüber in einem Lebensmittelgeschäft in der Warwick Street auszuhelfen, um abends das verdiente Geld an abgewetzten Roulettetischen mit bösartiger Gleichgültigkeit an die Bank zu verschenken. Diese Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber war mir seit jeher ein treuer Begleiter, ein Schatten neben mir. Ich ließ mich lieber treiben und nahm hin, was kam. Wahrscheinlich fiel es mir deshalb so leicht, mich seit ungezählten Jahren in einem anhaltenden Rauschzustand zu ertränken, ohne je Schuld darüber zu empfinden. Diese Abende waren nun mal alles, was blieb.
An einem dieser Abende trieb es mich zu Al, hier scherzhaft als „Uncle Albert“ bekannt, dessen zweifelhafter und doch liebevoll-nachsichtiger Ruf in jener Kneipe mir bereits vor unserem ersten und einzigen Wortwechsel sein tägliches Kommen und Bleiben versicherte. Er war ein wirrer und unsteter Mensch, der früher als Mittelklasseboxer seine Alkoholexzesse in Löchern wie diesem finanzierte, den die erfolglosen Jahre aber zahm und stumpf haben werden lassen, sodass ihm von seinem ohnehin schon bescheidenen Lokalruhm nur eine mickrige monatliche Versehrten-Abfindung des Kensington Boxing Clubs und eine scharf nach rechts zerschlagene, weinrote Rosazea geblieben waren.
Ich erinnere mich noch an das staubige Licht im Keller, das seine grobschlächtige Rechte matt schimmern ließ, während sich die massige Faust um ein schäumendes Pint schloss. Ich hatte soeben eine schon nicht mehr verschmerzbare Menge Pfund verloren, war allerdings bereits zu betrunken, um mir über mein Unglück ernsthafte Sorgen zu machen. Mein selig schwimmender Blick verlor sich im goldenen Brausen eines heimischen Ozeans und ich hätte nicht sagen können, wie lange ich so dasaß: den müden, verbrauchten Körper mühsam auf einem Hocker haltend, von den weniger besorgten als sichtlich angewiderten Mienen der Mitspielenden unberührt und den eigenen Blick rettungslos ertrunken im gewürgten Bierglas von „Uncle Albert“.
An diesem Abend stürmte es heftig. Ein grausamer Windzug jagte über die kahle Rundung meines Hinterkopfes und ließ mich aus dem Bann aufschrecken, nachdem er ein Kellerfenster samt Rahmung aus der Fassung gesprengt hatte und den düsteren Raum durchflutete. Als ich meinen Blick löste und aufschaute, bemerkte ich, dass Al diesen erwiderte. Er blickte mit seinen zusammengerückten Säuferaugen streng in mein Gesicht, als prüfe er mich. Worauf wusste ich nicht. Die geblähten, mit den rötlichen Pusteln vergangener Leben befleckten Wangen rahmten seinen Blick und gaben ihm, trotz des unübersehbaren Verfalls seiner Züge, das würdige Aussehen einer antiken Anemoi-Darstellung. Gerade als ich spürte, wie mich die Kraft verließ, seinem Richterblick standzuhalten, hob er schwerfällig seine Linke und winkte mich mit einer abfälligen Bewegung zu sich. Ohne zu wissen warum, erhob ich mich und trottete langsam, aber entschieden auf den Tisch in der dunklen Ecke des Raumes zu.
„Du bist hier öfter, als dir guttut“, sprach der alte Al, als ich stumm Platz genommen hatte. Seine Stimme hatte eine raue Klangfarbe, aber seine Worte klangen nicht wertend oder gar beschämend: es waren von zwischenmenschlichen Banden vollkommen losgelöste Worte, ohne Anklage oder Mitgefühl, gefühllose Tatsachen, steinern und unbeweglich wie prähistorische Monolithen. Ich hatte das Gefühl der Wind, dem der Kneipenbesitzer trotz wütend gebellten Befehlen nicht Herr zu werden schien, spielte nun eine fürchterliche Kantate. „Wo sollte ich sonst sein?“, gab ich mit verwaschener Stimme zurück, die Augen wagte ich nicht vom vernarbten Tisch zu heben. „Da draußen natürlich“, sprachs aus der Ecke und ich hatte das Gefühl die denkbar schlechteste Antwort gegeben zu haben. Die schlichte Bestimmtheit seiner Rede irritierte und erregte mich. „Heutzutage weht ein anderer Wind. Nie zuvor war es so leicht abzusaufen“, setzte er nach. Ich nickte stumm, doch verstand nicht, was er meinte. Mir fiel auf, dass er mich beim Sprechen nicht anschaute. Auch sein Blick kämpfte nun einen hoffnungslosen Kampf am Grund seines Glases. Eine Weile verharrte er in dieser Stellung, ohne meine Verwirrung zu lösen. Dann hob er erneut an:
„Dort draußen gibt es stählerne Inseln, in denen Männer wie du und ich noch einen Wert haben. Den Wert eines Zahnrädchens in einem Getriebe, zugegeben, aber ein Wert doch!“ beschwor er, plötzlich stürmisch aufbrausend, wobei er mir feine Tropfen wie Nieselregen entgegenspuckte. „Familienbande eingeschworener Schatzjäger im Kampf gegen die Gezeiten und auf der Suche nach dem schwarzen Gold. Ein lohnendes Geschäft für manche Tagelöhner. Aber für Männer wie uns …“, er pausierte, versuchte den versprengten Atem in tiefen Zügen wieder einzusaugen, „für Männer wie uns, können diese Inseln weitaus mehr sein.“ In atemloser Spannung wartete ich. Worauf, wusste ich nicht. „Hände über dem Wasser, Köpfe über dem Horizont.“, hauchte er endlich und mir war, als hätte er uns beide damit erlöst. Ich erhob mich und wankte schwerfällig, aber bestimmt zur Kellertreppe.
Sturzbetrunken stolperte ich aus der schweren Vordertüre hinaus auf die menschenleere Gasse. Noch bevor sie wieder zufiel, hatte der Wind, der außerhalb des Kellers kreischend durch die schiefen Häuserschluchten fegte, bereits alle Geräusche aus dem Innern verschluckt. In meinen Ohren pfiff es unangenehm und ich spürte den Drang, wieder hineingehen zu wollen – nur raus aus diesem Wind. Nur wusste ich, dass das nun nicht mehr möglich war. Nie wieder würde ich das Ship&Mitre betreten. Ich zog den Kragen meines zerschlissenen Regenmantels bis an die Schläfen hoch und ließ mich einem unbestimmten Ziel entgegentreiben.
Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, wie lange ich durch die winddurchflutete Nacht irrte. Es müssen wohl mehrere Stunden gewesen sein, denn als ich, noch taumelnd und von schieferschwarzen Möwen mit geteertem Gefieder träumend, zu mir kam, stand ich an den Docks, auf dem St. Nicholas Place. Schwer atmend starrte ich in das graue Treiben des Hafenbeckens hinein und dachte an „Uncle Albert“. Seine letzten Worte waren unauslöschlich in meine trunkene Seele eingebrannt.
Da spürte ich es: Der Wind, der, seit ich mich meines Bewusstseins wieder ermächtigt hatte, unbarmherzig vom Nordatlantik her blies, musste sich gedreht haben, denn ich spürte, wie er sich nun an meinem gekrümmten Rücken brach und über meine durchnässten und heftig zitternden Schultern hinweg aufs offene Meer flüchtete. Unwillkürlich hob ich den Blick und erkannte weit über mir auf dem Dach des Royal Liver Buildings, dem stürmischen Tosen in heroischer Haltung trotzend, die bronzenen Schwingen von sich streckend den Stadtpatron, dessen gebieterischer Blick dem Wind aufs Meer hinaus folgte. „Hände über dem Wasser, Köpfe über dem Horizont“, hörte ich es aus einer dunklen Ecke meines Bewusstseins sprechen und wusste doch – diese Stimme gehörte mir.

 

Tom Scheinpflug

 

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