Wolkenbruch
Und vielleicht hätte ich doch lieber heimfahren sollen, denke ich mir zögerlich, als ich um Punkt drei Uhr nachts erwache und im Takt der prasselnden Desorientierung um Luft ringe. Stickig ist es hier im Zimmer, und heiß, so unendlich heiß, als ob man sich erst einmal mit scharfen Messern bewaffnet hindurchkämpfen müsste, um wieder Klarheit in seine Gedankengänge zu bringen. Luft, Gedanken und Angst, mehr ist es eigentlich nicht. Ja, Angst, um sie nun endlich zu nennen, und nicht etwa Furcht, denn diese augenblickliche Emotion ist durch nichts und niemanden begründbar.
Draußen herrscht gerade frühsommerlicher Weltuntergang, die Blitze jagen sich gegenseitig hinter dahinrasenden Wolkenfetzen, und Sturmregen lässt die Grenzen zum Hagel mit jedem leisen Knall auf dem Blechdach ein bisschen mehr verschwimmen. Aber das allein ist noch längst kein Grund für meinen jämmerlichen Zustand. Ich weiß ganz genau, dass es wieder mal eine von diesen Panikattacken ist, dass ich um Himmels willen Ruhe bewahren und meinen Atem nicht gewaltsam unter Kontrolle bringen soll. Mein Hirn ist nämlich längst nicht so klug, wie es manchmal tut, und gaukelt mir die furchtbarsten Szenen vor, die ich an dieser Stelle lieber nicht beschreibe, um nicht ein weiteres Mal hineingezogen zu werden in diese düstere Welt des zitternden Konjunktivs. Genauer gesagt ist es dumm, unendlich dumm, nimmt sich Monat um Monat viel zu viel vor und beginnt mich mit Szenen wie der jetzigen zu bombardieren, sobald es merkt, dass das alles vielleicht doch ein bisschen zu anmaßend war.
Ach Victoria, mit mir ist so vieles nicht in Ordnung. Kannst du eigentlich schlafen, drüben auf der anderen Uferseite, inmitten all des Getoses und unnötig hallenden Lärms? Natürlich würde ich es dir wünschen, aber irgendwo ist dann doch auch immer die egoistische Hoffnung, nicht allein zu sein mit meiner angstvollen Bewusstheit der Dinge.
Zu Hause wäre mir das nicht passiert, hält mir der vernünftige Teil meines Ichs wieder vor, und ich ziehe die Möglichkeit in Betracht, dass du vielleicht doch auch schon heimgefahren bist. In deine kleine Welt des Vertrauten, wie auch ich eine solche kenne, Bann und Erholung zugleich, vorhersehbar in ihrer Beschränktheit und doch vor allem auch Rückzugsgebiet, wenn die peitschenden Kleinstadtwellen über dir zusammenzuschlagen scheinen. Nein, ich weiß nicht wirklich, wovon ich rede. Wie denn auch, sind mir so lange Ansprachen in der zweiten Person Singular doch eher fremd, und ich kann eigentlich nichts weiter behaupten außer der Tatsache, dass dein leerer Stuhl neben mir wieder einmal wie ein Mahnmal wirkte. Die Dinge kommen leider zumeist anders, als man es sich erwartet hätte. Aus logischer Hinsicht ist das völlig einleuchtend, denn wenn man all seine Hoffnung in genau einen von zigtausend möglichen Ausgängen setzt, kann es eigentlich nur schiefgehen.
Nun gut, ich werde nicht mehr versuchen, mit dem arroganten Elias über nur in meiner Phantasie existente Dichternachlässe zu debattieren, im naiven Glauben, du mögest vielleicht irgendwann doch wieder erscheinen und dich gemeinsam mit uns im ausweglosen Hypothesengewirr verlieren. Es hat schlicht und einfach keinen Sinn. Solche Erkenntnisse sind hart, tun weh, aber nicht so, dass ich es nicht ertragen könnte. Der Mensch hält so vieles aus, vielleicht mit etwas Schlafentzug und gelegentlichen kognitiven Störungen, Trugbildern, unfreiwilligem Gestammel – allein: Er tut es.
Ergo verfüge auch ich über ungeahnte Kräfte, wie etwa jene, trotz völliger Übermüdung um halb vier Uhr nachts Texte wie diesen mit bebenden Fingern auf den Bildschirm zu pinnen. Was nun aber nicht etwa eine hervorstechende prosaische Qualität implizieren sollte, denn wer diesen hier gelesen hat, kennt eigentlich schon all meine Schreiberzeugnisse – weil es ja doch immer nur um dieselbe Sache geht und ich nicht aus meiner Haut herauskann. Aus meinem beschränkten Sichtfeld, das mir Tag um Tag nur die eigene verfahrene Situation vor Augen führt. Manche nennen sie filmreif, aber so weit würde ich nie gehen. Die Leute sehen einfach gern zu, wie man sich plagt. Ich weiß, ich bin eine Person der Fragezeichen, und es ist bei weitem nicht alles so, wie ich es sage, wenngleich das nicht heißt, dass meine Worte nicht wahr wären. Manchmal herrscht bloß Schweigen vor, und mitunter verrate ich mich auch und hoffe, dass es niemand mitbekommt, was bei gedankenlosen Halbsätzen zwischen Tür und Angel ohnehin sehr unwahrscheinlich wäre.
Die Gegenwart wird durch die Vergangenheit geprägt, und Letztere war nun einmal etwas kurios, wie ich es auszudrücken pflege, aber auch das ist schon wieder viel zu konkret und ich sollte lieber den Mund halten. Darauf achten, dass einfach nichts passiert und am Ende des Jahres erleichtert das Schwinden des Damoklesschwerts zur Kenntnis nehmen. Irgendwann einen abenteuerlichen Roman darüber schreiben, falls mir die Worte bis dahin noch nicht abhandengekommen sind. Die Leerstellen füllen, die sich durch kryptische Andeutungen wie diese immer mehr auftun, je lichter die Welt am Horizont nun schon wieder wird.
Aber letztendlich ist alles ja doch so einfach und es lässt sich mit punktgenauer Präzision erkennen, dass mir wieder mal jemand ganz Bestimmter im Kopf herumspukt, nennen wir es: Ein Du. Welches mich nicht mehr loslässt, seitdem ich nach der vermeintlich ersten Begegnung mit voller Wucht gegen eine dieser feuerfesten Glastüren prallte.
Und vielleicht ist das auch schon das Einzige, worum es hier geht.
Claudia Kraml
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