Landflucht

Ich hatte das Schlimmste befürchtet: den Sommer. An Land war es zu trocken, trockener noch als im Vorjahr, die Erde ein schuppiges Reptil. Ich suchte in überfüllten Schwimmbädern, unbeaufsichtigten Badeseen, felsigen Buchten – in meinem Kopf lächelten schon die Krokodile. Die Suche fast wie unsere Kindheitsspiele, nur todernst. Erst am Ende der Woche verriet mir Cepha verschämt, dass sie zuletzt in der Anlage gewesen waren, wo ich Konve endlich fand – nackt, nass und erzählbedürftig. Ich hörte zu.

„Am Tag vor der Schließung feierten wir Erans 19. Geburtstag im Camp Brium, der alten Zeiten zuliebe. Wir waren die letzten Gäste. Für zwei Stunden als Tier eine Schnitzeljagd im Team machen – damals ist das eine Weltneuheit gewesen. Sie haben ihren Standard nie erweitert, du kennst das ja noch: Man kann sich nichts aussuchen. Vermutlich lief das Geschäft darum eher schlecht. Es gibt nur sechs Tiere, jedem wird eins zugewiesen. Du wolltest immer ein Rauhfußhuhn sein, Thyst, und jedes Mal musste ich dir erklären, dass keins dabei war. Kein Haselhuhn, kein Birkhuhn und kein Auerhuhn. Die waren damals schon fast ausgestorben. Doch daran dachten wir nicht. Wir hatten nur unsere eigenen Probleme vor Augen und welche Tiere wir gerne wären. Aus mir machten sie den Trilobiten. Ausgerechnet.

Wir suchten uns in den Regalen unsere Utensilien zusammen – sie führten auch Erwachsenengrößen – und ich fand den Panzer nicht. Fühlte mich wieder wie in der Schule, die wir erst abgeschlossen hatten. Nervöses Fingerkuppenreiben, Herztrommeln, Angstschweiß. Ich fragte mich, wie ich als Trilobit all die Aufgaben lösen konnte. Warum ich nicht ein Flugtier oder eins mit Krallen und Zähnen hätte sein können, so hätte ich mich sicherer gefühlt. Aber mir blieb nur das Exoskelett, dass ich dann auch aus der letzten Reihe hervorzog, schon ganz abgenutzt von zig vorigen Geburtstagen. Stromlinienförmig. Wer das wohl schon getragen hatte. Egal. Ich musste hineinschlüpfen und das Spiel begann.

Für zwei Stunden verloren wir jede Sprache, sodass ich die Ereignisse nur rückblickend aus Menschensicht widergeben kann. Meine Erinnerung besteht aus Sinneseindrücken und Intuition. Im ersten Moment gab es noch Erleichterung. Ich musste die subtilen Gemeinheiten der Gruppe nicht ertragen, in deren Rangordnung ich am niedrigsten war. Ich ließ die Blicke von Sagitt, Cepha, Versal, Eran und Robe an meinem Panzer abprallen, doch ihre Tieraugen hatten den Spott ohnehin verlernt, ihre Lippen das hämische Grinsen. Ein Marder, ein Chamäleon, eine Elster, eine Vogelspinne und ein Gürteltier standen auf einer Urwaldlichtung. Ihre echten Namen hatte ich schon vergessen. Wir stellten uns einer neuen Unfreiheit. Dann hieß es losziehen.

Tapire preschten aus dem Gebüsch. Die Spur der Rüssel unser erster Hinweis. Wir krabbelten, flogen, kletterten hinterher. Ich als Schlusslicht. Kannte das Spiel schon, hatte aber vergessen, was als Nächstes kam. War ja Trilobit. Doch ich sag dir was: Selbst Trilobiten können sich unnütz fühlen. Merken, wenn sie überflüssig sind.

Die Elster schrie, der Marder keifte und die Spinne stridulierte. Sie hatten etwas entdeckt, während wir Übrigen mit unserer Stimmlosigkeit haderten. Damit hatten die anderen zwei mehr zu kämpfen als ich.

Etwas steckte im Boden, gehalten von der Erde, die einfach nichts loslassen mag. Das besitzergreifendste Element. Wir machten uns daran, ihr das Objekt zu entringen: Das Chamäleon hielt es fest, der Marder fing an zu graben und sogar Elster, Vogelspinne und Gürteltier scharrten mit. Nur ich – kein Tunnelgräberexemplar – konnte nicht mithelfen. Niemand warf es mir vor. Sie vergaßen mich einfach.

Die Einsamkeit der Urzeittiere ist schön, weil schnell verflogen. Ehe sie ernst wird, überfällt einen der Überlebenskampf und schenkt einem gnädigen Tod oder gnädige Ablenkung. Ein treuer Begleiter in der Natur, der auch mich nicht im Stich ließ, denn schon fiel mich etwas anderes als Trübsal an.

Ein Maul. Feuchte Atemfluten. Und ich schreiunfähig. Angstapparat. Die fünf grabenden Tiere schauten auf. Eingezwängt zwischen Blicken und Zähnen stellte ich fest, dass niemand mir feind war: Das Primitive kennt keine Boshaftigkeit, nur Hunger. Warf mich voll Futtervorfreude hoch – und verlor. Denn ich landete im Wasser,

In den Zellen dumpfes Ich, kannte das Wasser, war sein Wesen, urvertraut. Plötzlich war ich leicht und beweglich – war ganz in meinem Element. Das Element, das der Erde ständig abrang, was sie besaß, und es ihr als Zerriebenes wieder zuführte. Die Wellen ahnten es an mir. Und ich, Thyst, brauchte kein Wofür, ich schwamm einfach und war bereit, es mit dem Tod aufzunehmen, als Spiel und Ziel zugleich. Du meinst, Zweck kann keinen Sinn ersetzen? Denk an die Spiele im Camp Brium, an den Rausch, wenn man sich gerettet hatte. Der Spaß der Aufgabenlösung. Gefahr oder Vergnügen reichen vollkommen aus, ein Leben zu füllen.

Die Gruppe war verschwunden, als ich auftauchte. Auch das Beutetier hatte sich verzogen. Nach Ablauf der zwei Stunden fühlte ich den Druck des Menschseins und musste ihm nachgeben, schlüpfte aus dem Panzer. Ich ließ mich in den Farn fallen wie angespült.

Erst hing ich noch dem Wassergefühl nach, dann kamen die Worte. Belegten meine Erfahrung, als hätten sie die Plätze reserviert – bestuhlte Wildnis: Zivilisation. Das brachte mich auf den Gedanken, wo die anderen blieben. Ob sie Erans Geburtstag wie früher am Steg ausklingen ließen, am Weiher, lachend wie Krokodile. Ich musste feststellen, dass ich auch ihrem Sinn entglitten war, als sie mich aus den Augen gelassen hatten.

Du kannst dir vorstellen, wie wütend ich war – doch als sie drei Stunden später auftauchten, um nach mir zu suchen, sah ich ein, was mich notwendig machte: Ohne mich geriet die Dynamik durcheinander, ohne mich schwand ihr Zusammenhalt. Konnten sie nicht mich angreifen, taten sie es gegenseitig. Ich hatte es aber satt, zum Zweck ihrer Sättigung zu existieren. Darum beschloss ich, unangenehm zu werden: Ich starb aus. Jedenfalls war meine Unauffindbarkeit für sie damit gleichbedeutend.

Ich wusste, so entstünde bei ihnen keine neue Weltordnung – sie würden sich jemand anderen suchen. Aber ich konnte hier am Gewässer in der verlassenen Anlage etwas Neues werden. Ausschwemmen, was mir nicht bekam. Den Panzer behielt ich, doch eine Rückverwandlung war nicht mehr möglich – die muss am Eingang durch die Betreiber autorisiert werden. Die hatten schon Feierabend gemacht und überließen mich meiner Evolution.

Ich musste viel an dich denken, Thyst. Habe viel Zeit im Wasser verbracht, um mich mit ihm zu verbrüdern. Habe mir gesagt, wenn ich schon nicht die Rauhfußhühner für dich hab retten können, dann rette ich wenigstens uns. Das Meer rückt nah an uns heran, sein Ellenbogen stößt uns in die Seite. Weg von der kokelnden Erde. Ich war in dieser Woche lang im Wasser, und schau, schon werde ich weich, schon werde ich weniger kalt. Meine Hände: Abschiedsflossen. Es führt ein Weg zurück.“

Konve nahm mich mit schwammigen Fingern und zog mich zum Rand. Ich bewegte mich einfach. Folgte dem Wort. Wasser war Gesang, ich war Körper – ein Ballsaal für Schwingung. Angezogen von der Melodie. Spielsüchtig. „Tauch ein. Geh unter.“ Ich verfiel meinen Sinnen.

Badeanzug aus Kaulquappen und weiches Algenhaar. Augen treiben wie Flöße über den Weiher und Haut ist Strand, an den die Wellen schlagen. Die Kussgeräusche der Kois versteckt hinter Barteln. Wasser ist Wollen. Körper bedeckt von Begierde bis über die Ohren. Ein wässriges Röcheln das Rinnsal hinunter zum Rand, schilfskolbdurchstochene Enden. Hier ist das Wasser festgenagelt, mit diesen langen Röhren, hier wandelt es sich in Morast. Tauchgang der Worte zum Grund, ein Mundvoll von schwappender Zunge. Das Wasser trägt den Himmel auf den Flächen, die Luft kippt aus den Zweigen in den Pfuhl.

Die Kuppen der Finger streicheln mal Wind und mal Nässe, am Morgen feuchte Reigen aus Gespenstern, am Abend einen Wattegeisterzug. Landunterlippen lesen Kreise aus dem Wasserläufertanz: sprunghaftes Ballett. Wünsche werden Blasen, die ans Oben denken, wo die Sonne sie mit Nadelstrahl zersticht. Die Steine tragen grünes Fell und Halskrausen aus Froschlaich. Blätter geistern wie Barken zum anderen Ufer.

„Spürst du die Urtümlichkeit, die es braucht? Nur, was es schon gab, bleibt bestehen. Wenn alles gut geht, verstehst du mich bald nicht mehr.“

Fleischbad. Moosleib. Das Grün brennt die Beine hinauf. Gliederkerzen. Arme glühen im Dunkeln. Weite Geste gestern noch. Lösen sich nun aus der Form. Wachsfigur. Quallenmensch. Quellentier. Es geht zurück.

Konve spricht. Ich verstehe.

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Avy Gdańsk

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