Bevor alles verschwindet

Papa wartet schon vor der Haustür. Mein Herz schlägt schnell, wie immer, wenn ich ihn besuche. Ich atme tief durch. Steige aus dem Wagen, nehme die Kuchenschachtel vom Beifahrersitz.

Das Gras im Vorgarten ist von Reif überzogen. Eine graue Wolkendecke verhängt den Himmel. In zwei Wochen ist Weihnachten und meine Töchter wünschen sich Schnee.

Ich hingegen hoffe auf einen warmen Winter. Mir graust bei der Vorstellung, Papa könnte die glatte Vortreppe hinunterstürzen.

Papa tapst mir entgegen. Er ist noch dünner geworden. „Hallo Marlene.“

Seine Umarmung riecht nach saurer Milch. Ich wende den Blick ab vom Schmutzrand, der seinen Hemdkragen einsäumt.

Wie immer erkundigt er sich zuerst nach Uwe und den Mädchen, und ich muss ihm versichern, dass es allen bestens geht.

Er nimmt mir den Kuchen ab. „Brauchst dir doch nicht solche Umstände zu machen“, murmelt er, aber ich sehe am Leuchten seiner Augen, wie sehr er sich freut. Auch wenn es meine Backkünste bei Weitem nicht mit denen meiner Mutter aufnehmen können.

Im Flur riecht es nach nasser Wolle. Ich stelle ein umgestürztes Paar verdreckter Gummistiefel auf, gehe in die Küche und unterdrücke ein Seufzen. In der Spüle stapelt sich Geschirr, der Herd ist übersät mit Soßenspritzern, der Boden fleckig. Aus dem Mülleimer hängt eine Bananenschale wie eine ausgestreckte Zunge.

Als ich das letzte Mal anbot sauberzumachen, wurde Papa wütend. Auch von einer Putzhilfe wollte er nichts wissen. Seitdem schwelt das Thema zwischen uns, und beide haben wir Angst, dass es erneut aufflammt und wir uns daran verbrennen.

Ich öffne den Kühlschrank, wo ein Stück Käse und zwei Möhren vereinsamen, und stelle den Topf mit Suppe hinein, die ich ihm vorgekocht habe.

Im Küchenschrank finde ich löslichen Kaffee und glücklicherweise noch sauberes Geschirr. Ich setze Wasser auf, schütte Kaffee in die Tassen und hole den Kuchen aus der Form.

Die Eckbank quietscht, als Papa sich setzt.

„Ach Marlenchen“, seufzt er. „Gedeckter Apfel.“

Er strahlt mich an, und ich streiche ihm über den Handrücken.

Der Kessel pfeift, ich gieße Wasser in die Tassen. Aus meiner Tasche hole ich eine Packung H-Milch. Fehlen nur noch die Gabeln.

Die Besteckschublade ist leer. Ich ziehe ein Schubfach nach dem anderen auf, irgendwo werden doch noch zwei saubere Gabeln sein.

„Lass doch, Marlene. Essen wir den Kuchen halt auf der Hand.“

Ich reiße die letzte Schublade auf. Und erstarre.

Statt Besteck finde ich ein Schreibheft. Mamas Name steht darauf. In ihrer Handschrift. Ich nehme es heraus, halte es hoch.

„Was ist das?“

Papa senkt den Kopf. „Ich hab es vor ein paar Wochen da drin gefunden.“

Ich setze mich zu ihm an den Tisch. Schlage das Heft auf.

Bevor alles verschwindet.

Ich muss schlucken und lese trotzdem weiter.

Heute war Marlene mit den Mädchen da, Lisa und Alina. Das weiß ich nur, weil Marlene sie so angesprochen hat: Lisa und Alina, zeigt mal der Oma, was wir ihr mitgebracht haben.

Ich hatte ihre Namen vergessen. Dabei sind sie so schön.

Ich erinnere mich an jenen Nachmittag, weil es da anfing. Sehe meine Mutter vor mir, wie sie da saß, den Blick auf ihre Enkelinnen gerichtet. Ein Blick wie eine offene Wunde. Weil sie ahnte, dass ihr Geist zerfallen würde.

Ich blättere weiter, lese quer. Alltagsbeschreibungen und Eindrücke. Ein herrlicher Herbsttag. Himbeertorte! In dem Stil. Von Seite zu Seite wird die Schrift krakeliger. Wörter weichen Zickzacklinien und werden durch hilflose Umschreibungen ersetzt: roter Baum statt Ahorn.

Später klaffen ganze Lücken in den Zeilen. Irgendwann hat Mama mitten im Satz abgebrochen. Die Leere, die dahinter gähnt, offenbart ihre ganze Verzweiflung über das zunehmende Nichts in ihrem Kopf.

Die Trauer schlägt mich mit voller Wucht. Ich schließe die Augen, aber die Tränen kommen trotzdem.

Plötzlich fühle ich Papas Hand auf meiner Schulter.

„Ich konnte es nicht wegwerfen“.

Seine Stimme vibriert.

Mit Hingabe hatte sich Papa, obwohl er gerade einen Schlaganfall überwunden hatte, an der Betreuung meiner Mutter beteiligt. Seit ihrem Tod schwindet ihm die Kraft.

Seine Hände zittern.

„Komm, wir essen Kuchen“, schlage ich vor. „Ich habe ihn nach ihrem Rezept gebacken.“

Er nickt, als wäre das ein Trost. Wir essen mit den Händen.

„Sie fehlt mir so, Marlene.“ Die Worte rieseln leise aus seinem Mund.

„Papa. Möchtest du nicht doch zu uns ziehen?“

„Nein.“

Mit dem Zeigefinger schiebt er ein paar Krümel auf dem Teller hin und her. „Ist lieb von euch, aber … Manchmal bilde ich mir ein, sie ist noch da. Dann hör ich ihr Lachen, ihre schnellen Schritte.“

Ich lege meine Hand in seine. Seine Haut ist rau, übersät mit hornigen Zähnchen. Sie verhaken sich in meiner Handfläche, als wollten sie verhindern, dass wir uns voneinander lösen.

„Dann komm wenigstens über Weihnachten. Bitte, Papa.“

Er wiegt den Kopf hin und her.

Plötzlich fallen mir die Sterne aus Goldpapier ein, die meine Töchter für ihn gebastelt haben. Ich ziehe sie aus der Tasche.

„Ach.“ Seine Finger streichen über die krummen Zacken, sein Blick driftet weg, zu einer Erinnerung, vielleicht daran, wie meine Mutter zur Weihnachtszeit das Haus schmückte, mit Tannenzweigen und Strohsternen, Kerzen vor den Fenstern.

„Na gut.“ Er räuspert sich. „Aber jetzt musst du zu deiner Familie.“

Er hat recht. Draußen dämmert es schon. Er steht auf, taumelt, und ich packe ihn gerade noch rechtzeitig. Er sieht mich an, und seine Augen spiegeln meine Furcht: vor dem Tag, an dem er stürzen und ich ihn hier leblos finden werde.

„Bis nächste Woche.“

Papa umarmt mich, wir halten uns ein paar Sekunden.

Wie immer schließt er hinter mir ab. Ich weiß, dass er mir durch das Glas der Haustür nachschaut, bis mein Wagen hinter der nächsten Kurve aus seinem Sichtfeld verschwindet.

 

Martina Berscheid

 

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