Schuld

Ich bin schuld an dem Kälteeinbruch. Mir fällt es schwer, das zu sagen, aber ich muss der Wahrheit ins Auge sehen. Das pflegte schon Alba zu betonen, als ich noch mit ihr zusammenlebte. Alba war überhaupt sehr viel daran gelegen, den Verursacher zu finden, sei es von fauligen Äpfeln, verlorenen Socken oder zu viel Pfeffer im Essen. In den meisten Fällen war das einfach, denn außer uns beiden wohnte hier keiner. Es gab aber auch die weniger eindeutigen Bereiche. Mit „weniger eindeutig“ meine ich: Alba verspürte mehr Gewissheit als ich, dass der Schuldige bereits feststand, um nicht zu sagen: Es herrschte eine empfindliche Uneinigkeit, die ohne Weiteres nicht beseitigt werden konnte. Jedenfalls nicht, indem wir aufeinander zugingen. „Gespräch“ bedeutete nämlich, dass Alba redete und ich zuhörte. Hielt ich mich nicht an diese Regel, wurde der Zustand kritisch zwischen uns.

Warum also gerade ich für diesen Kälteeinbruch verantwortlich bin und nicht etwa Alba oder das Rotkehlchen vor dem Haus? Die Sache ist einfach, denn es gibt mehrere Indizien, die gegen mich sprechen. Ich werde nicht versuchen, mich zu verteidigen. Die Würfel sind gefallen. Wie sagt man so schön: Der Weise versteht, wenn die Zeit reif ist, Einsicht zu zeigen.

Am Wichtigsten ist die Tatsache, dass erst mit meiner Rückkehr aus Winterfeld der Frost sichtbar wurde; vorher, so hatte mein Nachbar beteuert, war die Wiese vor dem Haus nur vom Regen benetzt. Vielleicht, so könnte man einwenden, handelte es sich bloß um eine Korrelation, einen losen, zufälligen Zusammenhang zwischen den Erscheinungen. Auf Begriffe hat Alba immer großen Wert gelegt. Nie durfte der falsche über die Lippen kommen, besonders, wenn es sich um meine Lippen handelte, denn, da war sie sich sicher, von solchen Begriffen wurden sie wund. Falsche Wörter taten nämlich weh. Nicht nur in den Ohren. Sie hinterließen Verletzungen. Sichtbare. Auch auf der Haut. Alba war eine fürsorgliche Frau. Das sagte sie oft zu mir, weil sie dachte, ich würde es sonst nicht bemerken. Sie traute mir selten zu, dass ich auch ohne ihre Hilfe auf gute Gedanken kam, plausible Annahmen in meinem Kopf bildete. Soll ich ihr etwa verübeln, dass sie mir hin und wieder Hinweise gab?

Was die Temperatur betrifft: Alles spricht dafür, dass ich sie mit nach Hause gebracht habe. Wie das passieren konnte? Ganz einfach: Während der Fahrt fröstelte ich. Und zwar ununterbrochen. Hätte sich die Kälte zwischendurch davongemacht, auf einer Raststätte oder kurz vor der letzten Tankstelle, hätte ich noch argumentieren können, es handele sich um eine neue, mir fremde Kälte. Aber ich weiß, dass die anderen Recht haben. Schließlich hat sie kein einziges Mal von mir abgelassen. Die gesamte Fahrt über streifte sie meine Haut. Berührte mich unter dem Pullover. Gut, da kann sie vielleicht auch nicht so leicht hervorkriechen und sich davonmachen, schließlich trage ich meine Kleidung eng. Auf jeden Fall sprechen die Tatsachen gegen eine Korrelation.

Einen Punkt hätte ich fast vergessen: Ich habe immer einen kühlen Kopf bewahrt. Also versteckt sich die Kälte sogar in meinen Zellen. Alba glaubt das nicht, jedenfalls nicht die Sache mit dem Kopf. Sie meint, der Frost liege bei mir tiefer – im Übrigen ist sie deshalb ausgezogen –, aber auch sie irrt sich. Jedenfalls manchmal. Wichtig ist, sie nicht darauf anzusprechen. Sonst geht es heiß her. Und davon will der Kälteeinbruch nichts wissen.

 

 

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Sigune Schnabel

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