Adventmosaik_Illus-18 Kopie

An End of a Summer

So this is home now. Vier Vierecke übereinander, fünf Vierecke nebeneinander und das drei Mal pro Gebäude. Drei Gebäude voller Vierecke gibt es, schwankende Treppen führen in geregelten Abständen an den Gebäudewänden hoch, zu den Türen vor den Vierecken. Noch ein Schritt. This is home. Für den Moment. Vielleicht. Ein Glaskobel mit Schreibtisch, Bett und lärmendem Kühlschrank, Energieklasse F. Ein Glaskobel mit Boiler fürs Warmwasser und Dusche fürs Museum. Ein Glaskobel voller Erinnerungsstücke mit sentimentalem Wert, lieblos an die Wand gepappt, und einer spartanischen Küchenzeile dazwischen. Ein Glaskobel, der ein Leben umzingelt. Daneben Glaskobel über Glaskobel voller Gesichter, die den Nachbar-Terraristen fremd bleiben. Glaskobel voller Einzelgänger. Isolation in Massenhaltung.

Von Frühling bis Herbst brennt die Sonne alles nieder und drückt auf die Atemwege der Terraristen, im Winter pfeift der Wind und der Schimmel kriecht an den undichten Ritzen zur Außenwelt hoch. Nur selten verirrt sich ein Glaskobelbewohner auf den Balkon vor dem Terrarium, der so sinnlos ins Nichts hängt wie das Gemächt am Papst. Er streckt dann seine Gliedmaßen von sich und blinzelt verwirrt ins Licht der Sonne.

Alle sind so jung und angetrunken und frustriert. Abends, wenn die Lichter angehen und die flatternden Jalousien-Behelfe die Blicke von außen nicht mehr abwehren können, sieht man die Glaskobelinsassen vor ihren LCD-Bildschirmen sitzen. Blau reflektiert der Schein von ihren nichtssagenden blassen Gesichtern ins Leere, am Wochenende gerne zwei Stunden und 37 Minuten länger als üblich. 3VoL70D13 lautet das Passwort von Glaskobel Nr. 2115, um im WorldWideWeb zu flanieren, das soviel mehr bietet als 20 Quadratmeter grünliches Linoleum mit kalten Wänden drumherum.

Paul

Du wachst auf. Langsam blinzelnd öffnet sich das dunkle Halbrund, das deine Wimpern bildet, und gibt verschlafenes Blau-Grau frei und Pupillen, die nicht in der Lage sind, den frühmorgendlichen Sonnenstrahlen zu trotzen. Du versuchst ein schiefes, rotes Lächeln, das dein Gesicht sekundenlang wie eine Persiflage seiner selbst wirken lässt, und das auf ihres übergeht – strahlend. Wie spät es ist, willst du wissen, fixierst ihre Augen, die deine mit einer beängstigenden Sanftheit liebkosen. Ein flüchtiger Blick auf das schwarz-tickende Ungetüm am Nachttisch neben der leeren Weinflasche, die vor dem Jazzkonzert gestern Abend dran glauben musste. Der Sekundenzeiger kriecht auf die Sieben zu, tickt weiter, weiter. „Halb elf. Lass uns doch noch ein wenig weiterschlafen“, nuschelt sie, vorgebend, ebenfalls gerade erst erwacht zu sein. Die Wahrheit ist jedoch, dass sie kein Auge zugetan hat, sondern dir Stunde um Stunde beim Schlafen zugesehen hat, im fahlen Mondschein, im Licht der aufgehenden Sonne, das durch die Glasfront donnert. Sie schläft nicht. Niemals. Wer schläft, liebt nicht. Wer schläft, könnte aufwachen. Und alleine sein.

Sie weiß, dass du das hasst. Sentimentalität ebenso wie diese voyeuristische Seite an ihr. Doch sie kann nicht anders. Es sind die einzigen Stunden, in denen du ihr gehörst, in denen du ihrer Besessenheit ausgeliefert bist, wehrlos, in denen sie dich mit ihren Gefühlen umzingeln kann, mit ihren Emotionen belagern und darauf hoffen, dass sich die Momente ins Unendliche dehnen und du sie nie mehr verlässt. Eine vergiftete Spindel müsste her. Hundertjähriger Schlaf. Hundert gemeinsame Jahre. Du schnarchst wieder leise vor dich hin, lauter, misstönend. Gebannt starrt sie in das völlig losgelöste Oval deines Gesichts, studiert die leichten, violetten Schatten unter deinen Augen, die dunkel sprießenden Bartstoppeln auf deinem Kinn, deinen Wangen, deinem Hals, die kleine, verblasste Narbe oberhalb deiner Lippen. Saugt die Wärme, die von deinem schlafenden, volltrunkenen Leib ausgeht, in ihr Innerstes auf. Popelt in ihren schwammig-verworrenen Gedanken, während der Kühlschrank surrend sein Tagwerk beginnt.

Wenn du nur ein bisschen weniger egoistisch wärst, würdest du sie lieben. Wenn du nur ein bisschen weniger egoistisch wärst, würde sie dich ein bisschen weniger vergöttern, wäre vielleicht ein bisschen weniger kaputt, ein bisschen weniger genial, ein bisschen weniger hypnotisierend. Es ist deine Ignoranz, die ihren Schöpfergeist nährt. Es sind ihre traurigen Hundeaugen, die ihr Kapital sind. Und ihre Traurigkeit hat sie dir zu verdanken.

Ihre Hand streicht über deine Stirn, sanft, klebrig.

Lina

Es war seine bedachte Art, Worte zu wählen, die dich in den Bann zog. Was er dir ins Ohr flüsterte, als ihr das erste Mal vor der Tür mit der Nummer 2115 standet. Seine wirren blau-grauen Augen, die dir schon aufgefallen waren, bevor das Konzert begonnen hatte und die erst noch den ganzen Abend durch den Raum schneiden mussten, bevor er schließlich herüberkam und dich um Feuer anschnorrte. Die lahmste Anmache der Welt. Und doch habt ihr euch unterhalten, als würdet ihr einander schon ewig kennen. Über Baudelaire, den er wohl als einziger Mensch auf dieser Welt freiwillig gelesen hatte. Darüber, warum man Garage Rock doch eine Chance geben sollte. Und über die George W. Bush-Büste, die auf einem texanischen Parkplatz ihr Dasein fristet, weil sie für den Rest der Welt überflüssig geworden ist. Es war als hätte der Raum um euch zu existieren aufgehört. Nur manchmal wehte ein Fetzen Musik herüber.

Am Anfang stand ein Jazzkonzert, ein Jazzkonzert zum Schluss. So schließt sich der Kreis. Das Oval. Diese wie auch immer geartete unregelmäßig geformte geometrische Figur, die einen Sommer lang dein Lebensinhalt war. Falls das auf eine zwischenmenschliche Beziehung zutreffen kann. Falls man in diesem Fall überhaupt von einer Beziehung sprechen kann. Definitionssache. Man könnte es auch als eine belanglose soziale Interaktion abtun, als das bloße Ineinander-Pfropfen und Voneinander-Lösen von dafür vorgesehenen Körperöffnungen und Körperausbuchtungen. Soziale Interaktion. Beziehung. Nein: Vergötterung. „Warum siehst du es nicht?“, hämmern deine Gedanken, hämmert deine Faust auf eine unsichtbare Stelle irgendwo in der Luft, die in der Morgensonne träge vor deinem Gesicht treibt.

Er war das Delta deiner seichten Gedankenströme. Du liebtest ihn. Oder auch nur dich. Weil du in ihm eine vollkommenere Version deiner selbst sahst. Eine Version, die es zu erreichen galt. Egoismus. Liebe. Definiendum und Definiens. Jetzt ist alles, was dir bleibt Ernüchterung. Leere. Jetzt ist alles, was dir bleibt Wahrheit. Die Wahrheit, dass er nur eine Version deiner selbst ist. Keine bessere, keine vollkommenere. Dass er Fehler hat. Dass er ein verkrampfter Spießer ist, der sich als Künstler versteht und dieses Verständnis als Rechtfertigung für seine Überheblichkeit benützt. Ein Künstler, dessen Talent, die Realität vor dir verborgen zu halten, nachgelassen hat: „Wie viele sind es denn schon, so Liebe, so Kleine, bei denen du deine Zahnbürsten deponiert hast?“, poltern deine Gedanken. Du streichst ihm durchs Haar.

„Es ist mir egal, wer er wirklich ist“, sagtest du dir so lange, „ich mag das Bild, das ich von ihm habe.“ Heute bleibt dir die Gewissheit des Ungewissen. Die Gewissheit, dass der Sommer vorbei ist. Und nie wieder kommt, wie sehr du dich auch an die Erinnerung klammerst. Die Gewissheit, dass du wohl nie wieder bereit sein wirst, die eigene Wunschidentität auf den Nächstbesten zu projizieren, um in ihm die Person zu sehen, die du selbst gern wärst. Um es Liebe zu nennen. Um auf einen neuerlichen Moment des Glücks zu hoffen. Der sich einstellen würde, kurzfristig, um von der Realität, dem ordinären Biest, überschattet zu werden. Ein Moment des Glücks – und wieder Finsternis, Indifferenz. Wieder und wieder. Solange bis du nicht mehr suchen würdest. Um dich zu dem Menschen zu machen, den du von Lebensabschnittspartnern zu flüchtigen nächtlichen Bekanntschaften gleitend suchst. Und nie finden würdest. Weil er nur in dir existiert. Er wartet nur. Und wird von den meisten nie gefunden.

Aber noch bist du nicht so weit, noch suchst du dort draußen, was außerhalb deines Universums nicht existiert. Und wartest. Weil du kaputt bist. Ein emotionaler Krüppel. Auch wenn das impliziert, nur von Momenten des Glücks zehren zu können, die nichts anders sind als Lügenkonstrukte, die du gestaltest. Um nicht alleine sein zu müssen mit dem Menschen, dessen Nähe du am meisten von allen fürchtet. Um nicht alleine sein zu müssen mit dir selbst. Um nicht denken zu müssen.

„Betäubung. Liebe“, denkst du, als du zur Weinflasche greifst. Und sie auf seinen Schädel, seinen schönen Schädel, poltern lässt, wieder, wieder. Er grunzt auf, schlägt um sich, kurz nur, dann wird es ruhig. Ein letzter Schluck des guten Roten schwappt hervor, vermischt sich mit der grauen Masse aus seinem Kopf, mit dem Rot, das aus seinem Körper quillt. Alles Gute kommt von oben? Ein wehmütiges Lächeln zieht deine Lippen auseinander. Draußen ist immer noch September. Nie hat dir jemand gesagt, wie viel Melancholie dieser Monat in sich birgt. Und irgendwann wirst du den Sommer vermissen, in dem du küsstest, um ein Märchen schreiben zu können.

Paul

Sie streicht dir über die Stirn. Sanft, klebrig, zähflüssig streicht sie deine Augen zu. Streicht über die Masse, die sich über die Ikea-Bettwäsche ergießt und langsam auf das Rotzgrün des Linoleums tropft. Ein letztes Mal lächelt sie dir aus Hundeaugen zu. Du warst ihre erste Liebe, sie soll deine letzte sein.

Vier Vierecke übereinander, fünf Vierecke nebeneinander und das drei Mal pro Gebäude. Drei Gebäude voller Vierecke gibt es, schwankende Treppen führen in geregelten Abständen an den Gebäudewänden hoch, zu den Türen vor den Vierecken. Noch ein Schritt. This is home. Für immer.

Sandra Maria Bernhofer

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit. Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen. Und uns natürlich auch dein Türchen-Material zukommen lassen. =)