Über das Literarische Quartett und ein literaturkritisches Medienformat Fernsehen
Dass Marcel Reich-Ranicki in der von 1988 bis 2001 ausgestrahlten Literatursendung Literarisches Quartett durch seine Sprachgewalt die Zuschauer immer wieder in seinen Bann zog und er als „Literaturentertainer“ Qualitäten besaß, steht außer Frage. Was aber in Frage gestellt werden darf, ist die Qualität der Literaturkritik, die von einem literaturfernen Medium Fernsehen bzw. dessen Literaturprogramm ausgehen soll.
Doch auf dem Weg vom sublimen Stil der schriftlichen Literaturkritik zur mündlichen Propaganda geht genau jener Bezug zum Gegenstand verloren, der sich romantischer Manier als ein ,Weiterschreiben‘ des Textes versteht, also auch jenes Relief, das ein literarisches Buch jeder gelungenen Kritik indirekt einprägt. - Hubert Winkels
Alleine die Technik und Sendeabwicklung stellen mit Kamera und Studioeinrichtung andere Voraussetzungen an ein literaturkritisches Format. Mit einem Fernsehstudio sind zwar wichtige räumliche und technische Grundlagen erfüllt, aber mit ihm kann auch gleichzeitig das Vorhaben einer literaturkritischen Sendung gefährdet sein. Was bedeutet das Fernsehstudio für eine Literatursendung? Durch die erstmalige Zulassung eines Studiopublikums im Literarischen Quartett am 12.10.1989 wurde die Sendung grundlegend verändert. Durch das Präsenzpublikum wurde die Basis einer typischen Fernsehdiskussion geschaffen, wie sie in den verschiedenen Talkshows im Nachmittagsprogramm der kommerziellen Privatsender zu finden ist. Auch wenn sich das Publikum des Literarischen Quartetts meist nur durch nonverbale Bekundungen äußerte, hatte seine Einführung einen wichtigen Einfluss auf das Verhalten der Quartettmitglieder, die bis dahin nur in einem engen Expertenkreis diskutiert hatten.
Zur Sendung gehörten also die Mitglieder auf der Bühne, das Studio und eben auch das Publikum. Der „Bühnenshow“ stand nichts mehr im Wege. Bourdieu vergleicht diesen Aufbau mit einem Theaterstück, bei dem es Akteure, einen Saal und ein Publikum gibt.[1] Auf eine Bühnenkonstellation verweist auch die Vorhangs-Metapher im Schlusssatz von Ranicki, mit dem stets die Sendung beendet wurde: „Und wieder sehen wir betroffen: den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Das Wetteifern der Akteure um die Gunst des Publikums hatte begonnen. Das Buch wurde zweitrangig. Durch die Exponiertheit vor einem scheinbaren „Live-Publikum“ wurde eine künstliche Konkurrenzsituation geschaffen. Weitere Komponenten einer Talkshow wurden ins Spiel gebracht: Performance und Durchsetzungsvermögen. Wenn sich Literaturkritik dieser manipulativen und oberflächlichen Mittel bedient, zeugt dies keineswegs von Objektivität. Abgesehen davon, dass der zeitliche Rahmen des Literarischen Quartetts jede Argumentation im Keim erstickte. 15 Minuten waren zur Besprechung eines Buches veranschlagt, d. h. dass ca. 3 bis 4 Minuten für jeden Teilnehmer übrig blieben, um ein Buch zu bewerten. Von argumentativen Standards kann daher kaum die Rede sein, von der Aneinanderreihung simpler Behauptungen schon eher.
Wenn Pressekritik einem deutlichen Bewertungsschema wie beispielsweise formalen, relationalen, inhaltlichen und wirkungsbezogenen Kriterien folgt, so erschöpft sich die Fernsehkritik in den letzten beiden Bewertungsrichtlinien. Emily Hussel untersuchte die gesamten Ausgaben des Literarischen Quartetts von 1996 und kam zum Ergebnis:
„dass nur 25,3 Prozent der gesamten Sendezeit für Wertung aufgebraucht wurden. Die meiste Zeit wurde für die Darstellung des Buchinhalts (32,6 %) sowie für allgemeine Diskussion und Moderation (32,2 %) verwendet.“[2]
Inhaltsangaben scheinen ein wichtiger Bestandteil der Sendung gewesen zu sein. Es wurde zwar gewertet, aber die Wertung war weniger wichtig als die Anmoderation. An diesem Punkt stellt sich die Frage der Qualität der Literaturkritik, die von einem Medium Fernsehen ausgeht. Reine Inhaltsangaben als Literaturkritik erinnern eher an erste Schreibversuche von Rezensionen in der Schule. Dieses Verhältnis zeigt aber damit deutlich: „Wer Literatur im Fernsehen propagiert, der tut es gezwungenermaßen nach den Regeln des Mediums“.[3] Die Regel ist das Fernsehpublikum, das von Zuhause aus die Sendung verfolgt. Der durchschnittliche Zuschauer verfügt nur über ein geringes Vorwissen. Literatursendungen kommen allgemein nur auf kümmerliche Quoten. Eine tiefergehende Diskussion würde somit zum Quoten-Exitus der Sendung führen. Wenn es das literarische Quartett nicht zustande brachte, Literatur auf mehreren Ebenen zu besprechen und die persönliche Gesprächsebene die Sendung immer wieder dominierte – der Showdown vom 30. Juni 2000 zwischen Ranicki und Löffler kann hier als Höhepunkt gesehen werden –, ist die Frage berechtigt, welche Aufgabe dem Literarischen Quartett überhaupt zukommt? Warum wird diese Sendung 13 Jahre lang ausgestrahlt, wenn sie nicht das ist, was sie eigentlich sein sollte, eine qualitative Literatursendung an sich?
Die Antwort liefert ein Begriff der Fernsehindustrie. Er ist die Voraussetzung für fast jedes Programm, er ist nicht eine Ausnahme und er stellt geradezu die Regel dar, wenn es darum geht, ob eine Sendung steht oder fällt. Es handelt sich um den Begriff „Unterhaltung“. Er stellt das Primat der Industrie dar. An ihm kann auch das staatliche Fernsehen nicht vorbei. Unterhaltung ist eine wichtige Komponente für das Literarische Quartett und sichert u. a. sein Fortbestehen. Dazu gehören Witz und Komik. Die Lacher gehen meist zu Lasten eines anderen Quartettmitglieds. Neben der Komik sorgen auch spannungsgeladene Gespräche zwischen den Quartettmitgliedern für Unterhaltung. Für das Fernsehen steht weiters fest, dass der Erregungszustand bessere Einschaltquoten als das Argument bringt. Und wenn Marcel Reich-Ranicki wieder einmal in einer Sendung mit seinen Händen in die Höhe fuhr, um eine Aussage seines begleitenden Trios mit Dramatik zu beanstanden, hatte er seine Aufgabe erfolgreich erfüllt.
Gibt es nun Literaturkritik im Fernsehen? Um diese Frage abschließend zu beantworten, lässt man am besten denjenigen zu Wort kommen, der damit reichlich Erfahrung gemacht hat. Marcel Reich-Ranicki moderiete das Literarische Quartett 13 Jahre lang, bis es auf seinen Wunsch hin eingestellt wurde. Er bekannte: „Das Fernsehen […] hat mit Literatur nichts zu tun, aber auch gar nichts zu tun. Es ist ein Massenmedium, das zur Verdummung des Menschen führt und zu einer Kritiklosigkeit, die ihresgleichen in der abendländischen Geschichte sucht.“[4] Nicht zu vergessen: „Gibt es im ‚Quartett’ ordentliche Analysen literarischer Werke? Nein, niemals. Wird hier vereinfacht? Unentwegt. Ist das Ergebnis oberflächlich? Es ist sogar sehr oberflächlich.“[5] Warum das alles? Warum das Medium Fernsehen für Literaturkritik verwenden? Warum seinen Ruf als Literaturkritiker riskieren? „Doch was ich in meinem langen Kritikerleben wollte und was mir nie ganz gelungen ist, was ich nie ganz geschafft habe – die breite öffentliche Wirkung auf das Publikum –, das hat mir das Fernsehen ermöglicht.“[6]
Dominik Obermaier
Literatur
Bourdieu, Pierre: Über das Fernsehen. Aus dem Französischem von Achim Russer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998.
Hartmann, Rainer: Literaturkritik im literaturfernen Medium Fernsehen. Literaturvermittlung im Spannungsfeld zwischen kritischem Anspruch und TV-Realität am Beispiel des „Literarischen Quartetts“ mit Marcel Reich-Ranicki. Marburg: LiteraturWissenschaft.de 2011.
Reich-Ranicki: Mein Leben. München: dtv 2003.
Mühlfeld, Emily: Literaturkritik im Fernsehen. Wien/Münster: LIT 2006.
Schwens-Harant, Brigitte: Literaturkritik. Eine Suche. Innsbruck: Studienverlag 2008.
Winkels, Hubert: Leselust und Bildermacht. Über Literatur, Fernsehen und neue Medien. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1997.
[1] Vgl. Mühlfeld, 2006, S. 190. [2] Mühlfeld, 2006, S. 195. [3] Hartmann, 2011, S. 94. [4] Zit. n. Olga Kuhlbrodt: Quote statt Niveau?. http://journalistik-journal.lookingintomedia.com/?p=506 (Stand 08.05.2015). [5] Reich-Ranicki, 2003, S. 538. [6] Ebd. 539.
Vermarktet und verwurstet
„Wir sind Wurst!“ könnte die Kronen Zeitung morgen auf die Titelseite schreiben. Weil „Österreich“ hat ja gewonnen. Viel Schelte gab es im Vorfeld, die wahre Kontroverse findet wohl gerade erst statt. Man kann von Conchita, ihrer musikalischen Leistung, ihrer PR und ihrer Einstellung zu Sexualität halten, was man möchte, die Berichterstatter sind sich einig: Eine Kunstfigur hat gewonnen. Doch was ist das eigentlich, eine Kunstfigur?