freiTEXT | Maik Gerecke

Alles auf Null

Ich musste einfach raus. Raus aus dem Alltag, raus aus Berlin. Ich liebe die Stadt, keine Frage, aber welche Beziehung hat bitte jemals zu viel Nähe vertragen?

Deswegen kam der Auftrag gerade richtig. Es ging um ein »Schloss«, wie die Eigentümerin es nannte, für das sie leider bis nächste Woche schon ein Gutachten bräuchte. Geld spiele keine Rolle. Mein Kollege Frank hatte die Nase gerümpft und »Dit is ja fast in Polen« geseufzt, aber ich sah darin sofort die Gelegenheit. Deshalb übernahm ich das für ihn opferte der Firma heldenhaft mein Wochenende. Gleich gegenüber vom Objekt liegt ein alter Getreidespeicher oder so was, den man zu einer Art Herberge umfunktioniert hat. Mit Kneipe unten drin, perfekt also. Ich nahm mir ein Zimmer und verließ am Freitagmorgen die Stadt, nichts ahnend, dass dieser Zufall nicht so glücklich ausfallen sollte, wie es den Anschein erweckte.

Das Schloss ist in miserabler Verfassung. Mauerwerk und Fundament sind gerade noch zu retten, aber der Wald nagt schon daran. Insgesamt ist der Bau so marode, dass die Sanierung mehr kosten würde als der Neubaus. Zudem hat es sich eine beachtliche Population brauner Langohrfledermäuse unter dem Dach gemütlich gemacht.

Am Abend nach der Begehung sitze ich gegenüber auf der Terrasse und beobachte, wie eine rot-braun getigerte Katze zielsicher um die Schlossfassade schleicht. Von hier aus ordne ich eher in die Kategorie Altes Gutshaus, wofür auch die Bauinschrift an der Front spricht.

»Willste noch eens?« reißt mich der Kneipier aus den Gedanken und zeigt auf mein leeres Bier. Ich nicke, reiche ihm das Glas und frage bei der Gelegenheit, was er mir über das Gebäude erzählen kann. Er lächelt müde.

»Dit Ding hat mehr Regime jesehen wie icke«, schmunzelt er. »Ende 17. Jahrhundert gebaut, um 1900 rum komplett-erneurt, dann: Kaiserreich, Weimarer Republik, Nazis, Osten, Kapitalismus. Und den Klimawandel überlebt’s auch noch. Wett ik drauf.«

Ich stelle gern solche Fragen unter Ansässigen, will Entscheidungen über ihren Lebensraum nicht allein der Willkür von Hausbesitzern überlassen; und es ist auch vorgekommen, dass ich ein Objekt der Denkmalschutzbehörde gemeldet habe. Oder dem Naturschutz.

Ich bedanke mich für die Auskunft und der Kneipier zieht ab. Zu meiner Überraschung sind die Tische gut besetzt und ich fühle mich fast etwas einsam so allein an meinem. Alles lacht und erzählt und als mein Blick über all die fremden Gesichter hinweggleitet – sehe ich sie plötzlich. Eine Familie mit zwei Kindern betritt gerade die Terrasse und setzt sich an ihren Tisch. Herzliche Umarmungen, Wangenküsschen, Gelächter. Die Szene zieht nur kurz meine Aufmerksamkeit auf sich, aber mehr braucht es nicht, um sie zu erkennen. Ihr Anblick lässt mich schockgefrieren. Wie kann das sein! Sie? Hier? In diesem Kontext?

Sie sieht anders aus als damals, trägt Make-up, hat sogar eine richtige Frisur. Trotzdem genügt ein Blick in ihre Augen und all die bitteren Gefühle, die ich über Jahre so mühselig in irgendeine finstere Ecke meines Unterbewusstseins verfrachtet habe, sind binnen Sekunden wieder da. Als wären sie nie weg gewesen.

Sie heißt Marla und sie ist der erste Mensch, dem ich im Leben wirklich begegnet bin. So beschreibe ich es bis heute, wenn ich von der »guten alten Zeit« erzähle. Kennen gelernt haben wir uns in der Welt der linken Hausbesetzer, auf einem Konzert, das jemand in seinem Wohnzimmer veranstaltete. In der Brunnenstraße 183 war das. Marla wohnte damals in der Liebig13, ich in der Köpi, und wie alle unsere Freunde, glaubten wir fest, dass Anarchie und Kommunismus eine Zukunft hätten.

Wir entdeckten schon nach drei, vier Sätzen unsere gemeinsame Leidenschaft für alte Häuser. Es dauerte keine Stunde und wir waren ein Team. Nicht mal eine Woche verging, bis wir ohne große Worte klar kommunizieren konnten: Marla zeigte mir ein Foto, zum Beispiel vom Stadtbad Lichtenberg, ich sagte: »Sonntag?«, überlegte, ob ich nochmal meinen Dealer – aber sie sah meinen Ausdruck und sagte: »Hab noch genug« und ich sagte: »Na gut, dann kauf ich den Wein.«

Wir bereisten eine Berliner Ruine nach der anderen, verbrachten ganze Nächte darin, studierten ihre Geschichten, erzählten sie weiter bis ins 23. Jahrhundert. Wir fühlten uns wohl, so seitab der Welt und in den Überresten vergangener Zeiten spukend, hatten keine Angst, wenn es dunkel wurde. Wir waren die Gespenster, die dort ihr Unwesen trieben.

Ein Abenteuer, an das ich mich bis heute gerne erinnere, ist das Haus der Statistik am Alexanderplatz. Unser mit Abstand größter Coup. Es war an Silvester und wir hatten über hundert Euro im Baumarkt gelassen – ein Seil, ein Brecheisen, Schutzhandschuhe – hatten der Kassiererin dieses offensichtliche Jungeinbrecher-Starterkit aufs Band gelegt und die hatte uns mit erhobener rechter Augenbraue angestarrt, bevor sie schweigend die Preise in die Kasse tackerte.

Als wir uns später seitlich an den Flachbau heranpirschten, war es längst dunkel und in der Ferne explodierten Böller und Raketen, während wir im Schutz der Büsche ein Fenster aufhebelten. Es dauerte ewig, bis wir drinnen waren, aber sobald unsere Füße auf dem alten Büroteppich standen, tanzten und kicherten wir wie zwei Grundschulkinder. Unser Ziel war das Dach des zweiten Turms von wo aus man direkt auf den Fernsehturm schaut. Der Weg dahin führte uns durch dunkele Kellergewölbe, über Möbelberge, wir kletterten aufs Zwischendach, drüben wieder rein. Ständig trafen wir auf Hindernisse, mussten umkehren, einen anderen Weg suchen. Aber wir gaben nicht auf. Wir gaben nie auf, wenn wir zusammen waren.

Nach über einer Stunde endlich im zehnten Stock des zweiten Turms angekommen, verzweifelten wir beinahe an der Suche nach dem Dachaufgang. Wir irrten durch verwüstete Flure, Klos und Büros und vor den Fenstern explodierten Raketen im Sekundentakt, tränkten die Dunkelheit in jede Farbe des Regenbogens. Bilder wie aus einem Traum. Und als wir endlich das Dach betraten, war das ein Gefühl für das ich bis heute keine passenden Worte finde. Unter uns die Stadt, die Menschen klein wie Insekten, gegenüber der majestätische Fernsehturm und um Null Uhr ein Feuerwerk – buchstäblich aus der ersten Reihe – zu dem wir Sekt aus Plastikbechern tranken. Dort oben war man jenseits der Dinge. Sah der Realität nur zu. Du warst, was du bist, ohne Angst vorm Gestern oder Morgen. Nicht mal nach Drogen verlangte es uns, wir vergaßen sie einfach. Stattdessen teilten wir jedes letzte Geheimnis, von dem man wirklich nie gedacht hätte, es jemals irgendwem zu erzählen. Alle Grenzen waren offen und wir so high von dieser Nacht, dass wir beschlossen im neuen Jahr alles auf Null zu setzen. Es besser zu machen als jemals zuvor. Was immer das bedeuten mochte.

Etwa zwei Jahre nachdem Marla verschwunden war, krempelte ich mein Leben komplett um. Ich machte unsere Leidenschaft zu meinem Beruf und wurde – Baugutachter. Genug gekämpft, dachte ich, genug geopfert und gescheitert. Das Kapital spekulierte weiter die Welt zugrunde, schluckte unaufhaltsam ein Hausprojekt nach dem anderen, renovierte und kernsanierte ihre Frei- und Vergangenheiten davon und ich – zog in eine Schöneberger Altbau-Wohnung. Zwei Zimmer, Küche, Bad, 65m², Dielenboden und Stuck an der Decke.

Und jetzt – jetzt sitzt sie einfach da, Marla, und ich kann nicht anders, als zu starren. Irgendwann bemerkt sie meinen Blick und erkennt mich sofort so wie ich sie vorhin, was ihren Gesichtsausdruck in sich zusammenfallen lässt. Das Tischgespräch zupft von rechts und links an ihr und sie bemüht sich zu tun, als wäre nichts. Dabei schaut sie ständig heimlich zu mir rüber. Ähnlich wie damals in der Brunnenstraße.

Nach 15 Minuten Augenpingpong steht sie auf. Sie verlässt ihren Tisch und läuft Richtung Tresen, aber kurz bevor sie im alten Getreidespeicher verschwindet, wirft sie mir diesen kurzen Blick zu, den ich sehr gut kenne. Und ich stehe auf, um ihr nachzulaufen.

Im Jahr nach dem Dach wurde dann die Liebig13 geräumt und ab da ging’s steil bergab. Marla zog zu mir in die Köpi und ich verlor kurz darauf meinen alten Job. Wir verschmolzen in diesem Jahr, waren ohneeinander nicht mehr vorstellbar. Manchmal waren wir tagelang unterwegs, tranken und koksten uns durch Bars und Clubs, zerstreuten uns danach und wussten Tage-, mitunter Wochenlang nicht, wo der andere war. 2014 starb Marlas Großmutter und hinterließ ihr eine Geld. Viel Geld! Marla ergriff die Gelegenheit und lud mich ein mit ihr auf Reisen zu gehen. Sie wolle raus, meinte sie. Raus aus allem. Erstmal Europa, dann mal sehen. Es wurden unsere beste Zeit seit Langem. Jeden Tag eine neue Stadt, ein neues Land oder Lost Place irgendwo in Europa.

In Portugal dann, mitten in Lissabon, verschwand Marla. Kein Abschiedsbrief, kein Warum, nichts. Typisch Marla. Nur ein paar Hundert Euro auf dem Nachtisch. Ich respektierte ihren Wunsch, fuhr ein paar Tage später nach Deutschland zurück und sah sie nie wieder.

Als ich an der Theke vorbei zu den Toiletten gehe, steht Marla schon da und wartet. Sie sieht mich an, schüttelt den Kopf, zieht die Schultern hoch und ich antworte indem ich mit dem Arm in Richtung Schloss zeige. Marlas Augenbrauen sagen: War klar, dass wir uns so oder so ähnlich wiedersehen. Und ich nicke: Allerdings. Sie seufzt und ihre Augen sagen: Tut mir leid, du kennst mich ja, manchmal bin ich einfach weg; und meine Mundwinkel antworten: Weiß ich doch, und meine Handgeste sagt: Schon OK. Dass sie nicht mit mir rüber ins Schloss gehen wird, habe ich schon verstanden und auch, dass sie noch eine Weile hier bleiben will, deswegen frage ich jetzt laut: »Neu bauen oder Denkmalschutz?« und zeige Richtung Schloss.

Ihre Augen halten an mir fest, wie damals immer, und ich weiß genau, was sie jetzt denkt und fühlt und warum und was sie gleich sagen wird.

»Denkmalschutz«, sagt sie.

Ich nicke und lächele.

Dann gehe ich hoch und packe meine Sachen.

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Maik Gerecke

Der Text entstand in einem Literaturworkshop im Rahmen des Projekts ‚Und seitab liegt die Stadt‘ des LCB Berlin. Er wird in Kürze zusammen mit anderen in der Anthologie ‚Ich muss hinaus. Die Stadt ist eine Gruft‘, herausgegeben vom Ökospeicher e.V. Wulkow, erscheinen. >> Nähere Infos << 

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Schriftstellernöte

Für mein Romanprojekt, in dem es um einen Swinger-Club geht, betrat ich die Höhle des Löwen, setzte mich mit einer Freundin in die U8 und fuhr zur Heinrich-Heine-Straße, um im berühmt-berüchtigten KitKatClub Berlin Input zu finden.

Und ich bekam, was ich wollte.

Schon als wir der Tür nur näher kamen, steigerte sich die Aufregung merklich. Wir zitterten etwas und ich hatte das Gefühl, meine Atmung unter Kontrolle halten zu müssen. Neben uns stiegen drei Kerle in Tutus und engen Strumpfhosen lachend aus einem Taxi und es war klar, wohin sie in diesem Aufzug wollten. Meine Begleitung packte mich sofort am Arm und beteuerte, wir müssten uns beeilen, um noch vor »denen da« die Türsteher zu passieren. Denn im Vergleich zu ihnen wirkten unsere Aufzüge äußerst langweilig. Vorallem meiner.

An der Tür wurden wir kurz aber eindringlich gemustert und ich sah die Skepsis in den Augen des Türstehers aufflammen. Er zuckte mit den Schultern, seufzte, schaute dann zu seiner Kollegin und sagte: »Mach du dit ma.«

Die erste Hürde war genommen, beim Bezahlen wurde es jedoch kritisch. Ich trug eine lange schwarze Hose, ein schwarzes T-Shirt und ein offenes schwarzes Hemd darüber. Die Frau an der Kasse musterte mich ungläubig und sagte: »Haste vor, dich noch umzuziehen, oder wie?« Ihr Blick verharrte auf meinem Körper. »Also so … nää, so jeht dit nich.« Und ich sagte nur: »Ähm …« und dann erst Mal nichts mehr.

»Naja«, mischte sich meine Begleiterin schulterzuckend ein, »er ist halt Schriftsteller« und verzierte ihre Aussage mit einer Was-willste-machen-Geste. Sie wolle einfach mal mit mir tanzen gehen, erklärte sie weiter, und setzte dann ein bittendes, zuckersüßes Gesicht auf. Passend zu ihrer pinken Strumpfhose.

»Na, dassa Schriftsteller is, is ja schon ma jut, aber kanna nich wenigstens dit T-Shirt ausziehen?«

Die Verhandlungen begannen. Witzigerweise erledigten die beiden Frauen den Bärenanteil der Gespräche. Ich war wieder acht Jahre alt, fühlte mich klein und als beobachtete ich Mütter, wie sie in der dritten Person über mich redeten.

Man versicherte mir, es habe nichts mit mir zu tun, ich könne sein, wie ich wolle, aussehen, wie ich wolle, aber eben nicht hier. Und nicht so! Das sei zu sportlich. Aber wenn ich, nun ja, das T-Shirt ausziehen würde und mit – zumindest halb – aufgeknöpftem Hemd rumliefe, dann, ja, ihretwegen. Und auch wenn die Angestellten des Clubs die gewohnte Strenge des Berliners aufwiesen, erfuhr ich sie als ungewöhnlich freundlich. Regelrecht einladend. Für Berliner Verhältnisse.

Ich musste mich also umziehen.

Aber wo tut man das hier doch gleich? Wo sind die Umkleidekabinen? Ich suchte vergeblich. Das Umziehen erledigt man direkt an der Tür, gegenüber von der Kasse, da aber noch kaum jemand anwesend war, bekam ich davon nichts mit. Also ging ich wie ein verschüchtertes Pastorentöchterchen aufs Herren-Klo, an ein paar nackten, mit Lederriemen behangenen Kerlen vorbei, verkroch mich in einer Kabine und zog mich um. In dem merkwürdigen Bewusstsein, einen Fehler zu begehen. Danach wurde ich erneut der Frau an der Kasse präsentiert, die mich jetzt freundlich anlächelte, mir dann auf die etwas behaarte, bleiche Brust starrte und sagte: »Na siehste! Das ist doch schon echt sexy!«

 

Ich war in keiner besonders guten körperlichen Verfassung an diesem Tag, da ich den Abend zuvor bereits ziemlich über die Strenge geschlagen hatte. Ausgerechnet heute hatte ich einen dieser Tage, an denen man schwört: Heute kein Tropfen Alkohol.

Wir gingen als erstes ein wenig durch den Laden, schauten uns alles an. Den Pool-Bereich, die Chill-out-Area, die verschiedenen Floors, Ecken und Ebenen. Es war noch früh und der Laden relativ leer. Die ersten nackten Kerle streunten bereits durch den Club oder saßen herum. Ich sah einen älteren Herren mit Lederoberteil, dessen bestes Stück von einem Metallring gehalten wurde, erste weibliche Brüste flogen durch mein Blickfeld und auch ein paar männliche. Ein Kerl in teurem Anzug und Krawatte fernöstlicher Herkunft, der mich an das Wort »Businesstrip« denken lies, inspizierte interessiert aber verhalten die Räumlichkeiten, kletterte dann irgendwann hoch auf das Podest mit den Poles darauf und begann zu tanzen. Vornehmlich mit den Hüften.

Dann kamen die Lederanzüge, die Hundeleinen, Ketten, Strapse, die hier von beiden Geschlechtern getragen werden, genau so wie die Netzhemden, Netzstrumpfhosen oder Stringtangas.

Ich brauchte Alkohol.

Die Reize wurden zunehmend reichhaltiger und ich dachte mir, ein guter alter Aufenthalt an der Bar würde mir eine kleine Auszeit verschaffen. Dort angekommen stellte ich fest, dass die Bedienungen nackt waren. Sowohl oben, als auch unten. Und aus einem inneren Impuls, Anstand walten zu lassen, bemühte ich mich reflexartig, meine visuelle Neugier zu unterdrücken. Nicht direkt hinzusehen. So richtig hatte ich das Prinzip dieses Laden noch immer nicht begriffen.

 

Drei Bier später ist der Laden auf einmal rappelvoll. Die Leute tummeln sich auf den Tanzflächen. Penisse, Vaginas, Brüste soweit das Auge reicht. Ich sehe Menschen in Ganzkörper-Bärenkostümen, Männer, die sich permanent am Glied herumfummeln. Mir verlangt es nach Bier – immer mehr Bier – und meine Knie werden schwach. Es ist, als geschehe ganz langsam etwas mit meinem Körper, das man nur auf einen Drogenkonsum zurückführen kann. Jeder Raum ist von einer bis ins Unendliche gesteigerten Scheißegal-Einstellung erfüllt, dass man glauben möchte, man befände sich in einer Parallelwelt. Plötzlich erkennst du Grenzen – in dir und der restlichen Welt –, weil sie auf einmal nicht mehr da sind. Du bist frei auf eine Art und Weise, wie du diesen Begriff noch nie zuvor verstanden hast. Ein Gefühl, glaube ich, nachdem man leicht süchtig werden kann.

Der Laden füllt sich.

Dieser Ort, er lockt dich mit süßen, nie gekannten Möglichkeiten zwischenmenschlicher Interaktion immer tiefer in sein Innerstes. Nackte Arschbacken berühren dich, eine Brustwarze streift deinen Oberarm, auf einem Podest tanzt ein alter, dünner Kerl in Strapse und Nylons mit einer zappelnden Erektion, lächelt zufrieden dabei. So zufrieden, wie es nur irgend geht. Ich lache, freue mich für ihn.

Ach, was soll's. Drauf geschissen. Also los, noch'n Bier geholt, Begleiterin geschnappt und ab in die Menge. Mein Taktgefühl wird zunehmend physiologisch ausgelebt und auf einmal ist das alles hier gar nicht mehr so schlimm. Menschen ziehen sich aus, klatschen sich auf die Hintern, peitschen sich, betreiben BDSM und ich denke: Ja. Warum denn auch nicht?

Ich rauche, rauche, rauche. Trinke, trinke, trinke. Tanze synchron dazu. Die ersten lüsternen Blicke von attraktiven, leicht bekleideten Frauen grienen mich an. Ganz offen und unverhohlen. Das ist ungewöhnlich in dieser Stadt, auch wenn ihr Ruf etwas anderes verspricht. So direkt werde ich normalerweise nicht beäugt, muss in der Regel viel mehr arbeiten für einen einfachen Flirt. Ist dies hier – dieser Ort – vielleicht das wirkliche Berlin, von dem jenseits seiner Grenzen so viel gesprochen wird?

Meine Hemmschwelle sinkt und sinkt. Sinkt immer weiter. Der Drang, zu der langbeinigen Blondine da drüben rüberzugehen, aus einem Lächeln die Berührung namenloser Zungen und Körperteile werden zu lassen, steigt. Aber dann suchen mich Gedanken aus der Welt da draußen wieder heim. Zweifel, Bedenken, Ängste. Was, wenn dies? Was, wenn das? Krankheiten, trickbetrügende Prostituierte, unerkannte Transsexuelle.

Ich lasse sie links liegen, nur so zur Sicherheit, aber da kommt schon die nächste, lächelt mir zu. Von etwas weiter weg. Größere Brüste, süßes Gesicht, breitere Hüften, dunkle Haare. Nicht schlecht, nicht schlecht, denke ich mir.

Warum, weiß ich nicht, aber ich erinnere mich an früher. Wieder bin ich ein kleines Kind, denke an die Besuche beim Fleischer mit meiner Mutter und wie die Frau hinter der Theke mir immer eine »Gesichtsmortadella« schenkte. So nannte ich sie. Ich denke an den Anblick des Fleisches hinter dem Glas und wie nur sie, die Fleischfrau, die Macht hatte, mir eine dieser Genüsse zu gewähren.

Aber dann, kurz bevor ich mich zu vergessen beginne, werde ich von meiner Begleiterin beiseite genommen, die mich wieder an die beruflichen Gründe erinnert, aus denen ich überhaupt erst hier her gekommen bin. Sie zeigt auf etwas, hat ein Gesicht, das sagt: »Schau mal, dort!« Denn hinter uns geht der Abend gerade in die nächste Phase über.

Das Gang-Bang-Armageddon beginnt.

 

Das KitKat verschluckt dich, definiert Normalität für dich neu. Man kann nicht leugnen, dass du an kaum einem Ort so sehr akzeptiert wirst, wie hier. Ob du alt, dick, kahl oder vollbusig bist, ob du männlichen, weiblichen, dritten, vierten oder welchen Geschlechtes auch immer bist – all das spielt hier wirklich keine so große Rolle. Ein Gefühl, dass mir keine political correctness dieser Welt je verschafft hat. Denn die gewöhnliche Werteskala ist schlicht außer kraft gesetzt. Es herrscht ein so ungewöhnliches Höchstmaß an Akzeptanz, Offenheit und Neugier. Die Menschen haben sich in der Sexualisierung des sozialen Miteinanders vereinigt. Und die Welt da draußen, sie wird in so weite Ferne getragen, wie es kein Zug, Flugzeug oder Raumschiff je bewerkstelligen könnte. Sie ist ansteckend, diese Atmosphäre. Es ist, als kämst du in die Hölle und würdest feststellen, dass die Schauergeschichten über sie sittlich befangene Verunglimpfungen waren. Keine objektiven Schilderungen.

In einer Ecke sehe ich jetzt die hübsche junge Frau liegen, die am Beginn des Abends auf der Tanzfläche noch ihren BH auszog, ein wenig tanzte und ihn dann wieder anzog. Ich dachte, es sei ihr dann doch zu viel gewesen, aber jetzt liegt sie da. Die Beine mit den Highheels daran in die Höhe gestreckt und um sie herum tummelt sich eine Horde Männer. Auf ihr liegt etwas, das aus meinem Winkel nur ein sich auf und ab bewegender Hintern mit zwei Oberschenkeln unten dran ist. Der nächste in der Reihe ist ein Kerl im Arztkostüm. Sein Vorgänger ist fertig und er klettert in die Ausgangsposition. Versenkt sein Glied.

Ein Dutzend Männer hämmert vor meinen Augen diese zierliche Frau – dieses Mädchen – durch und ich bin überrascht, dass es mich nicht so sehr schockt, wie erwartet. Mich wundert nur, dass ich kein Kondom am Penis des Arztes gesehen habe bevor er sich an ihr verging.

Ich schaue mich weiter um. Über uns auf der Hochebene hängen zwei Frauen über dem Geländer, hinter ihnen Männerschlagen, rechts und links Hände an ihren Brüsten. Die Frauen schreien lustvoll und mit geschlossenen Augen, aber weil die Musik so laut ist, hörst du es nicht. Siehst es nur. Mir ist, als schaute ich einen Porno mit einem VR-Helm und statt mich zu verkriechen, mich zu genieren, bemerke ich auf einmal Aktivitäten in meiner Hose und die Neugier in meinem Bauch kitzeln. Ganz so, als sei ich allein Zuhaus'.

Überall um mich herum wird gevögelt. Neben mir, hinter mir, über mir. Ich bin Schriftsteller denke ich mir. Stülpe mir diese Berufsbezeichnung über wie ein schützendes Tuch und mache mir mentale Notizen. Dabei interessieren mich die vögelnden Gruppen mehr als die vögelnden Paare. Die Erfahrenen Clubgänger, mutmaße ich, spüren es wahrscheinlich schon nahezu präkognitiv sich ankündigen, wenn eine Frau ihr Okay zu einem solchen Intermezzo aussendet. Gieren sehnsüchtig nach Gang-Bang-Gelegenheiten. Trauben aus gierigen, ungeduldigen Männern entstehen und die Frauen liegen dort wie eine Bienenköniginnen, entscheiden über Ja und Nein. Erleben einen beinahe religiösen Trance-Zustand des vollkommenen Kontrollverlustes.

Und nachdem ich mich von all diesen Eindrücken habe verprügeln lassen, nachdem mein Geschlechtsteil sich gegen mich verschworen hat, nachdem die Welt dort draußen nur noch eine vage Erinnerung ist, sagt meine Begleiterin zu mir: »Ich glaub', ich hab genug für heute.«

 

Wir verlassen den Club. Die Welt, die ich jetzt betrete, ist nicht mehr dieselbe. Die Straßen sehen »merkwürdig« aus, obwohl es genau die gleichen sind, wie vor ein paar Stunden noch. Sie sind unwirklich geworden. Überhaupt sind Realität und Wirklichkeit nur noch zwei deformierte Gebilde.

Minuten später sitze ich in der U8 auf dem Weg nach Neukölln. Völlig fertig. Erschlagen. Körperlich, psychisch und geistig. Die Normalität, durch die ich alltäglich wandele, sie verstört mich auf einmal. Ist irgendwie nicht mehr »richtig«. Ich schaue nach links, schaue nach rechts, wundere mich, dass die Leute nicht einfach vögeln, wäre nicht überrascht, wenn sie es täten. Hier in der U8. Warum auch nicht? Ist doch egal. Was ist denn unser soziales Miteinander, außer eine komplexe Systematik aus Grenzen und Privilegien, die Handlungen und Möglichkeiten in eine Ordnung bringt? Grenzen, die wir selbst – als Menschen – gezogen haben, um uns in ihnen zu bewegen, und die wir auch selbst problemlos übertreten können wie den weißen Streifen auf einer Fahrbahn.

Etwas aus dem KitKatClub muss mir gefolgt sein, sich an mich geheftet haben. Wie ein finsterer Dämon. Mir ist, als könnte ich in dieser Welt hier draußen nur noch mit großer Anstrengung funktionieren. Ich habe gesehen, was sein kann, habe erlebt, dass diese Welt hier nicht so sein muss, wie sie ist.

Die Erfahrungen, die ich machen, die Bilder und Eindrücke, die ich sammeln wollte – ich habe sie alle bekommen. Habe sogar feststellen dürfen, dass meine Fantasie in Bezug auf den geplanten Roman einiges davon vorweggenommen hat. Aber in die Menge der Erfahrungen hat sich eine Reihe unerwarteter Selbsterfahrungen eingeschlichen, die ich ohne den KitKatClub niemals hätte machen können. Dafür muss ich ihm und den Menschen darin danken. Ganz ernsthaft.

Und die letzte Erfahrung, die ich an diesem Abend machte, war eine, die ich bis jetzt noch nicht ganz verstehe. Es ist merkwürdig, da ich normalerweise ganz anders bin. Denn das letzte, was ich heute Nacht wollte, war, allein zu sein.

Maik Gerecke

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