Wurst im Glas

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     Am liebsten esse ich Manfred Fleischers manischen Wurstmix im Glas. Dabei handelt es sich um einen köstlichen Mix aus verschiedenen Wurstsorten, aufeinander gestapelte Scheiben, beginnend, von oben nach unten, mit Extrawurst, Haussalami, Wiener Wurst, Käsewurst, Mortadella (aufgrund der Größe: gefaltet), Krakauer, Motivwurst mit dem Gesicht des Tieres, aus dem sie großteils besteht, Wellnessschinken Light mit nur 0,9 Prozent Fett, Leberkäse und einer dicken Scheibe Sulze als Fundament, alles im namensgebenden Glas.

     Leider ist mein Vorrat aufgebraucht.

     Wenn ich in letzter Zeit in einen Supermarkt einkaufen gehe, dieses kapitalistische Kaleidoskop zwischenmenschlicher Bedürfnisse und Regungen, spielt sich stets folgendes Szenario ab:

     Zielstrebig gehe ich zu einem bestimmten Regal. Dort fällt mein Blick in eine Lücke, rast vorbei an Schluchten anderer Produkte und zerfällt verloren in der Dunkelheit. Ich, äußerst freundlich, verlange daraufhin die Filialleiterin oder den Filialleiter zu sprechen, die ich dann auch wie folgt und sofort wissen lasse: „Ich suche Manfred Fleischers manischen Wurstmix im Glas.“ An dieser Stelle wird mein Gegenüber meistens von einem langanhaltenden Gähnen oder einem hartnäckigen Hustenanfall überrascht, womöglich verdreht es auch die Augen; man kennt sich. Jedenfalls seufzen dann alle erschöpft und geplagt, was bei den Anforderungen der heutigen Marktwirtschaft vollkommen verständlich ist, und zeigen in Richtung Feinkostabteilung. Doch halt: Dort suchen nur Dilettanten! Da es sich bei Manfred Fleischers manischen Wurstmix im Glas um ein Konservenglas handelt, lässt sich dieses prinzipiell auch im Konservenregal finden. Einmal, es ist schon Monate her, habe ich Manfred Fleischers manischen Wurstmix im Glas eingepfercht zwischen Dosenfrüchten gefunden, ganz unscheinbar versteckt zwischen eingelegten Pfirsichen und Bananen, ein andermal dann beim mit Plastikmüll angereicherten Thunfisch. Schlimm ist es, wenn Manfred Fleischers manischer Wurstmix im Glas im Sonderangebot ist, dann kann er praktisch überall sein: Der blanke Wahnsinn.

     Simpel zusammengesteckte Gemüter werden bei der Lektüre meiner Aufzeichnungen womöglich fragen: Ist es das wert? Kann man so einen Wurstmix nicht auch selbst zusammenstellen? Nein, denn das habe ich bereits versucht! Die gleichen Aufschnittwürste, die gleiche Scheibendicke, sogar die gleiche Stapelfolge und alles im Einmachglas: es schmeckt nicht. Und die Firma Fam. Manfred Fleischer 1905 GmbH & Co KG versichert mir felsenfest, sie befinde sich nach wie vor in Produktion!

     Wie soll ohne dieses, aus meiner Sicht: Grundnahrungsmittel, ein erholsamer Feierabend noch möglich sein? Und wozu? Mein Leben, wie wir es alle gewohnt sind, vor allem ich, hat mit dem Verzehr des letzten Glases aufgehört zu existieren. Also werde ich zu drastischen Mitteln greifen.

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     An diesem Morgen spaziere ich also durch die sich gerade öffnenden Supermarkttüren. Das Geschäft ist, bis auf mich, noch völlig frei von jeglichen Kunden, ich bin der erste, die Böden erstrahlen nur für mich in frischem Glanz und mit Zitrusnote, Äpfel, Birnen und Orangen sind zu kleinen Cheops-Pyramiden aufgereiht und an der Feinkosttheke wird beflissentlich Wurst und Käse geschnitten, um zur Mittagszeit schnell passendes Füllmaterial für ordinär genormte Wurstsemmeln zur Verfügung zu haben, da wird dann produziert, wie am Fließband, oder brachialer, wie von Handwerkern, die Ziegel auf Ziegel setzen und Mauern verputzen, so wird hier Wurst und Käse in ein Gebäckstück gedroschen und mit einem Kleister aus Ketchup, Senf oder Majonäse, nein danke, für mich nicht, überzogen. In den Haushaltsbedarf- und Hygieneregalen werden Klopapierrollenpackungen eingeräumt, auch Papiertaschentuchboxen, Stück für Stück werden sie akkurat neben- und übereinander geschlichtet und bilden eine klare Front aus glänzendem Plastik. Die Zielgruppe ist klar: Hier kaufen Menschen mit Körperfunktionen ein.

     Da ich meine unter Kontrolle habe, halte ich auf die Getränkeabteilung zu. Dort kauere ich mich unter ein hohes Regal und baue mir eine Festung aus zu 6er-Packungen zusammengezurrten PET-Flaschen mit stark zucker- und kohlensäurehaltigen Getränken. Durch eine Öffnung, nicht unähnlich einer Schießscharte, habe ich freie Sicht zum Lager, kann aber gleichzeitig die Zubringerroute zur Feinkostabteilung sowie zum Konservenregal im Auge behalten.

     Nach mehreren Stunden Wartezeit merke ich: ich bin eingeschlafen. Also muss ich mich aufrappeln und gleichzeitig den Teileinsturz meiner Festung abwehren, danach stehe ich vor dem Regal und, aha, ein Hinweis, da klebt ein frisches Etikett für Manfred Fleischers manischen Wurstmix im Glas, zwar nicht Manfred Fleischers manischer Wurstmix im Glas selbst, aber die Bezeichnung, und die starre ich an wie eine Beschwörungsformel, wiederhole den Namen leise, fast tonlos, ein Mitarbeiter in dunkelgelber Uniform samt Hütchen fragt, ob es mir wohl gut gehen würde, doch ich winke und wimmle ihn ab, der Name steht da, also gibt es ihn noch: Yeti, Eldorado, ich bin euch auf den Fersen!

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     An manchen Tagen, wenn ich mich kräftig genug fühle und jeder Moment in Erwartung einer neuen Lieferung vibriert, rücke ich bis in die Obst- und Gemüseabteilung vor und schleiche zwischen Salatköpfen und Zwiebeln hindurch, vorbei an Pfirsichen und Kirschen, ziehe meinen Orbit um Champignons und halb verdorrte Kräuter zum selber Anbauen in Plastikbechern und erreiche die Feinkosttheke: ah, welch ein Königreich!

     Dort steht ein neuer Lehrling, zumindest habe ich ihn noch nie zuvor gesehen. Er trägt ebenfalls ein kleines Hütchen aus Papier, welches, geringfügig anders gefaltet, bestimmt auch im Wasser schwimmfähig wäre, außerdem eine Schürze, die sich prall um seinen Bauch gelegt hat und ihm wie eine Wursthaut vorkommen könnte, wenn er das denn wollte. Beim Schneiden von Wurst und Käse scheint sich der Lehrling noch schwer zu tun, seine Scheiben sind dick wie Autoreifen und haben den Begriff kaum verdient, danach fragt er herzlich aggressiv: „Sonst noch was?“

     „Ja!“, möchte ich daraufhin rufen und euphorisiert auf Käseblöcke und Wurstzylinder in Plastikfolie zeigen. Überhaupt: ein magischer Ort, die Feinkosttheke. Hier bekommt das österreichische „Wurscht“ eine doppelte Bedeutung, einmal ist es egal, dann ist es Wurst, zwei Realitäten überlappen sich, alles ist möglich.

     Ich habe gesehen, auf eBay (ja, tatsächlich!) kann man eine komplette Feinkosttheke kaufen. Herr der eigenen Feinkosttheke zu sein, Wurst und Käse aufgeschnitten im eigenen Wohnzimmer anzubieten, was für ein erhabener Gedanke!

     Der einsetzende Kundenstrom treibt mich aus der Abteilung raus, dabei überfährt mich die Filialleiterin fast mit einem Palettenhubwagen, sie streift mich am Arm, kann eine frontale Kollision gerade noch verhindern und rammt eine Angebotswühlkiste mit Reiswaffeln und Essiggurken. Eine andere Mitarbeiterin mit einer ehemals dunkelgelben, nun ausgewaschenen Uniform und zerrissenen Jeans lacht laut, sie steht auf einer Leiter und holt eine Großpackung an Mars-Schokoriegeln von dort oben runter, knapp unter der Decke, dann öffnet sie die Schachtel und verteilt die Innereien im Kassabereich. Aha, stelle ich fest, das wäre neben dem Lager auch ein Versteck für Manfred Fleischers manischen Wurstmix im Glas, überlege ich und beschließe, mich mehr in die Warenverteilung dieser Supermarktfiliale einzubringen.

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     Mir ist jegliche Zeitrechnung abhandengekommen. Ich wollte mich an Sonderangeboten und Aktionen orientieren, Dekorationen zu besonderen Anlässen, doch ich habe den Überblick verloren. Manche Feiertage dürften auch nur in der Welt des Supermarktes existieren.

     So eile nun ich in der Filiale umher, laufe ins Lager und steige auf Regale, greife mir Großschachteln und verteile den Inhalt andernorts.

     „Guter Mann, entschuldigen Sie“, spricht mich eine alte Dame mit Hut und Gehstock an, sie zieht an meiner dunkelgelben Uniform, schaut an mir rauf und fragt, wo es denn das geben würde, „Manfred Fleischers manischen Wurstmix im Glas.“

     Als ich wieder zu mir komme, liege ich hinter der Feinkosttheke unter dem Fleischwolf und lasse mir das gemischte Faschierte direkt in den Rachen reinlaufen, 60 Prozent Schwein, 40 Prozent Rind, allesamt Reste, kurz vorm Ablaufen, wie mir der Fleischhacker als erstes und gleich offenes Geheimnis verraten hat.

     Über mir steht der Lehrling mit dem Papierhütchen und der prall gefüllten Schürze, er ignoriert mich, beobachtet stattdessen seine Ausbildnerin an der Schneidemaschine. Sie verpackt gerade Feinkostschnittgut in raschelndem Papier, umwickelt es mit Cellophan, tackert einen Zettel samt Strichcode an, man darf es nun kaufen. „Außerdem?“, fragt sie.

     „Ja“, möchte ich darauf antworten und würge, „alles!“

Roman Markus

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