Faule Kunst
Während Erwin H. in seinem Atelier sitzt und malt, sitze ich in meiner Wohnung gegenüber und bereichere mich an ihm. Viel verdienen lässt sich damit vermutlich nicht. Am Honorar beteiligen sollte ich ihn trotzdem. Schließlich ist er es, der die eigentliche Arbeit hat. Er ist der Disziplinierte, der Kreative. Der, der schafft, während ich ihn lediglich abtippe. Mehr als das ist es ja nicht.
Erwin H. zu erdenken wäre wesentlich aufwendiger. Dinge müssten gründlich überlegt werden, ein Setting installiert und Surroundings geschaffen. Das finge mit dem Atelier schon an. Vermutlich wäre das dann eher Galerie als Werkstatt, wahrscheinlich verortet in einem durchgentrifizierten Bezirk einer großen Stadt, warum nicht gleich der größten: Hauptstadt also. Hier wäre natürlich noch zu konkretisieren, die Galerieumgebung wenigstens zu verschlagworten. Vielleicht so: Gute Lage, vorwiegend Wohnen, verkehrsberuhigt, ein paar Spätis, einige Cafés, bisschen Einkaufen, bisschen Kinderbetreuung, Gesundheitszentrum, warum nicht, Yoga-Studio definitiv, wahrscheinlich sogar Plural, in Wegbierentfernung Pizza, Döner, Sushi, Tapas, familiengeführter Imbiß mit „ß“ und Traditionscurrywurst sowie eine beachtliche Auswahl an was-der-Bauer-nicht-kennt im Liefergebiet. Dazu kleine Gewerbebetriebe: Fahrradladen, Handyreparaturen, sowas. Irgendwo da in solch einer Gegend befände sich die Galerie also.
Wie weiter? Der zur Straße hin gelegene Teil würde vermutlich als Ausstellungsraum genutzt und wäre ziemlich sicher sehr klar gehalten, minimalistisch. Das Wenige, das herumläge, sähe nicht nach Herumliegendem aus, sondern nach Konzeptkunst. Arbeiten würde der Erdachte in einem den Ausstellungsraum angrenzenden, von außen nicht einsehbaren Bereich. Der Einfachheit halber würde dieser „Raum II“ genannt und dessen Gestaltung der Vorstellungskraft Lesender überlassen. Auch der Schaffensprozess selbst würde vernachlässigt. Da wird man ja nicht fertig, all die Techniken und Stile zu recherchieren und abzubilden, die sich einer wie Erwin H. im Laufe seines, sagen wir, 67-jährigen Lebens angeeignet hätte. Hilfreich wäre ein Forum oder sowas in der Art, aus dem sich zügig fundierte Informationen über das Entstehen von Kunst copy-&-pasten ließen, die eines Erwin H.s würdig wäre. Dann gälte es lediglich, elaborierte Adjektive und aufmerksamkeitsheischende Substantivierungen einzustreuen, um den Eindruck eigener Expertise zu stärken und den des Plagiats zu vermeiden.
Noch effektiver wäre, lediglich zu erwähnen, dass sich die komplette Wirkmacht seiner Kunst auf der Leinwand entfaltet. Eine notwendige Verknappung der Ereignisse. Es wollten neue Texte geschrieben werden, andere. Texte, die mehr Geld und Anerkennung versprachen, als einer über einen wie Erwin H.
Es gäbe also nur vernissagebereite Arbeiten in der Galerie. Diese wären so positioniert, dass sie dem erwünschten Eindruck genügten, hier entstünde Kunst nur der Kunst wegen. Wie genau diese Positionierung auszusehen hätte, wäre noch zu überlegen oder der Satz gegebenenfalls zu streichen.
Was noch? Die Exklusivität seines Schaffens betonend, fänden sich nur wenige Werke vor Ort. Den übrigen Raum füllte er, der Erdachte, mit kunstvollem Sein. Säße bedeutsam herum, schritte energisch umher oder lehnte exponiert an exponatloser Wandfläche, von dort auf seine Werke blickend. Natürlich ginge es ihm dabei um Perspektivwechsel und nicht um die Aufmerksamkeit Passierender, die er aber wohlwollend in Kauf nähme. Ebenfalls in Kauf nähme er, gegen zu erfragenden Festpreis, den Verkauf seiner Arbeiten. „VB“ wäre nicht Sache des Erdachten. Ebenso wenig wie seine Kunst wäre Geschmack für ihn verhandelbar. Der fiktive Erwin H. gäbe viel auf sein Äußeres. Dazu gehörte ein handgefertigter Panamahut im Stile Liebermanns und Rockefellers, den er als gleichwertigen Gruß an die Künste und das Unternehmertum trüge. Zudem trüge er ein Hemd aus gebürsteter Baumwolle, unter dem sich ergrautes Brusthaar um ein mehrlagiges Goldkettchen rankte. Über Kettchen, Brusthaar und Hemd sei dem Erdachten ein Seidentuch gegönnt und Leinenhosen. Diese würde er leger aufgekrempelt haben, sodass man die Schmucklederbändchen würde sehen können, die seine von Sonne und Betacarotin gefärbten Fesseln zierten. An den Füßen trüge er Espadrilles. Wie Sonny Crockett in Miami Vice, den er aber nur heimlich bewunderte.
Vor allem aber trüge Erwin H. in meiner Version von ihm eines: einen weniger handwerklichen Namen. Vielleicht wäre er ein Friedrich W. oder ein Albrecht M. Vielleicht auch ein Korbinian von B. Der noch zu beschließende Name würde in silbernen Lettern am Galeriefenster verkündet. Der intendierten Wirkung wegen (edel, geheimnisvoll), wären sie auf einem Sichtschutzstreifen aus wertiger Glasfolie aufgebracht. Eventuell mit dezentem Grafikelement noch. Aber das sind Feinheiten, die bei einem Getränk überlegt oder nach weiteren vergessen werden könnten.
Abschließend überlegt wurde hingegen folgendes: Zum Rotwein, den er natürlich tränke, gönnte er sich gern Käsespezialitäten, Trüffelsalami, Datteln, Kapern und Grissini, die mit etwas Feigensenf auf einer Schiefertafel angerichtet wären. Das alles würde er regelmäßig beim Feinkostladen seines Vertrauens erstehen, den er selbstverständlich hätte. Und einen hochkarätigen Siegelring hätte er auch. Den trüge er am selben Zeigefinger, mit dem er seine Edelholzbrille zurechtschöbe, wann immer er meinte, dass diese beim kunstvollen Umherblicken ihre Position verlassen habe. Was nicht passieren würde, da er natürlich eine Maßanfertigung besäße und kein positionswillkürliches Kassenmodell wie der echte Erwin H.
Gerade habe ich ihn gesehen, den echten Erwin H. Immer, wenn ich das Haus verlasse oder betrete, komme ich an seinem Atelier vorbei. Und auch hier, von meinem Schreibtisch aus, kann ich ihn sehen.
Erwin H. stört diese Sichtbarkeit nicht. Im Gegenteil: Erst, wenn das Licht der Leuchtstofflampen den Raum stärker hellt, als der Tag das Außen, erst dann tritt er in Erscheinung. Genau genommen ist er dann einfach da.
Noch nie sah ich ihn sein Atelier betreten oder verlassen. Eigentlich kenne ich ihn nur dort seiend. Entweder an einer Leinwand arbeitend oder krummrückig an einem Tapeziertisch in der Raumesmitte. Auf dem Tisch finden sich Farben, diverse Spachtel und Spatel, Paketband, Löschpapier, Teppichmesser, Specksteine, Lackdosen, Scheren, Stifte, Bindfäden, Pinsel zum Zeichnen und Leimen, Wassergläser verschiedener Füllstände und Auswaschspuren, weiteres Aufzählungslängendes sowie eine Isolierkanne mit Tee, tippe auf Sanddorn oder Hagebutte.
Die echte Fensterbank des echten Erwin H. ist in ihrer Absichtslosigkeit perfektes Stillleben: Neben einem kunstvoll angeschlagenen Teller, den sich frischgeschimmelte Pfirsiche mit bald schimmelnden Tomaten teilen, findet sich allerlei Adjektivloses: eine Dose Studentenfutter, ein Radiorekorder, Sitzkissen, Zwirn, Reißverschlüsse, Muschelschalen, Kerzenwachs, Geschenkband … sowas. Einige Staubstellen weiter türmen sich Tonträger. Vorstellbar sind Chansons: Gainsbourg, Piaf, Conte. Oder Houellebecq, egal, ob der jemals auch nur ein Chanson gesungen hat. Einfach, weil Chansons zu Houellebecq passen und Erwin H. mit seinem Tumbleweed-Haar, der fahlen Haut, der egalen Kleidung und dem Pinsel, der zigarettengleich zwischen seinen Lippen klemmt, an ihn erinnert.
Außer Chansons wären auch Weltmusik oder Mitschnitte großer Rockfestivals denkbar. Vielleicht weiß er selbst nicht mehr, was auf den Silberlingen zu hören ist, die manch verkrustetem Insekt Totenbett und manch verkrustetem Gefäß Untersetzer sind.
„Erwin H. macht was er will“, verkündet ein Scherenschnitt im Fenster. Vor allem macht Erwin H. eines: kein Geheimnis aus sich. Weder aus sich noch aus seiner künstlerischen Vorliebe für huttragende Modelle, an denen ordentlich was zu malen dran ist. Wenn das Licht brennt, steht ihnen und allen anderen sein Atelier offen. Manchmal bringen sie Dinge mit, von denen sie annehmen, es sei Atelierskost. Rotwein. Käsespezialitäten. Trüffelsalami. Datteln. Kapern. Grissini. Feigensenf. Sowas. Ob Erwin H. je davon probiert hat, weiß ich nicht. Rotwein trinken sah ich ihn jedenfalls nie. Und auch sonst nichts Kompliziertes naschen. Nichts, das um seine Aufmerksamkeit buhlt. Denn die gilt einzig seiner Kunst, die sich dicht an dicht drängt oder stapelt, wo kein Drängen mehr möglich ist.
Aktuell arbeitet er an etwas Realistischem in Öl: Teilsanierter Altbau. Fünf Stockwerke. Putzfassade mit Sauklauengraffiti im Sockelbereich. Zweiflügelige, teilverglaste Eingangstür. Vor dem Haus Ereignislosigkeit. Neben dem Eingang eine „ZU VERSCHENKEN“-Kiste mit „ZU ENTSORGEN“-Inhalt. Im Erdgeschoss ein beleuchtetes Eckzimmer: Doppelkastenfenster, Oberlicht auf Kipp. Auf der Fensterbank Lautsprecherbox, einige Bücher, keine Sukkulenten. Am Fenster ein Tisch, darauf ein Weinglas und ein aufgeklapptes Notebook. Daneben etwas, das ein Manuskript sein könnte. Immerhin ein Stapel. Immerhin beschrieben. Darauf ein Aschenbecher und eine Karaffe mit Rotwein. Denkbar wäre natürlich auch Traubensaft, aber wozu.
Am Notebook eine rauchende Person: Gesicht displaybeleuchtet, zusammengekniffene Augen hinter eckigen Brillengläsern, der Blick hinter der Scheibe zum Erliegen kommend. Schräg hinter der Person eine an Leuchtkraft sparende Lampe sowie eine an Pracht sparende Pflanze vor einer bilderlosen Wand in Beton-Optik. Mehr ist nicht zu sehen.
Erkennen kann ich mich dennoch. Dabei trinke ich gar keinen Rotwein. Und eine Karaffe habe ich auch nicht. Aber hätte ich eine, wäre sie aus kunstvoll geschliffenem Bleikristall und nicht aus leicht zu zeichnendem, schmucklosem Glas. Dass die mir von Erwin H. verpasste Brillenform von meiner abweicht – geschenkt. Und auch, dass auf dem Fensterbrett sehr wohl Sukkulenten stehen. Sehr schöne sogar. Das Manuskript lasse ich mir hingegen sehr gern gefallen. Das schmückt meinen Tisch mehr als die zu erledigende Bürokratie, die dort eigentlich liegt.
Ich frage mich, ob Erwin H. mit seinem Bild über mein Schreiben mehr verdienen wird als ich mit meinem Schreiben über sein Malen. Schwer vorstellbar. Dafür müsste erstmal jemand das Bild kaufen. Und ehrlich gesagt …
Nur so tippe ich seinen Namen in die Suchmaschine. Schon beim dritten der elf Buchstaben des Nachnamens schlägt die Autovervollständigung an. Eins ist sicher: So, wie Erwin H. vor der Welt kein Geheimnis aus sich macht, macht die Welt auch keines aus ihm. Schon lang nicht mehr! Zumindest am Verkaufserlös beteiligen sollte er mich! Das ist ja wohl das Mindeste! Schließlich bin ich es, die die eigentliche Arbeit hat! Ich bin die Disziplinierte, die Kreative! Die, die schafft, während er mich lediglich abmalt! Mehr als das ist es ja nicht!
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