15 | Jens Röhling
Schnee
Ich habe Pfeifen aus Weidenästen geschnitten
habe Brücken und Dämme gebaut
bin über Gräben gesprungen
habe auf Blumenwiesen getanzt
ohne Angst vor Zecken
Ich habe Spielkarten gegen Fahrradspeichen schlagen lassen
und bin damit durch die Siedlung gefahren
Bin über Baustellen geschlichen
und habe einen Hammer geklaut
der unachtsam im Kellergeschoss vergessen gewesen
Bin von Bäumen gefallen
und in Brennnesseln
mit Loch im Kopf beim Arzt gesessen
und doch wieder heraufgeklettert
Und all das habe ich vergessen
Ich habe Bier getrunken
das achtlos am Kiosk verkauft
und Grashalme geraucht
Salpeter mit Zucker vermischt und
im Erdhügel brennen lassen, dass es schien wie ein Vulkan
Ich bin heimlich auf dem Güterzug mitgefahren
und habe mich von meinen Eltern wieder abholen lassen
zweihundert Kilometer entfernt
Ich habe einen Bergbach gestaut, der drei Tage
danach bei Unwetter über die Ufer getreten ist
und die Straße weggespült hat, auf der ich
5 Minuten zuvor noch gefahren bin
und mich lange gefragt, ob es meine Schuld war.
Und all das habe ich vergessen
Ich bin in der Dunkelheit durch glitzernde Wellen geschwommen
nackt, mit den anderen, die ich seit zwei Stunden kannte
habe mit dem Mädchen geschlafen am Strand
das mich in die Arme geschlossen und geküsst hat
bis wir untergingen
und weiter
durch den Sand gewälzt, dass wir wie panierte Backfische
glücklich nebeneinander lagen
um uns ein letztes Mal in die Augen zu schauen
und uns nie wieder zu sehen
Ich bin stehen gelassen worden wegen einer Runde Schnaps
und saß lange enttäuscht in Dünen
bis zum Morgengrauen einsam sehnend
nach diesen grünen Augen.
Und all das habe ich vergessen
Nach und nach hat sich meine Sprache verloren
Worte abgetrennt wie Gliedmaßen
zunächst nur die Nägel
in mechanischer Geste, gar nicht wahrnehmend
dann Fingerkuppen, Unterarme
jetzt schmerzhaft aber unausweichlich
Bis zuletzt nur ein Torso aus Pragmatik
ganz zu Staub zerfiel
die Asche verwehend
um die Frage nach mir
im Raum stehen zu lassen
Ich greife in den dreckigen Schnee
knete daraus einen Ball
und werfe ihn gegen das Schild am Straßenrand
Ich treffe nicht
und weiß doch noch, wie es war.
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Jens Röhling
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Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
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