8 | Martina Berscheid

Deadline

Arnes Bett knarrt leise, als er sich aufsetzt. Er schlüpft in seine Hausschuhe, sie quietschen auf den Fliesen. Ich zähle die Schritte, die sich vom Bett entfernen. Acht.

Als Arne die Tür schließt, atme ich auf. Drehe mich auf den Rücken. Starre an die Decke, als stünde dort geschrieben, was ich tun soll.

Endlich rapple ich mich auf. Ich muss es hinter mich bringen, bevor er das Haus verlässt.

Ich ziehe mich hastig an, gehe die Treppe runter, den Geräuschen aus der Küche entgegen. Arnes Summen zur Radiomusik. Dem Pfeifen des Kessels. Dem Schmatzen der Kühlschranktür.

Arne lächelt mir entgegen, als ich die Küche betrete. „Bist ja schon wach. Hab ich dich geweckt?“

Er kommt auf mich zu, streicht mir eine Haarsträhne aus der Stirn. Nach zehn Jahren bringt er mir noch immer eine Zärtlichkeit entgegen, als wären wir erst kurz zusammen.

Das macht es noch schwerer.

Er sieht frisch aus, dafür, dass er erst um zwei Uhr ins Bett gekommen ist. Sein Gesicht spiegelt Zufriedenheit.
Ein Kälteschauer huscht mir über den Rücken.
Ich schüttele den Kopf. Wortlos fällt mir das Lügen leichter.
Er dreht sich um, holt eine Tasse aus dem Schrank, die er mir zum Nikolaustag geschenkt hat. Lieblingsmensch steht darauf.

Er gießt Kaffee ein und reicht mir die Tasse. Ich achte darauf, dass sich unsere Finger nicht berühren. Damit er nicht merkt, wie kalt meine Hände sind.

Ich zucke zusammen, als zwei Brotscheiben aus dem Toaster springen. Arne nimmt sie heraus, legt sie auf einen Teller. Er hat wie immer für mich mit gedeckt. Obst geschnitten, das ich morgens gerne esse. Zwei Kerzen auf dem Adventskranz angezündet.
Er ist ein guter Mann.

Der schlechte Dinge tut.
Ich schlucke schwer an der Wahrheit. Trinke Kaffee, als könnte ich sie in den Magen spülen, wo sie sich zersetzt, in besser verdauliche Bestandteile.

Arne dreht sich um. Sein Lächeln verrutscht. Er sieht mir an, wenn etwas nicht stimmt.
„Mach dir keine Sorgen. Du kriegst das hin!“
Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich verstehe, dass er die Deadline eines Artikels meint, den ich heute abgeben muss. Ich nicke und trinke einen weiteren Schluck.
„Setz dich doch.“ Er deutet auf den Stuhl ihm gegenüber. Sein Lächeln verströmt Wärme.

Sie verfliegt auf dem Weg zu mir.

Ich nehme Platz. Sehe ihm zu, wie er Margarine auf eine Toastscheibe schmiert, einen Klecks Orangenmarmelade darauf verteilt.
„Du wirst sehen, dein Chef wird begeistert sein.“
Er redet immer noch von dem Artikel.

Ich schaue zur Küchenuhr. In zwanzig Minuten muss er los. Wenn ich es jetzt nicht anspreche, muss ich warten, bis er nach seiner Arbeit nach Hause kommt.

Aber ich höre mich sagen: „Wann bist du heute Abend da?“

Er zögert. Was ihn verrät, ist sein Blinzeln.
„Kann spät werden. Ich wollte noch Buchhaltung machen.“
Bist du sicher?, will ich ihn fragen. Oder willst du wieder mit einer Fackel in der Hand vor den Häusern unbescholtener Menschen Parolen skandieren? Brüllen, dass sie nicht in dieses Land gehören?
Seit wann denkst du so?, will ich ihn fragen. Wieso habe ich das nicht gemerkt, wer hat dir das eingeflüstert, einer deiner schwarz gekleideten Kumpanen? Woher kennst du die?

Hast du geglaubt, ich werde nicht misstrauisch, wenn du plötzlich ständig länger arbeiten musst, obwohl im Geschäft so wenig los ist? Bist du nie auf die Idee gekommen, ich könnte dir nachgehen, und sehen, mit welchen Leuten du dich triffst? Hören, welche Worte ihr brüllt, die an eurem Hass keinen Zweifel lassen?
Ich öffne den Mund, aber keins der Worte schafft es nach draußen. Sie prallen gegen eine unsichtbare Wand, wo sie sich auftürmen, und ich schlucke und schlucke, bis mir der Kaffee hochkommt.

Ich springe auf, stürze aus der Küche ins Gäste-WC und spucke braune Brühe ins Waschbecken.
„Isabelle? Alles in Ordnung?“

Arne steht im Flur. Ich spüre seine Anwesenheit durch den Spalt der Tür. Muss erneut würgen.
„Hey.“
Er kommt herein. Der Raum ist zu klein für uns beide. Vielleicht nur dieser, vielleicht auch unser Beziehungsraum.
Er fasst mich an der Schulter, dreht den Wasserhahn auf. Mit einem Waschlappen fährt er mir über die Stirn, über den Mund. Dann drückt er mich an sich.

Er riecht gut, wir er immer gerochen hat, nach einer frisch geheizten Backstube, das habe ich tatsächlich mal gedacht.
Er ist derselbe Mensch.

Er ist mir vertraut.
Er ist mir fremd.

„Du hast immer brillante Texte abgeliefert. Auch der wird brillant sein. Ich fahre jetzt, und du kannst in Ruhe arbeiten und die Deadline einhalten. Okay?“
Ich sehe ihn an, sehe an ihm vorbei. Sehe dem Zeitpunkt nach, dem richtigen, wie er verstreicht, sich in meiner Sprachlosigkeit auflöst.

Arne führt mich in die Küche, kocht Tee, die Tasse ist schlicht, weiß, unbeschriftet.

„Bis heute Abend.“ Er lächelt, er küsst mich.

Wie jeden Tag.
„Bis heute Abend“, antworte ich und stelle die Tasse auf den Tisch.

.

Martina Berscheid

.

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at

06 | Martina Berscheid

Bevor alles verschwindet

Papa wartet schon vor der Haustür. Mein Herz schlägt schnell, wie immer, wenn ich ihn besuche. Ich atme tief durch. Steige aus dem Wagen, nehme die Kuchenschachtel vom Beifahrersitz.

Das Gras im Vorgarten ist von Reif überzogen. Eine graue Wolkendecke verhängt den Himmel. In zwei Wochen ist Weihnachten und meine Töchter wünschen sich Schnee.

Ich hingegen hoffe auf einen warmen Winter. Mir graust bei der Vorstellung, Papa könnte die glatte Vortreppe hinunterstürzen.

Papa tapst mir entgegen. Er ist noch dünner geworden. „Hallo Marlene.“

Seine Umarmung riecht nach saurer Milch. Ich wende den Blick ab vom Schmutzrand, der seinen Hemdkragen einsäumt.

Wie immer erkundigt er sich zuerst nach Uwe und den Mädchen, und ich muss ihm versichern, dass es allen bestens geht.

Er nimmt mir den Kuchen ab. „Brauchst dir doch nicht solche Umstände zu machen“, murmelt er, aber ich sehe am Leuchten seiner Augen, wie sehr er sich freut. Auch wenn es meine Backkünste bei Weitem nicht mit denen meiner Mutter aufnehmen können.

Im Flur riecht es nach nasser Wolle. Ich stelle ein umgestürztes Paar verdreckter Gummistiefel auf, gehe in die Küche und unterdrücke ein Seufzen. In der Spüle stapelt sich Geschirr, der Herd ist übersät mit Soßenspritzern, der Boden fleckig. Aus dem Mülleimer hängt eine Bananenschale wie eine ausgestreckte Zunge.

Als ich das letzte Mal anbot sauberzumachen, wurde Papa wütend. Auch von einer Putzhilfe wollte er nichts wissen. Seitdem schwelt das Thema zwischen uns, und beide haben wir Angst, dass es erneut aufflammt und wir uns daran verbrennen.

Ich öffne den Kühlschrank, wo ein Stück Käse und zwei Möhren vereinsamen, und stelle den Topf mit Suppe hinein, die ich ihm vorgekocht habe.

Im Küchenschrank finde ich löslichen Kaffee und glücklicherweise noch sauberes Geschirr. Ich setze Wasser auf, schütte Kaffee in die Tassen und hole den Kuchen aus der Form.

Die Eckbank quietscht, als Papa sich setzt.

„Ach Marlenchen“, seufzt er. „Gedeckter Apfel.“

Er strahlt mich an, und ich streiche ihm über den Handrücken.

Der Kessel pfeift, ich gieße Wasser in die Tassen. Aus meiner Tasche hole ich eine Packung H-Milch. Fehlen nur noch die Gabeln.

Die Besteckschublade ist leer. Ich ziehe ein Schubfach nach dem anderen auf, irgendwo werden doch noch zwei saubere Gabeln sein.

„Lass doch, Marlene. Essen wir den Kuchen halt auf der Hand.“

Ich reiße die letzte Schublade auf. Und erstarre.

Statt Besteck finde ich ein Schreibheft. Mamas Name steht darauf. In ihrer Handschrift. Ich nehme es heraus, halte es hoch.

„Was ist das?“

Papa senkt den Kopf. „Ich hab es vor ein paar Wochen da drin gefunden.“

Ich setze mich zu ihm an den Tisch. Schlage das Heft auf.

Bevor alles verschwindet.

Ich muss schlucken und lese trotzdem weiter.

Heute war Marlene mit den Mädchen da, Lisa und Alina. Das weiß ich nur, weil Marlene sie so angesprochen hat: Lisa und Alina, zeigt mal der Oma, was wir ihr mitgebracht haben.

Ich hatte ihre Namen vergessen. Dabei sind sie so schön.

Ich erinnere mich an jenen Nachmittag, weil es da anfing. Sehe meine Mutter vor mir, wie sie da saß, den Blick auf ihre Enkelinnen gerichtet. Ein Blick wie eine offene Wunde. Weil sie ahnte, dass ihr Geist zerfallen würde.

Ich blättere weiter, lese quer. Alltagsbeschreibungen und Eindrücke. Ein herrlicher Herbsttag. Himbeertorte! In dem Stil. Von Seite zu Seite wird die Schrift krakeliger. Wörter weichen Zickzacklinien und werden durch hilflose Umschreibungen ersetzt: roter Baum statt Ahorn.

Später klaffen ganze Lücken in den Zeilen. Irgendwann hat Mama mitten im Satz abgebrochen. Die Leere, die dahinter gähnt, offenbart ihre ganze Verzweiflung über das zunehmende Nichts in ihrem Kopf.

Die Trauer schlägt mich mit voller Wucht. Ich schließe die Augen, aber die Tränen kommen trotzdem.

Plötzlich fühle ich Papas Hand auf meiner Schulter.

„Ich konnte es nicht wegwerfen“.

Seine Stimme vibriert.

Mit Hingabe hatte sich Papa, obwohl er gerade einen Schlaganfall überwunden hatte, an der Betreuung meiner Mutter beteiligt. Seit ihrem Tod schwindet ihm die Kraft.

Seine Hände zittern.

„Komm, wir essen Kuchen“, schlage ich vor. „Ich habe ihn nach ihrem Rezept gebacken.“

Er nickt, als wäre das ein Trost. Wir essen mit den Händen.

„Sie fehlt mir so, Marlene.“ Die Worte rieseln leise aus seinem Mund.

„Papa. Möchtest du nicht doch zu uns ziehen?“

„Nein.“

Mit dem Zeigefinger schiebt er ein paar Krümel auf dem Teller hin und her. „Ist lieb von euch, aber … Manchmal bilde ich mir ein, sie ist noch da. Dann hör ich ihr Lachen, ihre schnellen Schritte.“

Ich lege meine Hand in seine. Seine Haut ist rau, übersät mit hornigen Zähnchen. Sie verhaken sich in meiner Handfläche, als wollten sie verhindern, dass wir uns voneinander lösen.

„Dann komm wenigstens über Weihnachten. Bitte, Papa.“

Er wiegt den Kopf hin und her.

Plötzlich fallen mir die Sterne aus Goldpapier ein, die meine Töchter für ihn gebastelt haben. Ich ziehe sie aus der Tasche.

„Ach.“ Seine Finger streichen über die krummen Zacken, sein Blick driftet weg, zu einer Erinnerung, vielleicht daran, wie meine Mutter zur Weihnachtszeit das Haus schmückte, mit Tannenzweigen und Strohsternen, Kerzen vor den Fenstern.

„Na gut.“ Er räuspert sich. „Aber jetzt musst du zu deiner Familie.“

Er hat recht. Draußen dämmert es schon. Er steht auf, taumelt, und ich packe ihn gerade noch rechtzeitig. Er sieht mich an, und seine Augen spiegeln meine Furcht: vor dem Tag, an dem er stürzen und ich ihn hier leblos finden werde.

„Bis nächste Woche.“

Papa umarmt mich, wir halten uns ein paar Sekunden.

Wie immer schließt er hinter mir ab. Ich weiß, dass er mir durch das Glas der Haustür nachschaut, bis mein Wagen hinter der nächsten Kurve aus seinem Sichtfeld verschwindet.

 

Martina Berscheid

 

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at