[Thomas Mulitzer] Unsere Manifeste wurden nicht in den kahlen Sälen der Universitäten entwickelt. Sie haben ihren Ursprung in den Hinterhöfen Ottakrings, wo Immigranten nach der Arbeit zusammenkommen, um im Schatten grauer Wände ein paar Gramm Marihuana zu rauchen; in den Cafés von Graz, wo junge Dichter hektisch zum Beat aus den knarrenden Boxen schnippen und sich gegenseitig ihre Texte vorlesen; und an den Hängen ferner Bergeshöhen, wo ungestüme Alpensöhne voller Sehnsucht in die Ferne blicken, den Horizont nach Lichtern scannend.

mosaikX_Buchpräsentation_Thomas Mulitzer (6)

Wir haben hart gearbeitet und saßen ewige schlaflose Nächte lang vor weißen Seiten, der Aschenbecher zum Bersten voll und ein ungeheures Pochen im Kopf, das es unmöglich macht, den Stift wegzulegen und aufzugeben. Wir gingen einen weiten Weg und ich weiß, wir haben einen ebensolchen vor uns. Millionen toter Wörter pflastern die Allee der Wahrheit, den schmalen Pfad der Essenz, dem wir hinkend, kriechend, blutend folgen. Wir haben auf vieles verzichtet, aber wir wussten, worauf wir uns einließen, als wir Schraubenschlüssel und Taschenrechner, Dienstwagen und Monatsgehalt gegen Stift und Papier eintauschten.

Das ist nichts anderes als eine Liebeserklärung, ein Zeichen meiner Zuneigung. X, mon amour! Wenn ich die Augen schließe, sehe ich deine Augen. Ich rieche den Duft deiner frisch gewaschenen Haare und sehne mich nach der Wärme deines Schoßes. Jedes einzelne Wort ist eine Hommage an deine Schönheit, ein Tribut an deinen Glanz. Jeden Schritt, den meine Füße machen, machen sie dir zu Ehren. Ohne dich wäre mein Leben sinnlos, ohne dich wüsste ich nicht, was tun – so einsam wäre ich. Wenn ich an dich denke, fühle ich dieses leichte Kribbeln im Bauch. Ein bisschen so wie bei einer Verstopfung, nur flauschiger.

mosaikX_Buchpräsentation_Thomas Mulitzer (10)

[Florian Lambrecht] Langsam öffnete er die Türe. Beinah gelangweilt. Er war innerlich wirklich stolz auf seine Beherrschung. Zwei klare Augen funkelten ihn an. Hanna. Eingepackt in einen dicken Pullover und einen großen Korb in den Händen. – „Hallo! Grüß dich!“ lächelte sie und trat ein. Der junge Mann starrte verwirrt auf den leeren Fleck in der Welt, auf dem sie eben noch gestanden hatte. Er lehnte sich hinaus. Blickte suchend um sich. Schüttelte leise den Kopf. Dann stieg er ihr hastig hinterher.

„Wo ist denn…? Hanna!? – Hast du nicht…?!“

„Oh, du hast umgeräumt. Und wie das gedeckt ist. Hübsch!“, hörte er ihre Stimme hell durch das Treppenhaus hallen.„Hast du irgendein Fest vor?“ Fassungslos schüttelte er den Kopf. „Nein, also…“ Er verstummte. – „Oh Gott! Das ist für mich… also für uns! Ich wollte ja mit ihm kommen“, erschrak sie plötzlich. „Es tut mir so leid! Ich hatte es ja ganz vergessen. Ich… Ich hatte ihn gar nicht gefragt“, kam es in mitleidigem Ton aus ihr hervor. Der junge Wärter begann ihn sofort zu hassen. Seine Wut unterdrückend umklammerte er kräftig den Türstock. „Du bist doch nicht böse?“, säuselte sie wieder, nun nah an ihn heran getreten. „Ich werde ihn nächste Woche mitbringen. Ich verspreche es!“

„Ja!?“, blickte er rasch auf. „Ja! Nächste Woche. Sicher!?“ – „Versprochen“, sagte sie zärtlich. „Nächste Woche nehm ich ihn mit zu dir.“

Nächste Woche, nächste Woche, diese Worte sollten ihm sein Leben verleiden. In der folgenden Woche kam sie allein. In der darauffolgenden wieder. In der nächsten und übernächsten und überübernächsten Woche, immer hatte sie es vergessen, war etwas dazwischen gekommen oder er, ihr über allem strahlender Freund, ihr Glück, das Glück der ganzen Welt schlechthin, hatte keine Zeit. Jedes Mal vertröstete sie ihn auf nächste Woche, jedes Mal! Und er glaubte ihr, konnte sich ihrer einfach nicht erwehren. So lächerlich er sich auch vorkam, wenn sie wieder einmal allein im Rahmen der schweren Metalltüre vor ihm stand, mit ihren seeblauen Augen und diesem Lächeln, das von nichts Traurigem jemals gehört zu haben schien, so sehr er sich über sich selbst ärgerte, sich erneut so arglos in die fürchterliche Leere ihrer Versprechungen geworfen zu haben, der Duft ihrer Stimme überrannte ihn jedes Mal aufs Neue, wenn sie von ihrem Glück sprach, und die Sehnsucht, das zu sehen, tatsächlich erleben und berühren zu können, was sie ihm so schwärmerisch vorstellte, wuchs nur mit jeder Enttäuschung, die sie ihm antat.

So vergingen die Jahre und aus Hannas Freund wurde Hannas Gemahl. Seine Schönheit schien von Tag zu Tag zu wachsen und das Glück in Hannas Augen glänzte den armen Leuchtturmwärter von Woche zu Woche immer blendender an. Nie ließ sie es aus, ihm von ihrem Gatten zu erzählen, und bei jedem Abschied versprach sie erneut er werde ihn bald kennenlernen.

Als sie dann das Kind bekam, blieb sie lange aus. […]

Noch einen Monat, dann würde sie wieder herüberfahren. Ihr Kind könne sie ihm vorerst leider nicht zeigen. Dazu sei es noch zu winzig und neu in der Welt. Aber in einem Jahr würde es sicher schon zu einer Überfahrt fähig sein. Dann würde sie auch ihr Mann begleiten.

„Ihr Kind“, sprach er halblaut vor sich hin, „ihr Kind“, – und lächelte. Er las den Brief nochmal, doch es schien wahr. Nur noch ein Jahr und er könnte es sehen. Die Zeit verstrich und es war eine der besten, die der junge Wärter jemals hatte. Hanna kam wöchentlich und erzählte ihm wie früher das Neueste aus ihrem Leben. Ihr Kind gedieh prächtig und jedes ihrer Worte war ein Honigwurf. Hilflos blieb er daran kleben, verlor jeden Sinn vor betäubender Süße. Ein kurzes, verträumtes Jahr lang wusste er, wann sie ihm endlich einmal ihr Glück bringen werde. Wenn er einsam war, sprach er ihre Worte leise vor sich hin, stellte sie sich in die Luft, betrachtete sie, spielte an ihren Melodien ein wenig herum. Nicht selten blühten sie zu einem Lachen auf, und das tat ihm so wohl! Dass er allein auf seinem Leuchtturm saß und lachen konnte. Nur für sich. Das war ihm neu. Das war ihm fremd. Es war anders und er liebte es.

Doch seine Vorfreude wurde ihm aufs Neue zerstört, als sie ihm mit schwerer Stimme sagte, dass er sich erneut gedulden müsse. „Noch einmal!?“, schrie er laut auf. „Warum? Wie lange?!“ Tränen traten ihm in die Augen. Eine verzweifelte Wut rieb ihm die Stimme auf. Hanna bekam Angst.

„Ich wusste ja gar nicht – “, beteuerte sie scheu, „– es ist doch nur… es sind…“

„Nur!? Nur!“, unterbrach er sie tobend. „Es ist mir alles! Ich sitze auf diesem stumpfsinnigen Felsen herum! Warte nur und warte, und habe nichts!“ – „Aber – aber…“, stammelt sie, mit mitleidigem Blick auf ihn gerichtet. „Aber duhast doch mich. Ich bin doch da? Jede Woche komme ich zu dir? Reiche ich dir nicht?“

„Nein!“, fuhr sie der Wärter scharf an. „Du bist nicht genug! Du kommst jede Woche und erzählst mir vom Glück. Ich aber muss es sehen! Ich will es fühlen, anfassen! Du versprichst mir Woche für Woche, dass es etwas Besseres gibt als das hier. Aber du stellst mir nichts als Luft vor, regst meine Fantasie an und nicht mehr!“

„Ich werde es dir zeigen!“, rief Hanna entschlossen. „Ich werde sie dir bringen!“ – Der Wärter hielt sich wie irr die Ohren zu. „Nein! Nein! Ich will das nicht mehr hören! Nein! Sag mir doch einfach, dass du lügst. Dass du die ganze Zeit über gelogen hast. Dass es kein Glück gibt, für niemanden! Sag es mir doch bitte!“

Wir brauchen keine Feuerwieselpinsel. Wir brauchen keine gespitzten Bleistifte. Wir brauchen keine gestimmten Gitarren. Wir brauchen keine wohltemperierten Klaviere. Denn wir tragen Dissonanz in uns. Und die muss raus. Harmonie ist harmlos, langweilig, reaktionär. In unserem Schädel, in unserem Herzen ist auch keine Harmonie. Es ist immer nur die Sehnsucht nach Harmonie, eine Annäherung, ein Erahnen, ein Tasten. Aber es bleibt Dissonanz. Unser Schädel, unser Herz, unsere Kunst. Walt Disney verfälscht die Liebe und pflastert junge Seelen mit Lügen zu. Die Schlagerindustrie produziert doch nichts als Hassmusik. Und die Blümchenlyrik der Germanisten ist das Feuer nicht wert, in dem wir sie verheizen sollten. Und auch diese Zeilen könnt ihr getrost den Flammen überlassen, sie sind nicht besser als das Sperrholz in euren Öfen. Wenn sie euch schon keine Unterhaltung bescheren, so sollen sie wenigstens eure fetten Leiber wärmen. Ich bin kein Entertainer, kein verdammter Alleinunterhalter, der euch an kalten Abenden hinfortführt in fremde Länder, zu ungehörten Abenteuern, der euer schales Leben mit Dichtung versüßt. Wenn ihr euch etwas erwartet, sei es Spannung, Spaß oder die Erleuchtung, habt ihr euch im Text vergriffen, ich habe euch nichts anzubieten. Ich bin stumm und habe keine Hände, mit denen ich schreiben könnte. Ich bin euch rein gar nichts schuldig. Also beschwert euch nicht, ich habe euch gewarnt.

mosaikX_Buchpräsentation_Manuel Riemelmoser (3)

[Birgit Birnbacher] so und jetzt dir das sagen. oder soll ich überhaupt? Ich könnt nichts sagen. bis am abend noch hier drin bleiben, bis sich der schlüssel im schloss umdreht. ich hör dich ja, wenn du kommst. jetzt noch ausruhen, bis du da bist, und zum weinen aufhören, und dann einfach den zettel herzeigen. geistesgegenwärtig bin ich immer schon gewesen, und so hab ich gleich zur doktor heidenreich

gesagt: kann ich das schriftlich haben bitte? dass ich das dir nicht sagen wollt und auch noch worte suchen für so was, das hab ich gleich gewusst. sofort in dem moment, als sie gesagt hat: nix mehr, da ist nichts mehr, das tut mir leid, das war nichts. eben, denk ich, da seh ichs wieder, und schau auf die seite, weil ich die doktorin nicht anschauen will, und hinaus beim fenster, wo milchig weißgelb die sonne gleich weggeht, obwohl es erst, wie ich auf der uhr an der wand seh, halb vier ist. ist ja november. und eben, denk ich, das ist es, wer an so was denkt anstatt zu trauern, der spinnt ja. die doktorin erklärt mir das weitere vorgehen und ich weiß genau, was sie meint, und lob sie in gedanken, dass sie das so schön sagt, so eine sachliche ist sie, denk ich mir, und, dass das ein wahnsinn ist, wie schnell die sonne hinter den berg geht.

aber dir das alles sagen? hättest du mich an dem morgen gefragt, ich hätte gesagt, dass ich so eine angst hab. Dass wir das nicht schaffen, mit dem „kind“. wir nennen es ja immer so. das fiktive kind. wir nannten es schon so, bevor es anfing zu sein. das kind. dass ich so eine angst hab, dass wir nicht mehr zusammen sind, wenn der winter vorbei ist, wie gesagt, das hätt ich gesagt. und in meiner phantasie hättest du gesagt: wir sind winterhart. ich bin ja überhaupt so hart, das hat mir die mutter immer schon gesagt, viel zu hart, nie lach ich. und deswegen und wegen dem amalgam in meinem mund hab ich damals den blinddarmdurchbruch gehabt, mit zwölf. bei mir im bauch hat ja noch nie etwas gehalten, der blinddarm auch nicht. und da fällt mir ein, das erste knopfloch, das ich genäht hab, auch nicht. das hält ja nie im leben, hat die mutter gesagt und es nachgenäht, aus angst vor der frau handarbeitslehrerin. nur so kram wie diesen hab ich im kopf.

noch bist du nicht heimgekommen. ich denke an meine anschrift. daran, dass an der tür mein name steht und deiner. familie steht nicht dabei. aber überlegt haben wir, am anfang beim einzug. bin ich froh, dass da nicht familie steht.

ich kram den zettel von der doktorin aus der hinteren hosentasche. hinten links, hab ich gedacht, damit ich ihn nicht noch aufwendig suchen muss, ich hab es heute schwer genug. da steht es. auch die doktorin schreibt nichts von familie. das wär auch zu arg. was die schreiben würde, wenn wir verheiratet wären, denk ich. aber so sachlich, wie die ist, würd die nie familie schreiben. aber da, da steht es, unübersehbar: frau. du drehst den schlüssel herum und merkst gleich, dass ich komisch im bad bin, ohne dass wasser läuft oder du sonst was hörst, und zu einer komischen tageszeit, um sechs schon und eben – total still. nichts hörst du, und deshalb sagst du zur tür: alles okay?

Was bleibt, wenn die Prophezeiung in Erfüllung geht? Wenn sich alles ins Gegenteil verkehrt und die Schönheit sterbend auf dem Boden kriecht? Auch wenn wir einen nach dem anderen anzählen, ankreuzen, abhaken – die alte Hure Hoffnung stirbt zuletzt. Wir springen und tanzen am Rand des ewigen Abgrunds und singen Lobeshymnen auf die Hölle, marschieren breitbeinig auf Messers Schneide und erfreuen uns an den Schmerzen zwischen unseren Beinen. Wir jubeln und schreien und zerfetzen die Echos mit den blanken Händen. Wir baden in heißem Wachs, um der Kälte und der Bitterkeit zu trotzen. Wir trinken, weil wir uns in der Finsternis nicht zurechtfinden.

mosaikX_Buchpräsentation_Markus Hittmeir (7)

[Markus Hittmeir] Der Wald war dichter geworden. Der helle Mond verschwand hinter einer Wolke. Die Lichtung wurde ganz dunkel. In diesem Moment bekam Reuel Angst vor der Welt und wusste, dass er nicht fliehen konnte. Er fragte sich verzweifelnd, wieso dieser Wald so sonderbar war und wie er in ihn hineingelangt war. Recht seltsam und interessant schien plötzlich die Leere zwischen den Pflanzen, recht rätselhaft war auch der schwarze Sand. Aber er ging kein Wagnis ein und blieb auf der Lichtung, lehnte sich auch wieder an den Stein des Brunnens, der ohne Mondeslicht ganz kalt war, und hing in seinen Gedanken fest.

In diesem Zustand harrte er aus, bis er hinter seinem Rücken das Geräusch brechender Äste hörte. Erschrocken drehte er den Kopf und bemerkte, dass er nicht mehr alleine war. Fünf Menschen waren auf der anderen Seite des Brunnens aufgetaucht und unterhielten sich. Ängstlicher als zuvor beobachtete Reuel die Gestalten, deren Gesichter er im Dunkel nicht erkennen konnte. Nur ungern hätte er die Anstrengung auf sich genommen und mit ihnen gesprochen, denn zu vieles wäre da, das er sie fragen wollte, zu vieles hätte er selbst zu erzählen. Zu wenig versprach er sich davon. Bald wurde ihm klar, dass seine Anwesenheit ihnen gar nicht aufzufallen schien. Sie waren einander Ablenkung genug und lachten und freuten sich und tranken den Brunnensaft aus diamantenen Kelchen. Und Reuel, der saß recht unruhig da und hätte sich am liebsten aufgehängt. Stunden vergingen, und während es dunkler und kälter wurde, lauschte und schwieg er und wünschte sich, er hätte die Lichtung wieder für sich allein, hätte wieder Wärme in seinem Körper und Glück im Herzen. Irgendwann gefiel ihm das nicht mehr. Da stand er auf und wollte gehen. Noch bevor er den ersten Schritt tat, spürte er eine dumpfe Schwere, die sich in seine Stirn legte und auf die Augen drückte, die nun nur noch verschwommen wahrnahmen, was ihn umgab. Das Denken fiel ihm schwer und der Boden drehte sich um. Er fühlte Sand durch seine Hände in seinen offenen Mund laufen, während seine Beine baumelten. Reuel versuchte, seinen Körper aus der Lichtung zu ziehen, doch er war ganz schwach und sah sich seiner Lage ohnmächtig ausgeliefert. So hielt er sich fest, niedergedrückt von irgendeiner Kraft, und weinte erbärmlich laut. Durch tränende Augen versuchte er, seine Umgebung zu erkennen, und als er seinen Kopf noch höher hob und auf einen Punkt starrte, der auf dem Pfad weit außerhalb der Lichtung lag, konnte er die Umrisse einer schwarz gekleideten Gestalt ausmachen, die dort aus den Bäumen trat und sich ihm rasch näherte. Reuel bekam fürchterliche Angst und schrie um Hilfe. Als dasWesen ganz nah war, nahm er in seiner Verzweiflung Sand in beide Hände und warf damit um sich, doch vergebens.Er wurde von einem kräftigen Arm gepackt und hunderte Meter den Weg entlang geschleift, fort von der Lichtung. Reuel war nun völlig kraftlos und ließ alle Spannung aus seinen Muskeln, ließ alle Gedanken aus seinem Kopf entweichen und legte ihn in den Nacken. Gleich verschwand die dumpfe Schwere aus seiner Stirn und sein Blick wurde wieder scharf. Just in diesem Moment hatte man ihn fallengelassen und die Gestalt verschwand wieder im Wald. Er aber blieb regungslos liegen.

X ist das heilige Nein der Andersdenkenden.

X ist die Entscheidung für eine neue Zukunft.

X ist Askese.

X ist nichts für Kinder.

X ist nur ein Buchstabe.

X ist Multiplikation, Steigerung, Entwicklung.

X ist ein Kuss.

X ist Gefahr.

X ist nicht der Rede wert.

X ist das Zeichen in der Ecke des Fernsehers, wenn sie einen Film mit deiner Mutter zeigen.

mosaikX_Buchpräsentation_Lisa Viktoria Niederberger (8)

[Lisa Voktoria Niederberger] Mia ham an Zombiefüm gsehn voahea, iagndso an primitivn austauschbarn, an von diese Füme, die hoit grad so boomen und kana was wieso. Wann is a Wötuntagangsszenario eigntlich zu Untahoitungskino woan? – Mia soitn uns fiachtn, wann ma eahlich san. Voa dem, was da Menschheit nu blüht. Aba na, mia findns supa. Mia glaubn, mia kennatn uns beweisn, wann die Wöt untageht. Mia waratn die Guadn, mia waratn die Leader. Kämpfn, si beweisn miassn. Alles kompletta Bullshit.

Uns gehts afach z guat. Des glaub i zumindast. Da mach ma imma so an auf oam, mit die bösn Studienrefoamen und Tabakgesetze, die ach so schrecklichn Professoan, die net gendern tan und lauta so Dreck. Jo jo, die oame Woihstandsgsöschaft is am sudan. Und weil ma ebn net tagtäglich ums Übalebn kämpfn miassn, so wies unsre Uamenschnvoafahrn gmacht ham, und es aba trotzdem nu oiwei in unsre Gene steckt, sehnen ma uns insgeheim alle nach ana Zombieapokalypse. Genau dasöbe Grund, warum si voa 100 Jahr die jungan Habara gfreit ham, dass in eastn Wötkriag eiruckn ham deafn. Da hams a wieda zagn kenna, dass richtige Männa san. Oda sie warn afach scho genauso deppat, wia mia heitzutage.

Kamatn die Zombies, i vasteckat mi in die Berg. Mit a poa Viecha und so vü zum Essn wie möglich. So schnö kennatst goa net schaun, hätt i scho a Auto gfladat, mein Oidn eipackt und warat iagndwohin in Pinzgau auf an Berg aufi gflücht.

Und genau des stell i ma jetz voa, jetz wo i net schlafn kann und z faul bin, dass i mein Ma aufweck für Sex, wei da Tag z lang woa und des Abndessn zu kohlehydratlastig. I stö ma voa, wia die Wöt untageht, währnd mia auf unsam Berg sitzn und Kiah ham und Brot söba backn und jedn Tag Hoiz hockn miassn, damit ma am Abnd hazn und uns mit woamam Wassa waschn kennan.

Mia san gschlaucht, weil ma den ganzn Tag draußn woan und ghacklt ham, unsa Lung is frisch ausputzt von da ganzn Bergluft, weil ma natürlich in da ganzn Wötuntagangshektik net dra dacht ham, dass ma Tschick mitnehman aufn Berg. Und nach a poa Tag föhns uns a scho nimma. Im Endeffekt is des wie in so am Heimatroman aus de Fufzga. Nua hoit mit vawesate Anthropophagn dazua.

Abnds sitz ma draußt auf de Stufn von unsara Hittn und saufn söbabrenntn Ziamschnaps und dazu Tee aus die högrünan Spitzn vom Tannenzweig, afach schnö mit haßm Wassa aufgiaßn, is recht vü Vitamin C drinnan – sagt zumindest dea ane Brite da, dea im Feansehn imma sei Pisse trinkt, wann a si allane mit am Kamarateam iagndwo in da Wüdnis aussetzn lasst – und vazöhn uns Zeig.

Oiso – i vazöh, bessa gsagt.

Davo, wie die Penelope daham gsessn is und gwebt hat und gwoat hat, ihr hoibs Lebn lang, währnd da Odysseus iagndwöche bledn Weiba gschuastad hat und dann trotzdem wieda ham kumma is und ois woa wieda guat. Und dass da heilige Christopherus – oiso dea, den a jeda am Rückspiagl hänga hat – eigntlich a Kynokephale woa, bis a in Jesus üba an Boch drüba tragn hat. Oiso a Mensch, mit dem Schädl von am Hund, wann ma s genau nimmt.

„Die Vergangenheit ist obsolet“, sagte X und zündete sich eine weitere Zigarette an. Ich fand sie immer ganz okay, aber so richtig leiden konnte ich sie nie. Ich weiß nicht, ob es an ihrer eigenartigen, gekünstelten Art lag oder an ihrer seltsamen Unterwäsche. Vielleicht waren es auch die Obertöne, die ihre Stimme produzierte. Jedenfalls hatte ich die meiste Zeit das Bild vor Augen, wie ich ihre Kehle mit einem Küchenmesser durchschnitt. Ich würde nicht sagen, dass ich sie hasste. Trotzdem war ich froh, als sie eines Tages in ein Flugzeug stieg und sich nicht mal umdrehte.

mosaikX_Buchpräsentation_Sarah Eder (9)

[Sarah Eder] Drei Schnitte. Zwei links und einer im Bauchnabel. Ich wache nach der Operation in meinem Zimmer auf, das ich mir mit Maria, der kaputten Gebärmutter, und Doris, dem Brustkrebs teile. In meiner Hand juckt der Zugang für die Infusionen, an meinen Beinen die Thrombosestrümpfe. Auf meinem linken Beckenrand ein bleich gewischtes X, das sie mir vor der OP auf die Seite malen ließen, wo später das Vielleicht raus darf.

Bis ich das große X auf meinen Bauch zeichnen durfte, vergingen schon einige Kreuze in der Klinik. Weiblich? X, ledig, X, ob ich rauche? X. Ob ich eine vorbelastete Krebsfamilie habe? Halbes X. Ob ich auf was allergisch sei? Kein X. Kinderwunsch? Empörtes X. Ach ja, und beim X unten dann bitte unterschreiben, dann schieben sie mich in den OP. Kurz vor dem langen Schlaf fühle ich mir noch alles genau an – das blaue Hemdchen ohne Hinternstoff, die engen Strümpfe ohne Laufmaschen, der zu einer Unterhose zusammengebastelte Verband mit Einlage, die trotzige Infusion in meinem linken Unterarm. Alles juckt. Alles ist zu grell.

Im Halbschlaf sehe ich das fürchterliche Gestell, ein nach oben gekippter Frauenarztstuhl, über das sie später meine Beine ziehen werden, damit sie mich wie ein Hühnchen ausnehmen können. Ich kann mir weder vorstellen, meine Beine in dem Winkel wie ein X zu spreizen, noch in dieser Stellung mit dem Kopf nach unten zu atmen. „Ich will das alles nicht mitkriegen“, gestehe ich den blau eingemummten Köpfen über mir. – Deshalb schlafe ich auch gleich, meint der Narkosearzt durch seinen Mundschutz zu mir und sagt zu meiner Verwunderung noch: „Und tschüss,gell?“, bevor mich die Narkose in die Ohnmacht reißt. Ich bin froh, wenigstens mit einem Lächeln über dem Hühnchengestell zu liegen. Haben die wahrscheinlich auch selten.

Beim Aufwachen macht es tatsächlich piep.piep.piep, wie man es nur aus Filmen kennt, wenn der Herzschlag mitspielen muss. Ich brauche mich nicht mal zu bewegen um mitzukriegen, dass mir alles wehtut, mein Unterleib mit Nähten und Schnitten voll ist und dass die Einlage in der Verbands-Unterhose doch einen Sinn hatte. Ob ich Schmerzen habe? X. Der gefühlt fünfjährige Pfleger schiebt mich zurück in das Zimmer meiner Verbündeten, meines Krebsteams im Basislager. Er freut sich aufs Ende seines Zivildienstes. Das arme Kind. Wahrscheinlich hat er noch nie ein Mädchen nackt sehen dürfen und schiebt nun reihenweise zerfetzte Unterleiber in ihre Zimmer zurück, um ihnen dort die Windeln zu wechseln. Auf seinem Schild steht Fabian. Ich sage ihm, dass er meine Windeln nicht wechseln muss. Sein Kopf nimmt die Farbe seines Pickels an. Ich will ihm so gerne sagen, dass nicht alle unten so aussehen und dass er jetzt nicht Angst haben müsse. Aber was solls, hier im Krankenhaus haben wir alle Angst. Alle hier fürchten sich. Haben Sie Angst vor dem Eingriff? X.

Als Fabian geht und meine neue Windel auf den Nachttisch legt, bin ich noch nicht ganz wach. Doris auch nicht. Ihre Drainage hängt seitlich neben ihrer Brust und tropft den Eiter raus, damit die Wunde sauber bleibt. Wir bekommen Vanille-Pudding zur Seite gestellt. Er schmeckt nach nichts. Wie alles hier. Nur Styropor und Deckweiß, keine Keime zum Salzen der Gemüter. Alles hier steht still.

Nie ist man sich seiner Sterblichkeit so sehr bewusst wie kurz nach der Narkose, zwischengelagert im Lazarett, jeder mit Schläuchen irgendwo an die Wand getackert. Draußen glüht der Christkindlmarkt, hier drinnen haben sie uns zwei Christbaumkugeln mit Tixo ans Fenster geklebt. Draußen der fettige Krapfen, drinnen der laktosefreie Pudding. Draußen der Herzschlag, drinnen das piep. piep.peip. Vor den Türen die Keime, hier im Zimmer das Deckweiß. Am Christkindlmarkt der Alkohol in den gierigen Mündern, bei uns auf einem Wattepad zum Desinfizieren. Draußen das Leben, drinnen der Tod.

Ich hebe mein taubenblaues, arschfreies Hemdchen: Drei Schnitte. An meinem rechten Handgelenk baumelt das Krankenhausarmband mit Zifferncode, das ich wahrscheinlich auch zur Not über den Supermarkttresen ziehen kann, wenn ich verlorengehe. Dort scheint dann auf, dass ich eine Zyste am Eierstock hatte, die nach Krebs riecht. Oder gerade noch nicht. Maria meint, sie will es noch rechtzeitig schaffen und ein Lichtwesen werden. Sie sagt, sie habe keine Zeit mehr. Schwester Kerstin bestimmt, sie gebe mir eine Infusion, dann werde alles „beeesa“ und kärntnert sich durch das tumorige Zimmer.

Im Allgemeinen glauben ihr viele, dass sie diese wonnige Schwester sei, der eben vor gar nichts grause und die alles „im Griiief“ habe. Nur wer genauer hinsieht, merkt, dass sie sich ebenso wenig für andere interessiert, wie die Christbaumkugeln liebevoll an die Fenster geklebt wurden. Sie muss eben diese dicke, hetzige Schwester Kerstin sein, wie denn auch nicht? Sie hat eben diesen großen Hängebusen, ein vernarbtes Kartoffelnasengesicht, eigentlich keine Beine und auch sonst keine nennenswerten Körperteile. Doch, Ellenbogen hat sie. Die setzt sie auch ein, wenn sie sagt, „Schwester Steeefi und Pfleger Rooobat“ wären schon wieder zu spät gekommen und dass sie aber „eh nichts“ sage, sie sei ja nicht so. Ob uns die Christbamkugalan gefallen? Kein X.

Wir sind die Generation ohne Ziel. Wir bewegen uns nicht auf etwas Großes zu – auf kein Goldenes Zeitalter, keine Auferstehung, keinen Endsieg. Im Gegenteil: Wir laufen in rasendem Stillstand vor einem Abgrund weg. Einem Abgrund, der gar nicht existiert. Wir fliehen vor den schreienden Geistern, die uns heimsuchen, voller Angst und in stumpfer Agonie. Hinter uns die Sintflut, vor uns nichts als Ungewissheit. Das ist unser Leben. Und unsere Musik ist das Rauschen und Klicken, das ewige Pfeifen in unseren Ohren. Das Kratzen, Knistern und Knarren der Maschinen ist unser Gesang. Zweifel ist unser tägliches Brot und Whiskey unser Schlaflied. Wir trinken bis wir schlafen und wir träumen bis wir kotzen. Uns wurde gesagt, wir sollen sein wer wir sind oder zumindest versuchen, zu werden wer wir sind, aber wir wissen, dass das niemals reichen wird. Von Anfang an waren wir zum Scheitern verurteilt. Deshalb wollen wir nicht wir sein, sondern anders. Nur als andere haben wir überhaupt eine Chance. Die Sterne fallen auf die Erde und verglühen in unseren Herzen. Mehr kann ich nicht berichten.

mosaikX_Buchpräsentation_Andreas Haider (11)

[Andreas Haider] „So, jetzt noch ein rotes X auf das Pergament und die Schatzkarte ist fertig“, presste Kapitän Xavier, der Schrecken der Südwestkaribik, durch seine Zähne. Seine Hand tauchte den Pinsel ins Meerwasser, eine Wolke schwarzer Tinte löste sich und ließ sich von den Fluten wegtragen. Dann tunkte er den Pinsel in das Glas mit der roten Tinte. Plötzlich stockte er. Er blickte seinen Steuermann, den hochgewachsenen, breitschultrigen, rothaarigen Iren namens O’Leary an. „Was ist?“ fragte dieser und setzte noch nach: „Hier kommt jetzt ein X hin. Hast du etwa vergessen, wo wir den Schatz vergraben haben?“ – Der Kapitän schüttelte den Kopf: „Das ist es nicht, O’Leary. Ich habe mich gerade gefragt, ob wir das X nicht lieber mit unserem Blut schreiben sollten statt mit roter Tinte…“

O’Leary runzelte die Stirn: „Wieso denn das?“ – „Na, wegen des Images!“ O‘Leary sah ihn immer noch fragend an: „Verstehe ich nicht.“ – „Wegen des Klischees! Hast du noch nie Piratenromane gelesen? Dort kommt das immer vor, dass die Crew eines Piratenschiffes das X auf der Schatzkarte mit ihrem eigenen Blut schreibt. Jeder ritzt sich den Finger auf und malt dann das X auf die Karte. Dadurch besiegelt jeder das Geheimnis des Schatzes, das niemand von uns jemals preisgeben wird, bei seiner Ehre als Seeräuber und Halsabschneider.“ Der Steuermann schüttelte nur ungläubig den Kopf: „Was ist denn das für ein Unsinn?“ – „Naja, ich meine ja nur… War halt so eine Idee.“ […]

Der Kapitän schluckte. Dann atmete er tief durch. Er setzte wieder an, das X zu malen, meinte dann aber: „Eigentlich ist die Karte so doch perfekt, oder? Wozu brauchen wir denn ein X? Wir wissen doch, dass wir den Schatz zwischen der Palme und dem Felsen da hinten eingegraben haben. Ist es da nicht sicherer, wenn wir das X weglassen? Wenn die Karte in falsche Hände gerät, dann finden unsere Feinde doch den Schatz! Aber wenn wir das X weglassen, und auf der Karte die Insel mit der Palme sehen, wissen wir, und zwar nur wir, dass dort der Schatz ist! – Ist das nicht eine geniale Idee?“ – O’Leary brummte nur grimmig zurück: „Stell dir mal vor, wir vergessen alle, wo wir den Schatz vergraben haben – dann finden wir ihn nie wieder! Das ist gar nicht so unwahrscheinlich, mit dem Alter wird man vergesslicher! Und dann wars das mit unserer Vorsorge. – Oder wir gehen beide bei einem Seegefecht drauf, oder krepieren an der Leberzirrhose. Wie soll die Mannschaft dann den Schatz wiederfinden?“ – „Aber die haben ihn ja mit eingegraben! …eigentlich haben ja nur sie gegraben, während ich die Karte gezeichnet habe. – Stell dir vor, eine Schatzkarte ohne X. Wäre das nicht genial? Das würde die ganze Schatzkartenmalerei revolutionieren. Eine völlig neue Art der Kartographie und ich habe sie erfunden! Meine Karten werden in Museen hängen und ich werde gerühmt werden wie der große Mercator!“

Er malt ein großes X auf jede Seite. Fein säuberlich von links oben nach rechts unten und von rechts oben nach links unten. Er führt den Stift mit ruhiger Hand; er weiß, was er tut. Die schwarzen Linien entstellen die Wörter, sie entweihen das, was heilig war, und legen lang versteckte Lügen frei. Eine rituelle Schändung, ein Akt der Gotteslästerung. Im Schnittpunkt sitzt das Zentrum der Revolution. Das Wertlose, Sinnlose, Belanglose muss getilgt werden. Denn wir brauchen keine Philosophen und keine Dichter mehr, wir brauchen keine Priester, keine Politiker und keine Führer. Denn wir selbst sind Philosophen, Dichter, Priester, Politiker und Führer. Wir sind die Kapitäne unserer eigenen mickrigen Flöße, Egofetischisten auf dem totalen Machtrausch. Wir brauchen keine Liebhaber, denn wir lieben uns selbst. Wir brauchen niemanden, denn wir wissen alles. Wir tanzen um das Goldene Kalb des Ich und singen Hymnen an den Müll. Und wenn sie irgendwann den großen Stecker ziehen, ist alles verloren. Dann bleibt uns nur der Dreck und die Dunkelheit.

mosaikX_Buchpräsentation_alle AutorInnen (12)

X ist genau jetzt und hier. X ist immer und überall. X ist alles und nichts.

X ist die große Unbekannte. X ist das, was vor dem Urknall war. X ist der Anfang und das Ende, der Anfang und das Ende.

mosaikX_Buchpräsentation_Büchertisch (1)

X
Kurzprosa

mit Texten von Birgit Birnbacher, Sarah Eder, Andreas Haider, Markus Hittmeir, Florian Lambrecht, Thomas Mulitzer und  Lisa Viktoria Niederberger

ab sofort erhältlich

Fotos (c) Leonhard Pill