Kreis warmer Nässe

Nepomuk, genannt Nepo oder einfach nur Muki, hatte eben seine eng geschlossenen Fäustchen wieder neu ausgerichtet, akkurat die unteren Glieder der beiden Daumen aneinander gepresst, und seinen Kopf zurück auf die kegelige Gebirgskette seiner Mittelhandknochen gelegt, die ihn beruhigend an ein angrenzendes, aus dem Kissen herauswachsendes Gegenköpfchen denken ließ, als er ein felltierhaft wirkendes Räuspern vernahm. Vielleicht ein Bär; oder eine Giraffe en miniature. Beides würde ihn, anders als das Wort en miniature, nicht verwundern, hatten sich doch die sonst nur an wenigen Festtagen im Jahr flüchtig synchronisierten Gegengewichte von physischer Realität und Wunsch schon in seinem Traum heillos ineinander aufgehoben: ein plötzlich im Garten aufgetauchtes, zusätzliches Gebäude, das nur ein einziges Zimmer beherbergt hatte. Der Boden bestand aus einer Art dunkelgrauer, kurz geschnittener Watte und an den Wänden des Zimmers waren an jedem freien Quadratzentimeter Basketballkörbe unterschiedlicher Größe und Umfänge so sorgfältig befestigt, dass der Raum wie ein einziger, in Länge, Breite und Höhe gezogener Vorwurf wirkte.

Später hatte Nepo von zwei Aufzügen in einem Hochhaus geträumt, die jeweils nur dann aufwärtsfuhren, wenn man zunächst mit dem jeweils anderen mindestens ein Stockwerk nach unten gefahren war, was dazu führte, dass sich alle Insassen des Hauses und deren Besucherinnen stets auf der Treppe oder im öffentlichen Kellervorraum begegneten; darunter seine Mutter im Kimono. Bis auf einige Verstörungen also, die Kinder im Allgemeinen aber entweder gleich aufwachen lassen oder an die unauflösliche Gleichzeitigkeit des Sterbens gewöhnen, war das Träumen alles in allem ein guter Spaß gewesen.

Da hörte er wieder das Geräusch. Dieses Mal aber als ein anderes, denn es klang ungeduldiger jetzt und saftig. Wie ein Schluck lauwarmen Tees, der in der spitz verschlossenen Mundhöhle durch das Halbrund ungleichförmiger Zähne immer wieder erst gesogen, dann gedrückt, gesogen und gedrückt wird, so als sollte ein unentschlossenes Gehen auf Kies imitiert werden. Nepo strich die Bettdecke zurück, richtete sich auf, stützte sich auf seine Unterarme und streckte das Kinn in Richtung seiner Knie, sodass er aussah wie eine rückwärtig umgekippte Eins. Eigentlich waren es doch zwei Geräusche, die sich gleichmäßig gegeneinander getaktet beantworteten; und keines der beiden Geräusche kam aus ihm selbst. Da war einmal jenes lampionhafte Schwingen und Papierknistern, das Nepo erst an ein Räuspern hatte denken lassen, dann einige Momente danach, nach Nepos Zählung reichte die Zeit für ein genau dreimaliges Einatmen, das Mundhöhlenteegeräusch, das erst wie sich zickzackend nähernde Schritte anschwoll, um dann plötzlich wie verschluckt zu verschwinden. Viermal atmen, und die Folge der Geräusche begann wieder von Neuem.

Nepo beschleunigte sein Atmen, dann verlangsamte er es. Auch setzte er einige Atemzüge einfach aus, ließ die Luft nur noch durch seine Nasenlöcher strömen, danach nur durch den Mund. Und je länger Nepo durch allerlei Umstellungen und Veranstaltungen zwischen sich und den beiden Geräuschen versuchte, deren Abstand und Rhythmus unter seine Kontrolle zu bringen, desto mehr regte sich in ihm eine lustig anschwellende, blaugelb züngelnde Wut. Zuletzt sagte er in dem grimmigen, halbvollen Ton, den Kinder üblicherweise anschlagen, wenn sie mit nach innen begradigten Blicken jene grammatikalisch klingenden Entschuldigungsformeln der Erwachsenen nachsprechen: jetzt. Doch es geschah nichts.

Und weil nun Nepo zu jenen seltener werdenden Kindern gehörte, die begreifen, dass Zauberei und Geheimnisse nur dann wahr sind, wenn sie sie selbst bewirken, schlug er die Bettdecke ganz zurück und stand auf, um dem Fall auf den Grund zu gehen.

Die Geräusche blieben weiter in der Mechanik ihres Zwiegesprächs und hatten sich dabei auch weiterhin nichts zu sagen. Nepos Blick tastete durch sein Zimmer. Er lehnte sich nach vorne auf seine Zehenspitzen und winkelte die Knie dabei leicht an; geduckt und absprungbereit, so als suchte er nach kleineren Abweichungen im Raum. Vielleicht ein Flackern oder eine verdreht stehende Spielfigur, die nicht nur belegen würden, dass er ungefragt in einen fremden Kopf oder Traum geraten war, sondern auch auf einen Ausweg oder eine Art Portal hinwiesen. Aber alles war in der üblichen Ordnung: die nach unterschiedlichen Ernährungsklassen sortierten japanischen Plastikfiguren – phytophag, zoophag, pantophag, autophag – starrten aus ihren in Richtung Unendlichkeit polierten Augen durch sein Zimmer, über dem Schreibtischstuhl hing ein bleicher Regenbogen verschiedenfarbiger Fußballtrikots und hinter den seit dem vergangenen Sommer grünbeklecksten Vorhängen pixelte das erste Licht der Dämmerung auf die tiefschwarze Mauer des nächtlichen Vorstadthorizonts.

Nepo machte einen Schritt in Richtung der Zimmertür, um in seine hinter dem Fußende des Betts liegenden Pantoffeln zu schlüpfen. Er hatte dabei das Gefühl, etwas zählen zu müssen. Da fiel sein Blick auf den unregelmäßigen Spalt zwischen Tür und Bodenschwelle, durch den Nepo jeden Abend nach dem Zubettbringen das langsam schwindende Licht, die vergnügt eigenständigen Schatten seiner Eltern am oberen Ende der Stiege und die kurz vor dem Einschlafen immer langsamer werdende Zeit beobachtete. Vor wenigen Tagen erst hatte er sich vorgestellt aufzustehen, durch die Tür zu gehen und, plötzlich erwachsen, gemeinsam mit seinen Eltern ihren sich auf dem Flur kugelnden, ineinander auflösenden und jäh sich wieder spaltenden Schatten beim Ausbleichen zuzusehen. Er war darüber dann aber eingeschlafen und in einen nebligen Traum geraten, an dessen Ende ein Handydisplay eine Rolle spielte, das immer dann schwarz wurde, wenn er darauf zu schauen versuchte.

Nepo nahm einen weiteren Schritt in Richtung der Zimmertür und ging in die Hocke. Je länger er in das ungefilterte, blaugräuliche Licht des nahenden Morgens schaute, das sich vor seiner Zimmertür staute, desto breiter schien der Spalt selbst zu werden; wie die sich weitende, schlitzförmige Pupille eines riesigen, vor ihm liegenden Raubtiers. Ohne jede Vorankündigung verdunkelte sich der Spalt. So als würde das riesige Raubtierauge blinzeln, war mit einem Mal alles nächtliche Licht wie aufgesaugt und ein tiefer schwarzer Schatten floss nun über die Schwelle hinein in Nepos Zimmer.

Nepo hatte sich schon von dem inneren Abzählreim seines Atmens entkoppelt. Deshalb kippte er vor Schreck beinahe nach vorne um, als das schmatzende Kiesgeräusch wieder ertönte. Das Geräusch, in Nepos Verständnis von der Mechanik der Ereignisse: das zweite, antwortende Geräusch, musste sich genau vor seiner Tür befinden. Langsam richtete er sich auf, ging sacht bis zur Türe und strich dabei mit der Zungenspitze über die weichen Moorlandschaften, die die zwei zuletzt ausgefallenen Backenzähne in seinem Kiefer hinterlassen hatten. An einer Stelle spürte er die Umrisse eines keimenden Zahnkegels, der aus dem Zahnfleisch aufragte wie ein sehr kleines, angewinkeltes Knie. Nepo legte die Hand auf die Klinke und öffnete die Tür einen Spalt breit, indem er seine Hand langsam der Schwerkraft überließ.

Vor der Tür lag der Länge nach hingestreckt eine dicke weiße Katze. Sie wandte ihm ihren Bauch zu und fuhr unbeeindruckt damit fort, in einer Art Automatenbewegung die Zwischenräume ihrer Finger mit der Zunge zu reinigen. Erst als Nepo die Tür bis auf die Breite seiner Schultern geöffnet hatte, froren die Bewegungen der Katze ein und die letzten Reste des Antwort-Geräuschs rieselten zu Boden. Nepo bemerkte, dass die Katze über den gesamten Körper dunkel, ja beinahe schwarz gesprenkelt war, als hätte jemand sie gleichermaßen erfolgreich wie erfolglos mit Dreck beworfen: sie musste zwar getroffen worden sein, war dann aber nicht davongelaufen. Die Katze streckte noch immer einen Finger abgespreizt vor ihr leicht geneigtes Kinn und blickte dabei quecksilbern in Richtung des Rahmenwinkels der Zimmertür, als wäre von dort ein gütiges Nicken zu erwarten, das sie in der Ausführung ihrer Pläne bestärken könnte. Gerade als Nepo ein wenig in die Hocke gehen wollte, um mit den Flächen seiner Fingernägel über den Katzenbauch zu streichen, sprang die Katze auf. Das heißt, eigentlich wirkte es so, als ob die beiden Bilder der erst liegenden und dann vor ihm stehenden Katze übereinander geblendet worden wären. Nepo fühlte sich mit einem Mal auf seine Hände reduziert und begann, seine Pyjamahose nach Taschen abzutasten.

In diesem Moment setzte wieder das Lampion-Geräusch ein. Es musste aus der Wohnstube im Erdgeschoss kommen. Die Katze war bereits einige Stufen der Stiege hinabgesprungen, Nepo fiel dabei das Schwingen des tiefhängenden Katzenbauchs auf, das ihn an die Zöpfe Tennis spielender Mädchen erinnerte. Auf der letzten Treppe machte sie Halt und blickte sich nach ihm um. Dabei schien ihr ungewöhnlich breiter Mund ein O zu formen. Nepo war bereits in der Mitte der Stiege angelangt. Seine Schritte waren ungewöhnlich zielstrebig, als würde er im Innern einer Kompassnadel auf einen Ausgang in deren Spitze zugehen.

Schon auf der Stiege, noch mehr aber im unteren Flur und aus Richtung des Wohnzimmers herrschte ein ungewöhnlicher Geruch. Eine Mischung aus Zimt und jenem Geruch blauer, ledergesäumter Sportmatten, wenn sie zum ersten Mal nach den langen Sommerferien aus den Archiven der Schulsporthallen gezogen werden. Die Tür zur Wohnstube war geschlossen. Auch war es, nachdem das Knistern wieder verstummt war, völlig still und halb dunkel. Die Katze markierte mit ihrer Wange und Flanke den Türrahmen und reckte ihren Schwanz senkrecht nach oben als könnte sie so die verschiedenen Frequenzbereiche der Räume miteinander koppeln. Auch diesmal schienen die Bilder – die Katze mit gesenktem und gestrecktem Schwanz – unvermittelt aufeinander zu folgen. Als Nepo die Hand auf die Türklinke legte, drückte die Katze bereits ihre Nase in den Winkel zwischen Tür und Rahmen. Es war ihm früher nie aufgefallen, wie perfekt Katzengesichter in rechte Winkel hineinpassten. Sicher wegen der Evolution, dachte er.

Nachdem Nepo die Tür zur Wohnstube geöffnet hatte, wich er zunächst einen Schritt zurück, kratzte sich an einigen Stellen rund um den Bauchnabel, die plötzlich zu jucken begonnen hatten, und grub seine Zehenspitzen so tief in die Hornhaut seiner Pantoffeln, dass die Zehennägel zu schmerzen begannen. Die Wohnstube war verschwunden. Stattdessen befand sich hinter der Tür ein deutlich kleinerer Raum, sicher nicht mal so groß wie sein Kinderzimmer. In der Mitte des Raums befand sich ein großer roter Ohrensessel, vor der rechten Armlehne, die Nepo zugewandt war, ein Kindergartenstuhl, auf dessen Sitzfläche eine lindgrüne Maschine stand. Aus der Maschine liefen allerlei Schläuche mit grünlichen und gelben Substanzen, die an einen Arm angeschlossen waren, der unbekleidet auf der Armlehne lag. Tief in den Ohrensessel gelehnt saß ein Mann in einem Trainingsanzug, dessen Stoff an die Außenhaut von Heißluftballons erinnerte. Nepo erkannte darin seinen Onkel mütterlicherseits. Arno Kosswode. Zwar hatte er Onkel Arno seit einigen Jahren nicht mehr gesehen, aber Nepo erinnerte sich an die Nase, die einer der Länge nach halbierten Variante jener Sektkorken glich, die Tante Paula und Onkel Arno ihm bei ihren Besuchen früher zuhauf mitgebracht hatten – zum Werfen, wie Arno immer streng bemerkt hatte -; Arno blickte starr aus einem Fenster, das beinahe die gesamte rechte Wand des Raums ausmachte. Die restlichen Wände waren zu etwa zwei Dritteln ihrer Höhe, also etwa bis zu Nepos Scheitel, mit einer Holzvertäfelung verkleidet, deren Maserung ihn an die Darstellung der Gesichter mittelalterlicher Könige denken ließ. Oberhalb der Vertäfelung waren die drei Wände mit Fotografien von weißäugigen Katzenkindern, viele davon mit überschlagenen Beinen, behängt. Auf einigen Aufnahmen war auch die gesprenkelte Katze zu erkennen. Der Anschlag auf ihr Fell musste sich demnach schon in ihrer Kindheit ereignet haben. Obwohl er keinerlei Angst spürte, blickte Nepo über seine Schulter zurück in den Flur. Alles war dort an den gewohnten Plätzen: die gleichfarbige Reihe der Schuhe seines Vaters, die körperlosen Mäntel seiner Mutter an der Garderobe, der stets leere Schirmständer und der Jagdschein des Großvaters mütterlicherseits, der in einem unpassend metallischen Rahmen an der Wand gegenüber der Wohnstube hing.

Plötzlich richtete sich Onkel Arno in dem Ohrensessel auf, beugte sich mit dem Kinn beinahe bis auf die Höhe seiner Knie und begann damit, in kreisenden Bewegungen seiner Hände erst seine Unterschenkel, dann seine Oberschenkel zu massieren. Zu dem so entstehenden Lampionknistern gab der Apparat neben dem Ohrensessel ein langgezogenes Stöhnen von sich und durch die Schläuche schoben sich stoßweise die verschiedenfarbigen Flüssigkeiten voran.

„Dich brauch ich ja gar nicht, oder?“.

Onkel Arno hatte seinen Kopf nach Abschluss der Massage zu Nepo umgewandt. In seinem Mund standen aussichtslos einige Zähne wie Figuren einer Schachpartie kurz vor dem Unentschieden. Über sein Gesicht liefen breite, rote und weiße Streifen. Überhaupt wirkte sein Gesicht schraffiert, wie es nicht selten der Fall ist bei Dingen, in die lange Zeit nicht hineingeschaut worden ist.

„Hallo Onkel Arno, ich hab dich gar nicht, also, Mama hat gar nicht gesagt, dass du wieder kommst“.

Nepo entschied sich, einige Schritte in den Raum hinein und in Richtung des Ohrensessels zu machen. Dabei bemerkte er, dass das Fenster, durch das Arno gestarrt hatte, den Blick auf ein gewaltiges Bergpanorama frei gab: zwischen zwei Bergrücken – etwas zu weit gespreizte, dunkelgrüne Schenkel eines V, auf denen trostlos einige Windräder steckten – erstreckte sich ein langer, blauer See. Dahinter zu viel Licht. Hinter dem Ohrensessel bemerkte er den auf dem Korkboden des Zimmers zickzackenden Schwanz der Katze.

„Arno ist tot. Seilbahnunglück. Aber dich brauch ich gar nicht erst, oder?“.

Arnos Sprache klang stoßweise. Nepo stellte sich vor, dass die Stimme sich in einer der Flüssigkeiten befinden würde, und erst in Onkel Arnos Arm gepumpt werden musste. Er entschied sich für den Schlauch, durch den unzählige Luftbläschen in einem blass lilafarbenen Gel schwammen. Sprechbläschen.

„Ja, äh, ich weiß nicht. Also vielleicht kann ich dir helfen. Oder brauchst du was? Vielleicht was zu trinken?“, stammelte Nepo.

„Ja, helfen willst du! Helfen wollen immer alle. Gut sein.“ Arnos Stimme erinnerte nun an Nepos Vater, wenn er über seine Schulter hinweg über die Großtaten seines Schwiegervaters, des Jägers, sprach. Großtaten.

„Gut. Gut. Dann frage ich dich mal, wenn du schon so großzügig bist: bist du immer schon hier gewesen?“

Unwillkürlich streckte Nepo seine Hände aus und betrachtete seine Handinnenflächen. „Ja also ich bin hier, weil ich die Katze zu dir lassen wollte, also weil die Katze zu dir rein wollte, da hab ich aufgemacht. Ich wollte aber nicht …“

Nepo hörte wie Arnos Finger auf dem Ballonstoffoberschenkel die Pumpgeräusche der Maschine zeitversetzt nachahmten.

„Das hast du schon letztes Jahr gesagt. Und die Jahre davor. Immer an Weihnachten bringst du mir diese Katze. Aber ich weiß es jetzt. Ich weiß, dass die Katze nur ausgedacht ist so wie die Begründungen deiner Tante, mich hier allein zu lassen.“ Arno blickte wieder nach vorne durch das Fenster. Die Augenlider zitterten wegen des übermäßigen Lichts. „Ihren eigenen Mann allein zu lassen“, ruckte Arno im Takt der Maschine, nun aber merklich leiser. Er sank in die Rückenlehne des Sessels und schloss die Augen.

Nepos Bauch hatte wieder zu jucken begonnen. Es musste etwas mit der Luft in diesem Raum zu tun haben, jedenfalls fiel ihm auch das Atmen zunehmend schwer. Er machte zwei rückwärtige Schritte und beschloss, bis zum Verlassen des Raums an sich hinabzusehen. „Ich würde dann…“

„Muki!“ Als Nepo aufblickte bemerkte er, dass Arno sich von der Sessellehne aufgerichtet und bis an den Rand der Sitzfläche vorgeschoben hatte. Es war aber nicht er, den Onkel Arno gemeint hatte. Die weiße, gesprenkelte Katze war offenbar auf die Oberschenkel des Onkels gesprungen, hatte sich dort abgesetzt und ließ sich nun mit den Daumenspitzen an den Wangen massieren. Arno und die Katze blickten sich einige Momente an. Es schien beinahe so, als nickten sie einander zu.

„Nepomuk.“ Arno wandte seinen Blick von der Katze weg auf Nepo zu. „Nimm sie bitte mit. Und sei gut zu ihr, ja?“

Nepo nickte. Gerade als er, gemeinsam mit der Katze im Flur angekommen, die Tür hinter sich schließen wollte, hörte er ein leises, gespielt wirkendes Wimmern aus dem Zimmer. Er schaute durch den verbliebenen Spalt. Onkel Arno wandte ihm sein Gesicht zu. Es wirkte verzerrt wie bei Kindern, die gewohnt sind, stets ihren Willen zu bekommen.

„Kannst du bitte die Tür einen Spalt offenlassen?“

Nepo nickte langsam und sagte ein tonloses „Gute Nacht“ in Richtung des Zimmers. Dann glitt er die Stiege hinauf, es wirkte beinahe so als würden die Stufen unter ihm in die exakt gegenläufige Richtung mitsteigen und seine Füße geräuschlos nach oben heben. Er stieg in sein Bett, zog die Decke bis an jene winzige Kerbe unterhalb seines Kinns, in der sich seit einigen Tagen ein verhaltener Druckschmerz aufhielt. Das letzte Geräusch, das er vernahm, war das langsame, spitzfingrige Schreiten der Katze über seine Matratze, bis sie sich auf Höhe seines Bauchnabels auf der Bettdecke einrollte.

Als Nepo aus traumlosem Schlaf am nächsten Morgen aufwachte, die Sonne stand schon hell über der Vorstadtsiedlung, lag sein Kopf in seinen wie zu einem Nest geformten Händen. Und unter der Stelle der Bettdecke, auf der am Ende der Nacht die Katze gelegen hatte, sickerte langsam ein Kreis nasser Wärme.

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Thimo von Stuckrad

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