freiTEXT | Valeska Stach

Die Qualle hat keine Stimme

Das Kind bekommt ein Aquarium ins Zimmer gestellt, nachdem es eines Nachts plötzlich nicht mehr atmen konnte. Es war, als wäre da einfach keine Luft mehr gewesen. Ins Aquarium wird eine Qualle gesetzt. Das Wasser, in dem die Qualle schwimmt, macht, dass die Luft wieder nachwachsen und das Kind besser atmen kann.
Das mit dem fehlenden Atem, das ist ein bisschen so, wie wenn da keine Worte mehr sind. Außer, dass das mit den Worten ständig so ist. Da sind eigentlich ganz viele Worte, aber sie passen nicht in den Mund oder der Mund passt nicht zu den Worten. Das Kind ist voller Worte, aber es hat nichts, womit es sie aussprechen kann. Es hat gar keinen Mund. Da ist einfach kein Platz. Kein Platz für etwas von diesem Kind in dieser Welt.

Die Tante mit den rot gefärbten Haaren ist eine böse Hexe, das Kind weiß es genau. Sie friert Kuchen in der Truhe ein und das Frieren des Kuchens kitzelt auf der Zunge, wenn man ihn isst. Und auch der Magen, in dem der Kuchen später liegt, beginnt zu frieren. Und die Kälte krabbelt bis hoch ins Herz. Das Kind stellt sich vor, es legt sich zum Kuchen in die Gefriertruhe und atmet weißen Kuchenschnee, durch die einfrierende Kehle.

Der gewölbte Körper der Qualle sieht hohl aus, er hält sich durch eine ungreifbare Hülle zusammen, die das Nichts in sich hineinfrisst und in sich zu einer dichten, glibberigen Masse zusammenpresst. Auch die Brust der Mutter wird langsam ausgehöhlt, von der schwarzen Knolle, die darin wuchert.

Das Kind kann erahnen, wie es sich anfühlt, im Bauch der Qualle zu sein. An der Unterseite ihres hängenden Magenstiels, dem Manubrium, befindet sich ihre Mundöffnung, die gleichzeitig ihr After ist und durch den sie ihr erbeutetes Fressen verschlingt und in den Magenstil würgt. Die Qualle hat kein Gehirn. Ihre Jagdinstinkte sind automatisiert. Die Nesselzellen auf ihren Tentakeln haben stielartige Cnidocil-Fortsätze. Diese stülpen, nach Aufplatzen der Kapsel unter einem Druck von hundertfünfzig Bar, rasend schnell einen Nesselfaden nach Außen. Feine, dünne Giftschläuche, setzen einen Widerhaken in das Gewebe ihrer Beute und injizieren das tödliche Sekret ins fremde Fleisch, pumpen ihr Opfer damit voll. Wie die Knolle. Auch sie streut ihr Gift ins Fleisch der Mutter. Und dann frisst die schwarze Knolle das vergiftete Fleisch auf, bis sie satt ist. Aber die Knolle wird nicht satt. Sie gräbt sich in die Brust der Mutter und wuchert darin mit ihren giftigen Fäden. Auch wenn man die Knolle herausgeschnitten hat, wachsen die Fäden in der Brust der Mutter weiter fort.

Unter Wasser beginnen die Haare der schwebenden Wasserbrust zart zu leuchten. Die Fäden schimmern hell, silbrig und bewegen sich im Rhythmus der Qualle, die mit ihrem runden, transparenten Körper und den flatternden Fadenhaaren lautlos durch die Tiefe schwebt. Sie wird fast unsichtbar im Wasser, sie ist perfekt getarnt. Das Kind denkt an die leergesaugte Brust der Mutter. Brusthülse. Sie wird nie wieder voll sein, voluminös wie Quallenfleisch. Das Kind drückt seine Finger an die Scheibe des Aquariums und malt die Bewegungen der Qualle nach. Es bilden sich Schmierlinien auf dem Glas. Das Kind denkt, wenn es die Qualle sieht, an eine schwimmende Silikonbrust. Es möchte sie aus dem Aquarium fischen und der Mutter an die kahle Stelle auf ihrer Brust legen.

Die Qualle schläft nie. Sie treibt mal regungslos durchs Wasser, dann lässt sie wieder eine Welle durch ihren Bauchkranz fahren und stößt sich ruckartig vorwärts. Der Schirm der Qualle wird von einem Ringmuskel zusammengezogen und ihr verformter Körper wird anschließend von der Stützschicht, die zwischen Außen- und Innenhaut liegt, wieder glatt gezogen und breitet sich zu einer faltenfreien, homogenen Masse aus. Dabei gleitet die Qualle lautlos durchs Wasser. Die Flüssigkeit, in der sie schwimmt, sieht in der Nacht fast schwarz aus, so dunkel ist es im Zimmer und das Aquarium verliert im Raum seine Konturen. Der pulsierende Quallenkörper pumpt sich vorwärts und dreht sich dabei immer wieder im Kreis. Das Kind schaut ihm zu, wie er bis zur unsichtbaren Grenze an der Wasseroberfläche vordringt und dann erschrocken wieder zurück nach unten treibt. Der Quallenkörper, der immer wieder zwischen dem Schwarz verschwindet, leuchtet milchig weiß durch die Scheiben des Aquariums. Er schwebt als Mond durch das Kinderzimmer.

Manchmal steht das Kind, wenn es nachts nicht schlafen kann, auf und geht zum Aquarium. Es greift mit der Hand ins Wasser. Der glibberige Quallenkörper glitscht durch die Kinderhand und die Hand hat Mühe, das Tier fassen zu bekommen. Wenn die Qualle dem Kind durch die Finger gleitet, greift es zu und quetscht die durchsichtige Fleischmasse mit der Faust zusammen, damit die Qualle nicht mehr entwischen kann. Dann hebt das Kind den kleinen Körper für einen kurzen Moment aus dem Wasserbecken. Als es Angst bekommt, die Qualle könnte sterben, lässt das Kind sie wieder ins Wasser plumpsen. Dabei stellt es sich vor, wie es sich mit dem kleinen, nassen Körper ins Bett legt, stellt sich vor, es presst die kalte Glibschkugel auf seinen Bauch und atmet ein und atmet aus.

Der Kuchen schmeckt nie. Er kommt nämlich aus der großen Tiefkühltruhe der Tante mit den rot gefärbten Haaren und ist kalt. Alle sagen, er wäre lecker. Das Kind sagt nichts.

Die Qualle hat keine Stimme. Sie ist stumm.

 

Valeska Stach

 

 

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14 | Valeska Stach

Der Mann mit der Falte

Ich sehe ihn aus dem Hauseingang stolpern und die Straße hinuntereilen. Am Abend würde ich ihn vielleicht wieder mit einem Buch auf dem Sofa sitzen sehen, durch die nur halb zugezogene Gardine, oder am Küchentisch mit einer Zigarette. Und einem Glas Wein. Oder beidem. Er würde traurig aussehen, wie immer, wenn ich ihn am Tisch oder auf dem Sofa sitzen sehe. Nur wenn er aus dem Haus eilt und die Straße hinunter zur U-Bahn oder zum Späti an der Ecke läuft, da sieht er nicht mehr ganz so traurig aus.

Er sagt, er wolle keine Beziehung, er habe dafür gerade keinen Platz im Leben. Ja, und ich, ich habe keinen Platz in meinem Bett, denke ich und tippe mit dem Fuß immer wieder gegen das Stuhlbein. Er lacht. Wieso ich denn eine Beziehung wolle, mein Leben sei doch gar nicht dafür eingerichtet. Ich würde doch auch viel herumreisen wollen. Das könne man auch mit Kindern, sage ich und weiß nicht, ob ich mir selber glauben soll. Ich gebe ihm eine Kopfmassage und er stöhnt ein paar Mal zu viel dabei. Sein Blick ist auf die Ecke mit der Falte in der Wand gerichtet. Ich sage, das sei eine Therapie und später, dass wir heute Abend keinen Sex haben werden. Er sagt, das sei gut zu wissen und will dann plötzlich schlafen gehen. Ich gehe nach Hause und stelle mir vor, dass gar kein Platz in seinem Bett ist für zwei Körper. Dass einer immer halb von der Matratze rutscht. Das Bett ist bestimmt genauso schräg wie die Wand mit der Falte. Am nächsten Morgen bedankt er sich für die gemeinsame Nacht und ich frage mich, warum er dabei den Betreff der E-Mail so rätselhaft kryptisch formuliert. Meine Freundin fände er auch gut, sagt er. Bei ihr versucht er es später bestimmt auch noch.

Der Mann mit der Falte in der Wand ist auch der Mann mit den Haaren. So nennen sie ihn. Diejenigen ohne Haare, oder die, mit nur wenig Haaren. Man kann die Hand in seine Haare stecken und sie verschwindet darin. So voll sind sie. Blond. Gewellt. Weich. Wie Wüstensand. Sie hassen ihn dafür, sagt er und lächelt.

Der Mann mit den Haaren mag keine Badewannen, zumindest fehle ihm nichts ohne Badewanne. Man könne auch einfach monatlich in die Sauna, ins Dampfbad oder ins Salzbad gehen. Ich stelle mir vor, wie er nackt auf einer Holzbank sitzt und die Hitze einatmet. Und dass er sich dabei fühlt wie in der Wüste. Das ist kitschig. Der Mann mit den Haaren, die aussehen wie Wüstensand, hat einen Hang zum Kitsch in meinem Kopf. Ich entschuldige mich, dass ich zu spät bin. Er antwortet, „nicht schlimm“ und ich könne ihm ja mal wieder eine Kopfmassage geben.

Der Mann mit der Falte in der Wand hat spontan Zeit für ein Abendessen. Oder Kuscheln, zu dritt, wie er schreibt. Sorry, Missverständnis, meine Freundin ist gerade im Urlaub. Aus dem Abendessen wird ein Kaffeetrinken. Wir sitzen wieder an der Straße, an der Ecke, an der die Tram vorbeifährt und laut neben den Tischen um die Kurve biegt. Ich löffle Milchschaum aus meinem Kaffeeglas und schaue ihn von der Seite an. Ich erzähle ihm, dass ich wisse, was Kuscheln für ein Synonym für ihn sei, dass ich das eingetragen habe, in mein Wörterbuch, damals. Er lacht. Tatsächlich. Das hatte er vergessen. Ach so, nein, das hätte er nicht gemeint. Aber es sei auch keine schlechte Idee. Er meine nur, wir müssten üben, falls es im Winter keine Heizung mehr gibt.

Ich stelle mir vor, wie der Mann mit der Falte in der Wand Pizzateig ausrollt und wie sich dabei immer wieder eine Falte in der Fläche abzeichnet, auf dem Teig, der beim Plattdrücken unter der Küchenrolle weg knickt, sich an einer Stelle überlappt und so eine kleine linienartige, aber plastische Erhöhung in der sonst glatten Masse abbildet. Der Mann mit der Falte in der Wand drückt die Falte im Teig nach unten, aber sie bleibt dennoch sichtbar, bäumt sich auf, schnellt nach oben, lässt sich nicht wegretuschieren. Er rollt mit dem Nudelholz erneut über die Stelle, aber die Falte bleibt im Teig. Tief in die Oberfläche hineingedrückt wirkt sie noch fester, noch unbeweglicher, noch unvermeidbarer.
Die Falte im Pizzateig ist nach dem Backen knusprig und kracht im Mund.

Der Mann mit der Falte in der Wand hat spontan Zeit für ein Mittagessen. „Es ist warm“, sage ich und wir sitzen draußen, wo neben uns wieder eine Straßenbahn vorbeifährt. Nicht nur die Straßenbahn fährt an uns vorbei, Menschen auf Lastenrädern und normalen Fahrrädern fahren an dem Tisch, an dem wir sitzen, vorbei. Und sie winken uns. Oder vielmehr winken sie ihm, dem Mann mit den Haaren und er winkt zurück und die Haare wippen dabei kurz, die Haare, in die man die Hand hineinstecken und verschwinden lassen kann. Der Mann mit den Haaren erzählt mir von der Frau, die er seit zwei Monaten trifft. Dass sie darüber nachdenken, zusammenzuziehen, darüber nachdenken, Kinder zu bekommen. Das ging schnell, sage ich. Dabei führe ich dünne, mit saurer Salatsoße benetzte Mangostreifen zu meinem Mund und sauge sie ein. Wir bekommen von der Bedienung zwei Schokoladenherzen geschenkt. Sie sind in rote Aluminiumfolie gewickelt. Der Mann mit der Falte isst sein Herz und knüllt das Papier zu einer kleinen Kugel, die er über den Tisch rollt. Ich streiche meines auf dem Tisch glatt und forme ein neues Herz daraus. Das flache, plattgedrückte Herz hat kleine Krisselfalten in der roten, metallenen Oberfläche.

Ich stelle mir vor, wie der Mann mit der Falte versucht, die Falte in seiner Wand wegzubügeln, jeden Abend, vor dem Schlafengehen. Und wie die Falte doch immer wieder aus der Tapete quillt. Ich stelle mir vor, wie er trotzdem immer und immer wieder mit der Hand über die gewellte Fläche fährt, bis sie glatt ist. Für einen Moment.

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Valeska Stach

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