Sagt alles ab

Stell dir vor, dass die Apokalypse kommt, aber eine Welt, die untergeht, ist es bisher noch nicht. Stell dir vor, ab morgen sind alle Veranstaltungen abgesagt, verschoben, abgeblasen und storniert. In ein paar Tagen schon werden sie ganz verboten sein. Stell dir vor, es kommt ein Krieg mit einem Feind, den keiner sieht und die Veranstaltungen, die sind die ersten, die eine nach der anderen aus dem Kalender fallen, wie erschlagene Fliegen vom Fensterglas. Es gibt auch andre Tote, solche die geatmet und gelebt haben, aber die Eventleichen sind die, die dich als erstes treffen, weil du sie als erstes selber sterben siehst.

Sagt alles ab, ist die Devise, um Himmels Willen, sagt alles ab!

Ist das jetzt auch das Ende für so viele, die du kennst, werden es bald Künstler-Fliegen sein, die aus den Kalendern fallen, wenn sie versuchen noch zu retten, was bald nicht mehr zu retten ist? Sagt alles ab, denn unsre Zeit, die ist jetzt umgebucht.

Du sitzt in einem menschenleeren Zug und dort, wo du jetzt hinfährst, kommen ab morgen keine Leute mehr zusammen. Es ist alles abgesagt, nur das eine, das noch nicht. Es ist das heute Abend, das Konzert von einer Freundin, das ihr allererstes ist. Sie hat schon jahrelang davon geredet, sich dort oben hinzustellen, hat es so unbedingt gewollt und es dann nie getan. Stell dir vor, schlussendlich hat sie sich getraut, hat wochenlang vor dieser Bühne Angst gehabt und jetzt ist alles abgesagt. Nur dieser letzte Abend nicht, an dem sie allein mit der Gitarre im Gepäck die Solo-Vorband stellt. Dass du kommst, steht schon so lange fest und du kommst obwohl du ein schlechtes Gewissen hast, weil du sie unterstützen willst und weil das Gewissen schlechter wäre, wenn du zuhause bleibst.

Sagt alles ab, nein jetzt noch nicht. Nur dieser eine Abend noch.

Stell dir vor, die Welt wie wir sie kennen, die steht plötzlich ganz gespenstisch still. Sie hat sich so erschrocken in ihrer so gewohnten Eitelkeit, hat sich vorher nicht einmal von der Gewissheit stören lassen, dass sie in ein paar wenigen Jahrzehnten wirklich untergeht. Was sind schon wenige Jahrzehnte? Doch mindestens genug, um ein paar Kleinigkeiten zu verändern, die keinen wirklich stören und keinem wirklich helfen. Sagt alles ab, schreien die Kinder, um deren Zukunft es hier geht, sagt alles ab, wir bitten euch! Ihr seid doch naiv. Was stellt ihr euch denn bitte vor, ihr, die ihr nichts von der realen Welt versteht? Sagt alles ab, ist doch absurd. Und jetzt ist alles abgesagt, aber nur fast. Und du musst aufpassen, dass ihr euch nicht umarmt, dass du das Händeschütteln jedes Mal ganz brav verpasst.

Stell dir vor, es sind nur knapp zwanzig Leute hier in diesem Raum und sie spüren, dass ab morgen alles anders wird, dass sie irgendwie schon jetzt zuhause sein sollten. Zwanzig sind neunzehn zu viel und ab nächster Woche wird das auch so verordnet sein, auch wenn das jetzt noch keiner weiß. Stell dir vor, ihre Finger zittern und sie ist so nervös, das erste Lied gelingt ihr nicht so ganz, aber du siehst da etwas flackern in ihren Augen und etwas an ihrem Gesicht ist anders als sonst. Es ist ein Song von ihr und sie singt ihn zum ersten Mal vor Publikum.

„Sagt alles ab“, das schreit ein Schriftzug auf dem T-Shirt eines Sängers, der nachher noch auf dieser Bühne steht. Alle wippen mit und sie bewegen sich ein bisschen zur Musik, aber niemand tanzt, weil niemand richtig ausgelassen sein kann. Sagt alles ab, schreit mir das T-Shirt immer wieder ins Gesicht. Es ist ein Scherz. Sagt alles ab!

Aber vorher spielt sie noch ein Lied, ein Lied, ganz kräftig und ganz laut und nicht für dich, oder für ihre Mutter, die auch gekommen ist, und nicht für irgendjemand sonst. Es ist ihr Song und in ihrem Gesicht, da siehst du etwas, durch das du plötzlich ganz verwundert bist. Du siehst sie innen drinnen, dort wo ihre Stimme herkommt, siehst sie ganz so wie sie vielleicht wirklich ist.

Stell dir vor die Apokalypse kommt, zumindest fühlt es sich ein bisschen danach an und Ausgang gibt es noch, aber das auch nicht mehr so lang. Du hörst diese Gerüchte, wirst jeden Tag mit tausend richtigen und falschen Nachrichten bombardiert und weißt schon nicht mehr was du glauben sollst und ganz leise, langsam wirst auch du jetzt mit der Angst der andren infiziert, weil plötzlich nicht mehr sicher ist, was morgen noch passiert.

Von den andren Sängern bekommst du nicht viel mit, obwohl sie gute Stimmen und gute Texte haben, aber in deinen Ohren flirrt es und du kannst dich nicht mehr konzentrieren. Sag alles ab und komm nach Hause – deine Eltern haben in der Pause angerufen. Du kannst doch nicht, dein Job und deine Wohnung, dein Leben in der Stadt. Du willst nicht weg. Sag alles ab. Denn andere Leben nur als deins, die stehen jetzt auf dem Spiel.

Und sie spielt ihr erstes Lied am Ende noch einmal und dieses neu gespielte, alte Lied, auf dieser Bühne, auf der sie jahrelang nicht stehen konnte und auf der sie jetzt schlussendlich steht, bevor morgen alles untergeht, ist besser noch bei dieser zweiten Chance, viel besser als beim ersten Mal.

Sagt alles ab, denn es ist besser so. Doch wir sind bald zurück. Die Bühne bleibt nicht ewig leer. Dass unsre zweite Chance so sein wird wie die erste, das hoffe ich ganz ehrlich nicht. Doch diese Freundin von dir und auch alle andren haben wir nicht abgeschrieben und nicht abgesetzt. Wir warten bis ihr wiederkommt.

Sagt alles ab – für jetzt.

 

 

Stefanie Marek

 

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