Frierende Epiphyten

Eine Störung unbekannter Größe
Die letzten Tage war es kalt geworden im Gebäude B8253 und Moos war sich unsicher, ob es nicht vielleicht schon immer so kalt war. Ob sich nicht einfach eine neue Sensibilität bei ihm gebildet hatte. Es war nichts Ungewöhnliches für Moos. In Abständen, die sich keinem Muster zu unterwerfen schienen, wurde sein Leben von neuen Sinnen verkompliziert – neue Verbindungen fanden sich in seinem Gehirn oder ihm wuchsen neue Geruchsorgane, die ihm auf eine absonderliche Art und Weise gut standen. Doch das Thermometer im Flur verriet ihm: nicht er, sondern die Umgebung war dieses Mal der Auslöser. Das Problem war nur, dass Moos keine Ahnung hatte, woher die Kälte kam. Bis jetzt war seine Erdgeschoßwohnung, die sich wie ein verschrecktes Tier halb unter dem Erdboden verbarg, immer kuschelig warm gewesen – und das obwohl er sich weigerte, die Heizung anzuschalten.
Das Gebäude war eines unter vielen gleichen, die sich nur in Gebäudenummer und Farbton unterschieden. Moos war schon vor einer Weile eingezogen, man konnte aber kaum von ‚wohnen‘ sprechen. Normalerweise kam er nur zum Schlafen nach Hause und genau dabei störte ihn die Kälte nun. Es war weniger eine klirrende als eher eine zugige Kälte, als wäre sein Bett strategisch auf einer Klippe platziert worden. Sie schien von allen Seiten zu kommen, was die Suche nach einem Auslöser als schwer bis unmöglich gestaltete. Geplagt, mehr von der Ausweglosigkeit der Situation als von der Kälte selbst, entschied sich Moos, noch ein bisschen zu arbeiten – eine Tätigkeit, die ihn meistens zur Ruhe brachte. Moos arbeitete bei der Verwaltung des Ortes in der Abteilung der kleinen Dinge. Moos war alleinig für die Kategorisierung der kleinen Störungen verantwortlich. Störungen können alles sein – physische, ästhetische, olfaktorische. Gerade erst hatte Moos eine neue Kategorie ins Leben gerufen – die der schlecht gesetzten Pflastersteine. So gab es welche, die schräg waren, welche die ein bisschen erhobener als die Steine um sie herum waren und welche die gar eine andere Farbe hatten. Seine Arbeit gliederte sich in einen suchenden Teil, bei dem er entweder selbst durch die Stadt streunte oder andere Bewohnende zu ihren Störungen befragte, und in einen kategorisierenden Teil, bei dem er in einem großen Hochhaus, seinem Wohnhaus nicht unähnlich, saß und die Störungen in verschiedene Kategorien einteilte. Vom Hochhaus aus konnte Moos fast die gesamte Stadt überblicken. So konnte er, wenn er über eine der Störungen las, in die Richtung blicken, in der sie sich befand und sich vorstellen, wie sie dort, auf eine Art widerlich und schön zugleich, das Stadtbild veränderte. In seiner Erdgeschoßwohnung war das schwer möglich und so hatte die Arbeit mit den Pflastersteinen von seinem Bett aus eine sehr viel weniger lebhafte Qualität. Als er dann so müde wurde, dass er bereit war zu schlafen, duckte er sich unter seine Decke. Nun ähnelte Moss einem verschreckten Tier, das vor dem kalten Wind flüchtete.

Entdeckung der Kälte
In der nächsten Nacht konnte Moos wieder nicht schlafen, seine Decke war kein ausreichender Schutz gegen die Kälte. Seine Ohren froren und er bildete sich ein, in seinen Haaren Eisklumpen spüren zu können. Da er nicht wusste, was er sonst tun sollte, beschloss Moos, sich auf die Suche nach dem Ursprung der Kälte zu machen. Er befeuchtete äußerst fachmännisch seinen Finger, um besser einschätzen zu können, woher die windige Kälte kam. Er stellte direkt fest, dass der Auslöser wohl keine undichten Fenster waren. Es kam durch die Tür aus dem Flur. Also trat er im Schlafanzug und mit erhobenem Zeigefinger hinaus. Moos hatte sich noch nie mit dem Rest des Hauses beschäftigt. Nicht mit seinen direkten Nachbarn und erst recht nicht mit den restlichen Stockwerken. Er wusste nicht mal, wie viele Stockwerke das Haus hatte. Die Kälte rührte aber von den oberen Stockwerken her, also musste er sich wohl oder übel nun damit auseinandersetzen. So folgte er der Kälte wie eine willenlose Marionette, ein Stockwerk hinauf und ein zweites und ein drittes. Nach dem 6. Stockwerk war die Frage nach der Anzahl der Stockwerke auf einmal dringlich. Nach dem 10. Stockwerk wurde sie durch die Frage abgelöst, ob das Gebäude überhaupt ein Ende hatte. Nach dem 13. Stockwerk bereute Moos, sich keine Flasche Wasser mitgenommen zu haben. Ab dem 15. Stockwerk fiel Moos auf, dass es merklich immer kälter und kälter wurde. Im 17. Stockwerk wurde die Kälte fast unerträglich. Nach dem 20. Stockwerk hörte das Gebäude endlich auf und dort befand sich nichts mehr. Die Treppe des 20. Stockwerks führte wortwörtlich ins Nichts und über Moos war nur noch der Sternenhimmel. Das erklärt die Kälte, murmelte Moos. Erschöpft von den Treppenstufen setzte sich Moos auf die vorletzte und betrachtete die Sterne. Erst nach einer Weile bemerkte er, dass direkt gegenüber auch ein Hochhaus war und dass dort ein Mann am Fenster saß. Er winkte ihm zu und Moos winkte zurück.
Er war ihm unheimlich unangenehm gesehen zu werden. Nicht weil er mitten in der Nacht im Schlafanzug die Sterne beobachtete, sondern einfach, weil ihn jemand wahrnahm, in einem Moment, in dem er selbst fast vergessen hatte, dass er existierte. Peinlich berührt machte er sich auf den Weg die Treppe hinunter, bemüht nicht noch einmal die Blicke des Mannes zu streifen. Der Weg nach unten kam ihm noch länger vor als der Weg hinauf. Als er in seinem Bett wieder ankam, kam es ihm im Vergleich zum Ende des Hochhauses unglaublich warm vor. Im Halbschlaf fragte er sich, ob es wohl eine Medizin für Situationen gäbe, in denen man aus dem Nicht-Existieren herausgerissen wurde.

 

Fynn Bastein

 

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