katzenjammer

Jeden Morgen fordert die Lautsprecherstimme in der U-Bahn die Passagiere zu Achtsamkeit auf. Unter ihnen ist auch Nati, ein Mensch, der grundsätzlich vorsichtig ist, sich an Regeln hält, auch wenn sie nur aus Lautsprechern kommen. Doch an diesem Morgen ist sie abgelenkt. Als Strafe dafür schlägt sich ein Ereignis durch den angesagten Spalt zwischen Bahnsteig und U-Bahntür hindurch. Der große Blonde peitscht ihr jetzt deswegen nervös seine Aufgebrachtheit ins verschwommene Gesicht. Immerzu verlangt er nach dem rechtmäßigen Einschreiten Vollzugsbeamter. Um deren Auftreten auf dem Tapet will er sich, in seiner hohen Person, selbst kümmern. Wären die Arme der Exekutive vor Ort erst einmal griffbereit, würde er seine Wahrnehmung in ihre Hände legen. Für den Fall, dass sie, Nati, unter seinem Schutz als Opfer stehend, nicht dazu in der Lage wäre. Das sei natürlich nachvollziehbar (im Wiener Untergrund lebt die Empathie, veranlasst durch oberirdischen Platzmangel). Er verfüge neben dem korrekt verorteten Herzen über einen schneidigen Blick für Gerechtigkeit. Das mache ihn zu einer verlässlichen Augenberichtsquelle, lässt er durchsickern. Alles, aber wirklich alles, habe er bis ins letzte Detail verfolgt! Deswegen, macht er jetzt von seinem Handy und dem Recht auf Zivilcourage Gebrauch und ruft die Polizei. Im rechten Gehörgang des großen Blonden fällt das erste Freitonzeichen mit dem Signalton sich öffnender Türen zusammen.

Dumpfes Geheul, Sirenen gefangen im Nebel Wiens, lassen für einen kurzen Moment den Adrenalinspiegel wieder ansteigen. Die letzten Ausläufer des Stresshormons versammeln sich zu einem kleinen Rinnsal, das er sich von der Stirn wischt. Kein Grund zur Panik, er ist safe. Blaulicht und Folgetonhorn, dafür muss mindestens eine Waffe im Spiel sein. Die Beute in seinen Händen ist außerdem nicht wichtig genug. Nicht für die. Für ihn schon. Vorsichtig öffnet er den Reißverschluss des schwarzen Neoprens. Ganz wie brave Kinder ihre Geschenke an Weihnachten auspacken. Verpackung intakt, Lachen aufgesetzt. Macbook wär nice. Lenovo würds aber auch tun, sonst. Das ist also sein Weihnachtsgeschenk. Ein paar Tage verspätet, aber: immerhin. Es schaudert ihn, er erschrickt beinahe. So ein gaylord ist er doch normalerweise nicht! Mit einem (nun) entschlossenen Handgriff zieht er den Inhalt hervor. Jetzt wird alles anders, sagt er zu sich und dem toten, gefrorenen Kätzchen aus der Laptoptasche.

An einem Tag vor Weihnachten:

Nati sitzt in einem Railjet R160, oder so. Der Zug bahnt sich, den Gleisen entlang, einen Weg vom berglosen Osten in den alpinen Teil Österreichs. Dort liegt ganz in weiß das Dorf, in dem Natis Verwandte schon ihre Ankunft herbeisehnen. Nati stimmt sich ein, der Winter macht es ihr leicht. Sie knabbert an Lebkuchenherzen, während vorweihnachtlicher Schnee seine schönsten Kristalle wehmütig vor die Gleise wirft. Jemand schält eine Orange. Sie rollt sich immer tiefer in das Weiß von draußen und ihre dicke Jacke ein. In diesem Moment glaubt sie an Jesus und nicht daran, dass irgendetwas sie aus diesem wohligen Zustand herausreißen kann.

Eine Grünholzfraktur des Herzens, eine Sternotomie am Ego, daraufhin die Verlegung in die Bundeshauptstadt, von der man sich erstklassige Betreuung, notfalls auch auf private Rechnung, erhoffte. Stattdessen: Heimweh, hinter Entscheidungen herhinkende Zweifel, Krankenstände noch vor Urlaubsanspruch und ungläubige Arbeitsinspektoren. Es war nicht leicht gewesen, das letzte halbe Jahr. Bilder mit Sprüchen zeigten nur vorübergehende Wirkung. Das Heimatkollektiv beschloss daher am Telefon: Nati braucht Aufheiterung langfristiger Natur: ein 8 Wochen altes Kätzchen soll es sein. Das war einfach in der Anschaffung. Die lästige Vorstellung bei einem Kassenarzt ersparte man sich ebenso wie die allfällig damit verbundene Rezeptgebühr. Es lebe die Alternativmedizin, denn: zu verschenken war das tapsige Geschöpf. Übriggebliebener Rest von einem vielversprechenden Wurf. Die passenden Utensilien waren paypal und amazon prime sei Dank schnell gefunden und nur wenig später, kurz nach dem Eintreffen des Therapeutikums, an Ort und Stelle zum Einsatz bereit. Aus Ermangelung an Erfahrung wurde es Kätzchen genannt und am Bauch gestreichelt. Während Kätzchen zuhause bereits sehnlichst auf Frauchen wartet, braucht Nati hingegen noch bis Salzburg, um zu realisieren, was sie vergessen hat.

Stunden später steht jemand an einem Bahnhof in Westösterreich. Es ist ein Verwandter von Nati, vorzugsweise der engste, es kann auch eine Frau sein. Der rücklings eingeparkte PKW stößt Abgaswölkchen die Schlucht hinauf, in der alle westösterreichischen Bahnhöfe liegen. Die Beine vertreten am eisglatten Bahnsteig ungeduldig Kieselsteinchen. Endlich fährt der Railjet mit den im Preis inkludierten Verspätungsminuten am Bahnsteig 1 (es gibt nur 3) ein. Außer einer kurzen, beinahe flüchtigen, Umarmung lässt die Kälte nichts zu. Die kuschelige Autowärme ist großzügiger. Man strahlt sich regelrecht an, gegenseitig. Froh dich zu sehen, froh wieder hier zu sein. Kurze, obligatorische Frage nach der Großstadt. Dabei nimmt man den Namen dieser Hoch- oder Hofburg des Fremden nicht richtig in den Mund. Der verträgt nur ortsübliche Kost. Bevorzugt wird das wiedergekäute Vokabular, am besten von vor drei Generationen. Das kennt man von Hofer: da bin ich mir sicher. Lässt sich auch im Chor gut sagen. Die Themen gehen einem auch nicht aus, es sind ja immer die gleichen. Ansonsten kann man immer noch den Bauernkalender nach dem Wetter in der Zukunft fragen. Doch jetzt ist Nati am Wort und sogleich wird sie überprüft. Ah, was war das? Hab ich mich da etwa verhört? Sind das beklagenswerte Veränderungen im Sprachstatus quo? Nati kooperiert, kennt sie doch diese Sicherheitsmaßnahme bereits von den Telefongesprächen.

Nur wenige Tage nach Weihnachten, wieder zurück im meltingpot Österreichs, wird sie nicht vorsichtig sein, nicht genug. Barbarisch, aber wahr: in einem unvorsichtigen Augenblick in der U-Bahn wird ein Fremder ihr die schwarze Tasche aus den Armen reißen.

Weihnachten ist Weihnachten. Unter einem rücksichtslos herangezüchteten und liebevoll gefällten (das Augenmerk auf den finanziellen Profit zielgerichtet) Nadelbaum versammeln sich Familien. Alte mit aufpolierten Plastikbeißerchen, weniger Alte mit Crocs an den Füßen liegend oder hochsteckfrisiert, Menschen wie Nati. Die aufgeblähten Schnitzelbäuche werden mit Wein, Martini Asti oder sonstigem zweitklassigen Alkohol beruhigt, eventuell After Eight zum ab- oder aufrunden. Kurzum: Überfluss neben einem Eimer Wasser, die Wunderkerzen neben dem Lametta. Better safe than sorry.

Kätzchen geht das Essen aus.

Was folgt ist Silvester. Dinner for one und der Donauwalzer leiten den Beginn der Deadline für vergangene Vorsätze ein. Es wird bei Fondue um Verlängerung angesucht. Dem Antrag wird mit Sektflöten inbrünstig stattgegeben. Man steht bis zum Hals in Euphorie und Winterkleidung am Balkon.

Kätzchen geht das Wasser aus.

Er fragt sich immer und immer wieder, wie die tote Babykatze in die schwarze Tasche kam. Die wildesten Vorstellungen, manche paranoid, manche vielleicht sogar ein wenig lustig, buhlen um seine Aufmerksamkeit. Jemand anderen fragen? Das geht nicht. Will er es überhaupt wissen? Er weiß es nicht. Er weiß nur, er muss aufhören, sich immer und immer wieder dieselbe sinnlose Frage nach diesem beschissenen Warum zu stellen. Eine tote, halbgefrorene Babykatze. Bläulicher Schimmer im weißen Fell, wie Gletschereis. Die Deutungshoheit der moralisch Überlegenen. Das macht ihn so wütend. Geht es nach ihnen, muss er es jetzt schaffen. this is a warnging. pursue your dreams and catch some fame, you fuckup.

needless to say: he failed.

An einem Tag nach Weihnachten:

Natis Herz schlägt wild um sich, bis in die Knochen hinein, als sich der Schlüssel mit einem Knacken im Schloss umdreht. Dann ist es ganz still in der Wohnung, Kätzchens Herztöne lange schon verstummt. Nati findet den kleinen leblosen Körper. Kein schöner Anblick. Sie will ihn gleich beseitigen. Doch wohin mit dem Häufchen Elend? In den Mülleimer? Nein, damit könnte Nati nicht leben. Kätzchen hat eine ordentliche Entsorgung verdient! Auch die Zwischenlagerung bis dahin soll dem Anlass entsprechend sein. Ein schönes Kühlhaus, in dem es friedlich neben Hunden liegen kann, vor denen es sich zu Lebzeiten bestimmt gefürchtet hätte. Das ist es, was Nati dem Kadaver schuldig ist. Und dann eine schöne Zeremonie, vielleicht mit Musik. Bis dahin: Kühlschrank? Aber dorthinein muss Nati doch die mitgebrachten Schüblinge legen. Die Oma hat ihr 5 Stück mitgegeben, rohe. Die muss man kühl lagern. Da hat eine tote Katze daneben nichts verloren. Kühlfach! Da ist der von Nati bei Gott erbetene Geistesblitz! Kätzchens toter Körper schmiegt sich beinahe perfekt in die Mulde neben dem halben Spinatquader. Im Eisschrank, in Natis Wohnung, geht das Licht aus.

Zwar eine halbe Stunde früher als üblich, aber immer noch im Dunkeln, steht Nati am nächsten Morgen auf. Das Tierkrematorium liegt beinah am Weg zum Büro. Um die Schuld bei Kätzchen tilgen zu können, wird sie den kleinen Umweg in Kauf nehmen. Die Suche nach einer passenden Transportmöglichkeit erweist sich zunächst als schwierig. Wie es aber der Zufall (oder wer auch immer) will, findet Nati eine Lösung: die Laptoptasche. Wasserdichter Neoprenstoff, Blickdicht, sogar schwarz. Beinah schön. Liebevoll nimmt Nati die gefrorene Babykatze aus dem Kühlfach und legt sie sachte in ihre vorletzte Ruhestätte. Unter dem Herzen trägt sie Kätzchen davon, hinein in den Untergrund der Stadt Wien, wo jeder (s)eine Fortsetzung finden kann.

Thordis Wolf

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