Das deutsche Butterbrot
Einem deutschen Butterbrot begegnete ich zuerst in der Grundschule beim gemeinsamen Frühstück. Die Eltern meiner Mitschüler waren da und belegten fleißig Brote. Egal ob mit Käse oder Wurst – zuerst kam immer die Schicht Butter. Bei uns zuhause war das anders – da kam die Wurst direkt aufs Brot.
Das nächste entscheidende Ereignis, das mich davon überzeugen ließ, dass auf einem deutschen Brot Butter zu sein hat, folgte in der Orientierungsstufe. Da machte meine Mutter mir noch das Pausenfrühstück: Geröstetes Toastbrot und immer zwei Scheiben Aufschnitt, meist Mortadella, sonst nichts. So wie wir da in der ersten großen Pause auf dem Hof standen und unsere Schnitten verzehrten, hatte einer meiner Mitschüler oft was an meinen Broten zu bemängeln. Es war ein sehr großer, dicker Junge, bereits mit zwölf hatte er am Kinn einen blonden Flaum von Bart. Seine Mutter war alleinerziehend und man wusste, dass sie wenig Geld hatte. Er schüttelte oft seinen Kopf über meine Brote.
„Zwei Scheiben Aufschnitt“, sagte er, „Wenn man Butter nehmen würde, würde auch eine reichen und besser schmecken würde es auch!“
Ich wollte aber keine Butter auf meinem Brot, ich wollte eine zweite Scheibe Wurst.
Eines Morgens, meine Eltern und ich waren zu Besuch bei Freunden, beobachtete ich am Frühstückstisch, wie unsere Gastgeber, ebenfalls Spätaussiedler wie wir, sich Butter auf ihre Brote schmierten, bevor – und da staunte ich wirklich gar nicht schlecht – sie dann auf die Butter Nutella schmierten. Meine Schlussfolgerung war, dass diese Leute unglaublich integriert sein mussten, ja, kurz vor der Assimilation standen!
Auch auf dem Gymnasium sah ich meine Mitschüler solche deutschen Brote aus ihren Tupperdosen hervorholen. Wenn man sich in der Cafeteria ein belegtes Brötchen kaufte, kam das mit Butter.
So ging ich in meine erste Beziehung mit einer sehr genauen Vorstellung vom deutschen Essverhalten.
Zuerst sah ich meine Freundin nur am Wochenende, doch bald besuchte ich sie auch unter der Woche und irgendwann verbrachte ich jeden Nachmittag und Abend bei ihr. Da man ja auch etwas essen musste, setzten wir uns schließlich zum Abendbrot mit an den Esstisch. Zuhause aßen wir zu Abend meist Reste vom Mittagessen, mal ein Tiefkühlgericht oder machten uns auch schon mal ein Brot, doch wir nannten es Abendessen. Bei meiner Freundin gab es abends in der Woche immer Brot und Tee. Schon allein der Ausdruck „Abendbrot“ sagte mir, hier wird Brot ernst genommen.
So saßen wir also das erste Mal gemeinsam am Tisch. Es war eine lange Tafel, die wir gerade mal so zur Hälfte besetzten. Am Kopfende immer der Vater, neben mir meine Freundin, ihr gegenüber die Mutter, mir gegenüber der Bruder. Die Platte reichlich gedeckt mit weißen Brötchen und Vollkornbrot, Hähnchenbrustaufschnit, Schinkenwurst, Salami, Leberwurst, einem Stück Käse, daneben ein Käsehobel, Marmelade, Nutella, Frischkäse, einer Kanne schwarzen Tee, Milch, Zucker, doch Moment mal – wo war die Butter? Auf dem Tisch stand weder Butter noch Margarine. Das erste gemeinsame Essen mit der Familie meiner Freundin löste schon genug Nervosität in mir aus, nun drohte aber mein Weltbild ins Wanken zu kommen. Alle anderen waren schon längst beim Essen und ich saß da und glotzte den Tisch an. Um so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung, griff ich zum Frischkäse und bestrich eine Brötchenhälfte damit, legte eine Scheibe Schinkenwurst darüber und biss hinein. Es schmeckte scheußlich. Ich würgte es herunter und schmierte mir noch eins. So machte ich es dann jeden Abend, Woche für Woche saß ich nervös am Tisch, sagte gar nichts, fühlte mich beobachtet und aß diese furchtbaren Brote.
Eines Abends, wir hatten gerade wieder gemeinsam gegessen, kuschelten meine Freundin und ich im Bett. Da fragte sie mich, ob ich bei ihnen auch satt werden würde und ob es auf dem Tisch an irgendetwas mangelte, das ich gern hätte.
„Weißt du“, sagte sie, „viele vermissen die Butter bei uns.“
Ich tat unbeeindruckt.
„Wir tun die Sachen so drauf“, sagte sie, „aber wenn du gerne Butter haben möchtest, Mama kann beim nächsten Einkauf gerne welche mitbringen.“
Erst jetzt wurde mir klar, dass ich nie, wirklich nie darauf geachtet hatte, was die anderen gegessen hatten. Ich war so mit mir selbst beschäftigt gewesen, hatte solche Angst gehabt, anders zu sein, dass ich völlig blind geworden war.
„Aber du tust dir ja immer Frischkäse drauf“, sagte sie, „schmeckt das denn?“
„Oh ja, ich mag das gerne!“
Viele Jahre sind seitdem vergangen. Nie wieder habe ich ein Frischkäse-Schinkenwurst-Brot gegessen.
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