Papier erbetteln, Manuskripte schmuggeln
Die Geschichte einer Literaturzeitschrift in den 1970er-Jahren
Wer heutzutage eine DIY-Literaturzeitschrift gründet, wird in der Regel nicht fürchten müssen, dass sein Telefon abgehört wird. Es wird auch nicht nötig sein, einen Druckergesellen mit Bier zu bestechen, damit er während der Nachtschicht illegal die neue Ausgabe vervielfältigt. In den 1970er-Jahren hingegen waren derartige Dinge ganz alltäglich, berichtet die Autorin und Literaturaktivistin Christine Haidegger im Gespräch mit Christian Lorenz Müller und Josef Kirchner.
.
Wie seid ihr damals dazu gekommen, eine Literaturzeitschrift zu gründen?
Da muss ich ein bisschen ausholen. Wie üblich ist der H. C. Artmann schuld (lacht). Ein paar Freunde von mir und ich waren mit ihm in der Südtiroler Weinstube und haben festgestellt, dass wir alle in der Schreibtischschublade Texte liegen hatten. Und der Artmann meinte dann im Spaß, wir müssen gleich mal einen Verein gründen.
.
Und dann ging das mit der Gruppe Projekt-IL los?
Ja. Wir haben uns in der Folge wöchentlich getroffen, in einem Studentenwohnheim, in dem die meisten von uns gewohnt hatten. Wir haben einem Mitbewohner 20 Schilling gegeben, damit er ins Kino geht und wir das Zweibettzimmer für uns hatten. Zu acht oder neunt sind wir in dem kleinen Raum und bis auf den Gang gesessen, gestanden, gelegen und haben bis um vier Uhr in der Früh über Texte, fremde und eigene, und sonstige literarische Dinge, geredet. Wir waren uns einig: Es kann nicht sein, dass man für Kultur immer nach München fahren muss. In Salzburg gab es zu der Zeit kaum Lesungen, bestimmte Bücher oder Schallplatten bekam man nicht.
Später haben wir uns bei mir zu Hause getroffen. Ich hab nie gewusst, wenn ich von der Arbeit gekommen bin, wer gerade in der Küche sitzt, mein letztes Essen isst oder meine letzten Tschigg raucht. Und meine Tochter war die Türsteherin.
.
Das klingt nach einer Zeit, in der euch nicht langweilig wurde…
Wir waren alle linkspolitisch. Das waren die RAF-Zeiten und ich hatte viele Freunde in Deutschland mit denen wir Korrespondenz geführt haben. Wir waren zwar keine RAF-ler, aber es gab Leute, die das von uns gedacht haben.
Damals konnte man ziemlich leicht feststellen, wenn dein Telefon abgehört wurde. Ich wusste das ja zunächst nicht, aber eine von den ganz linken Deutschen mit militärischer Ausbildung, die hat mich gefragt: „Christine, du weißt schon, dass dein Telefon abgehört wird?“ und mir dann erklärt, wie man das feststellen konnte. Mir war das völlig wurscht.
.
Und wie hat das mit den Lesungen und Veranstaltungen dann begonnen?
Wir hatten Lesungen im Traklhaus, bei denen die Leute draußen auf der Galerie standen und durch das Fenster hineingesehen haben, weil es drinnen zu klein war. Es gab ja zu dieser Zeit literarisch fast gar nichts. Wir haben vier oder fünf Plakate gemacht und die Bude war voll. Das kann sich heute niemand mehr vorstellen. Da kamen Leute im Anzug und Leute im Hippielook, alte Leute und junge und haben nach der Lesung eineinhalb Stunden mit den Autor*innen diskutiert – damals ging es auch um so Sachen wie „warum haben Sie ein rosa Unterhemd an?“, überspitzt gesagt. Und die Zeitungen haben damals über jeden Käse, den wir gemacht haben, berichtet.
.
Wie groß war eure Gruppe?
Wir waren teilweise 20 Leute und haben uns jeden Dienstag getroffen, entweder bei mir Zuhause oder im Weingartl an der Ecke vom Makartplatz. Da saß dann Artmann und Co am großen Tisch, die Leute vom Landestheater im hinteren Zimmer, auf der einen Seite hat der Gerold Foidl in seinem Kaffee gerührt und der [Franz, Anm.] Innerhofer auf der anderen. Und wir haben die vorderen Tische belegt und nicht nur über Literatur geredet, sondern auch geplant. Einmal haben wir uns dort hingesetzt und gemeinsam einen Text mit der Umknickmethode geschrieben. Total gute Gedichte, ich steh heute noch drauf. Den Text haben wir dann für den ersten ausgeschriebenen Preis für junge Literatur eingereicht – zusammen mit der Biografie von einer Freundin von uns, die gar nicht selber geschrieben hat. Was wir nicht wussten: Aus den besten Texten wurde eine Anthologie zusammengestellt – da mussten wir es dann zugeben, dass es eine Gemeinschaftsarbeit war.
.
Und aus dieser Gruppe entstand dann die Literaturzeitschrift?
Wir haben 1973 mit der ersten Nummer begonnen, wir haben uns gedacht: Wenn die Leute unsere Texte haben wollen, dann geben wir sie ihnen. Wir hatten kein Geld, das ganze erste Jahr haben wir mit Verkaufen, Verschenken und viel eigenem Geld überstanden.
.
Wie genau ist die erste Ausgabe entstanden?
Die Bedingungen, eine Literaturzeitschrift zu erzeugen, waren damals völlig archaisch. Ich weiß nicht, ob heutzutage noch jemand weiß, was eine Matritze ist? Das war eine Art Kohlepapier mit Wachsschicht, das man mit der Schreibmaschine beschrieben hat und dann auf der Uni mit einer langen Maschine abziehen musste. Ich hab das meinen Kolleg*innen erklärt, aber die haben das zum Teil nicht wirklich kapiert. Einer von uns, der Charlie Hahn, hatte eine ungarische Schreibmaschine, bei der das „a“ und das „o“ durch zehn Seiten durchdrückte. Das heißt, nach der ersten Nummer, die optisch ein Graus war, hab ich die nächsten Ausgaben komplett abgetippt statt sie durchzupausen.
Es war auf jeden Fall sehr spannend mit den Matritzen: Beim ersten Mal sind wir zu zehnt um die Maschine gestanden und haben probiert, wie das gehen könnte, und schließlich unsere ersten 300 Exemplare gemacht. Vorher sind wir wochenlang im Traklhaus gesessen und haben einen Namen für das Projekt gesucht. Ich meine, es war zwar ein Projekt, aber wir konnten es ja nicht so nennen. Also wurde daraus „Projekt-IL“, „Projekt Ihre Literatur“ oder auch „Irre Literatur“ – je nachdem, wer es in die Hand bekommt. Das haben wir damals sehr witzig gefunden.
.
Und das alles ohne Budget?
Ja, fast. Manchmal haben wir Spenden erhalten, zum Beispiel hat uns Walter Kappacher einen Teil seines Preisgeldes bei den Rauriser Literaturtagen spendiert. Und dann hat uns der damalige Landeskulturmensch im zweiten Jahr unseres Bestehens dreitausend Schilling Förderung zugesagt. Das war auch in Rauris, und da hab ich mich an ihn geschmiegt und ihn geküsst, weil ich mich so gefreut hab. Das ist mir lang hängengeblieben.
Aber am Anfang bin ich mit dem Rad zur Papierfabrik nach Hallein gefahren und hab sie um Papier angebettelt. Unter tausend Exemplaren gab es bei den Druckereien keine Bindung, also sind wir zu siebt oder acht um einen großen Tisch gesessen und haben Seite für Seite zusammengelegt. Da waren so viele Fehlexemplare dabei, bei denen Seiten am Kopf stehen, andere dreimal oder gar nicht drinnen sind.
.
Das ist ja ein irrsinniger Aufwand. War das dann jedes Mal so umständlich?
Oft. Zum Beispiel bin ich eine Zeit lang wie Rotkäppchen mit einem großen Korb, dem Manuskript drin und einem Tuch darüber in eine Druckerei hingegangen, wo ich einen Druckergesellen gekannt habe. Weil ich aber beim Portier vorbeimusste, habe ich eine Saftflasche unter dem Tuch rausschauen lassen, damit ich sagen habe können, dass ich meinem Freund das Essen bringe. In der Nachtschicht hat der Geselle uns im Tausch um eine Kiste Bier das Heft gedruckt. Das war immer ein Kampf, dort hinaufzugehen, ohne sich erwischen zu lassen – vor allem beim Abholen der Hefte.
Nach drei oder vier Ausgaben, die wir so gemacht haben, hat IBM in der Griesgasse eine Vorstufe eines Computers eingerichtet. Da haben sie mich eine Nacht eingesperrt, damit ich auf dieser Maschine die ganze Ausgabe eintippe. Die hatte ein viel schöneres Schriftbild als das, was ich mit der Schreibmaschine zusammenbekommen habe. Aber man sieht: Wir mussten dauernd improvisieren.
Bei der Druckerei des Salzburger Volksblattes im Kieselgebäude durfte ich dann auch zwischenzeitlich die Ausgaben binden. Diese Arbeit wollte niemand anders von uns machen, das durfte dann immer ich erledigen. Ich bin dann mit einem Wagerl von mir Zuhause zu unmöglichen Zeiten, wann halt grad kein Chef da war, mit jeweils 80 Stück – mehr ging nicht in das Wagerl – zur Druckerei und durfte selber Klammern, weil der eine Drucker auch gerne mal ein Bier getrunken hatte und man Gegengeschäfte machen konnte. Die hatten damals einen behinderten Mitarbeiter, der mir immer begeistert Bücher, die sie gerade gedruckt haben zusätzlich ins Wagerl getan hat. „Die Christine mag das“, hat er immer gesagt. Einmal ist mir das Wagerl mitten auf der Kreuzung auseinandergebrochen, weil es zu voll beladen war. Und ich stand auf der Straße, inmitten unserer Hefte, und durfte mich von Busfahrern und Taxilenkern beschimpfen lassen, während ich alles einsammelte und Angst hatte überfahren zu werden.
.
Wie habt ihr die Arbeit grundsätzlich untereinander aufgeteilt?
Ich hab relativ viel allein gemacht, nur in der Redaktion waren wir immer alle gemeinsam. Von unseren eigenen Texten abgesehen haben wir immer viele Stunden über die Texte, die eingereicht worden sind, diskutiert, habe uns beratschlagt, ob wir noch jemanden einladen, um Texte bitten sollen. Mein Mann ist zum Beispiel einmal nach Paris gefahren wegen einer Ausstellung. Dann ging er auf den Markt, kauft Käse und Wein, und wanderte zu Handke und klopft an dessen Tür. Wie üblich schaute der so halberts aus der Tür, was er denn will. Er hätte gerne einen Text für die nächste Ausgabe. Handke war sehr misstrauisch, ging dann aber zur Kommode und holte einen Text, den wir dann auch gedruckt haben. Letztes Jahr kam ein Germanist, der glaubte, einen bislang unbekannten Handke-Text entdeckt zu haben – bis er feststellte, dass wir den schon veröffentlicht hatten. (lacht)
.
Und weil es in Salzburg literarisch so wenig gab, hattet ihr dann auch schnell Erfolg mit der Zeitschrift?
Wir kannten alle Galeristen und gingen, so oft es halt ging, zu allen möglichen Veranstaltungen. Weil ich nicht so groß war, hab ich mir einen speziellen Hut mit dem jeweils aktuellen Cover drauf gebastelt und hab überall die Hefte verkauft. Wir waren bald bekannt wie ein bunter Hund.
Zwei uns bekannte Geheimpolizisten waren auch immer hinter uns her. Mein Telefon haben sie ja auch abgehört. Mit allen uns bekannten Zeitschriften in Deutschland und der Schweiz haben wir uns verbandelt und ausgetauscht, teilweise auch gemeinsam Ausgaben gestaltet. Es war eine wilde Zeit. Wir waren schon, seltsamerweise, beliebt. Vielleicht, weil es nicht ganz so professionell ausgesehen hat.
.
Aber dennoch war es dann nach einigen Jahren auch wieder vorbei…
Dieses Hin- und Herschicken von Manuskripten hat einen Haufen Geld und Zeit in Anspruch genommen. Der Druck und die Organisation sowieso. 1981 waren dann alle mit ihrem Studium fertig und sind zurück nach Oberösterreich oder nach München gegangen. Ich wollte nicht meinen eigenen literarischen Geschmack in der Zeitschrift verbreiten – und ich wollte nach all den Schulden auch einmal Geld für mich haben. Darum hat das Projekt-IL damals geendet. Wir haben uns alle unterschiedlich weiterentwickelt und sind untereinander immer noch auf verschiedenste Art und Weise befreundet und schauen, was die anderen so machen.
.
Aber du klingst sehr zufrieden, wenn du auf die Geschichte zurückblickst…
Eine Anekdote, die ich oft erzähle, weil sie mir so gut gefällt: Der Friedrich Gulda hat mal in der Universitätsaula gespielt, da weiß ich noch, was ich anhatte: einen langen Hippierock und meinen Hut. Die schon einigermaßen ordentliche Projekt-IL Ausgabe hatte ein spezielles Titelbild mit Karajan drauf.
Und ich sitze auf der Treppe mit meinem Korb und meinem Hut und die Leute eilen, um den Gulda zu hören. Die Besucher*innen des Konzerts haben geglaubt, das Projekt-IL sei das Programmheft, haben sofort die dreißig Schilling in den Korb geworfen und sind in den Saal gerast. Als das Konzert zu Ende war, konnte ich die liegengebliebenen Exemplare wieder mitnehmen und nochmal verkaufen.
.
.
Christine Haidegger (1942-2021) besuchte Volksschule und Gymnasium in Oberösterreich um dann in Großbritannien, in Frankreich und Italien zu arbeiten. Seit 1962 lebte sie in Salzburg. 1974 begründete sie die Autorengruppe „Projekt-IL“ mit und gab von 1975 bis 1981 die gleichnamige Zeitschrift heraus. Sie war Mitbegründerin des Salzburger Literaturhauses mit der Salzburger Autorengruppe sowie der IG Autorinnen Autoren und verfasste Romane, Erzählungen, Gedichte aber auch Theaterwerke und Hörspiele.