Halstuchspiele in Kakanien

„Tut’s noch weh?“, fragte Dolores mit sanfter Stimme.

In Bademänteln rauchten sie auf der Sonnenterrasse der Ski-Hütte die ersten Zigaretten des Tages. Robert wusste nicht, ob sie sich über ihn lustig machte. Bislang hatten sie keine zehn Worte gewechselt. Deine Anwesenheit lässt mich alle Schmerzen vergessen, wäre wahr und gelogen zugleich gewesen, fand er als Antwort aber indiskutabel ‑ viel zu kitschig. So stellte er sich Dialoge in Bestsellern vor, die er nicht las. Als Controller im Headquarter der Versicherung blieb ihm nur in den Ferien Zeit zum Lesen und dann verlangten seine Ansprüche nach etwas Gehaltvollem.

Gestern war ihre Reisegruppe im Kleinwalsertal eingetroffen. Und keine halbe Stunde nach ihrer Ankunft hatte Robert sich den Knöchel verstaucht. Die anderen hingen jetzt gewiss mit roten Gesichtern im Schlepplift oder kippten den ersten Jagertee. Er hätte daheimbleiben sollen.

Sein Schweigen wurde langsam peinlich.

„Glück im Unglück“, hörte Robert sich sagen. „Auf der steilen Treppe hätte ich mir auch den Hals brechen können.“

Er bereute diesen Nachsatz sofort und zog – ohne groß darüber nachzudenken – den Knoten am Gurt seines Bademantels fester. Bei ihrem Beruf musste sie ihn zwangsläufig für ein Weichei halten. Also, falls es stimmte, was man über sie munkelte.

Umringt von den Bergmassiven der Allgäuer Alpen und unter schlumpfeis-blauem Himmel fühlte Robert sich noch bedeutungsloser als sonst. Sofern das überhaupt möglich war.

„Der Berg da drüben“, er zielte mit seiner Kippe auf einen der Gipfel, „der mit dem Buckel, heißt Großer Widderstein.“

Dolores kräuselte die Lippen.

Er versuchte, nicht daran zu denken, was sie tat, jeden Tag tat – und dass sie ihn deshalb so ansah. Er faselte weiter, stotterte: „M-Mein St-Sternzeichen.“

„Witzig, meins auch!“

„Mein Geburtstag ist am 22. März.“

„Nein! Meiner auch!“

„1996!“

„1969!“

Ihr Lachen steckte an. Es rollte aus dem Bauch, schüttelte den ganzen Körper und löste die Klümpchen, die er innerlich angesetzt hatte. Aus Angst, Scham, oder mangelnder Rührung. Emotionale Emulsion, dachte er und, dass sie seine Mutter sein könnte.

„Zweiundzwanzig“, sagte Dolores. „Eine Zahl, die aussieht wie verliebte Schwäne.“

„Ich mag Schwäne“, sagte Robert augenblicklich.

Das war die Wahrheit. Er hätte aber auch Schweine gemocht, wenn es half, den Zauber des Augenblicks zu verlängern.

„Jeder mag Schwäne. Diese komischen Vögel sind rein, elegant, monogam …“

„Und gemein, wenn es darauf ankommt. Schon mal gesehen, wie ein Schwan sein Nest verteidigt?“

Sie löschte ihre Zigarette im Schnee und grinste.

Endlich. Ihre Kopfbewegung in Richtung Esszimmer interpretierte Robert nicht nur als Aufforderung zum Frühstück. Ob er mit ihr etwa …

Eine Stunde später saß Robert in einem Ledersessel vor dem Kamin und las weiter im Mann ohne Eigenschaften, das er im letzten Sommer begonnen hatte. Ihm gefielen Skepsis und Ironie der Untergangsstimmung, auch wenn er nur schleppend vorankam. Als Dolores aus der Sonnenbank zurückkehrte und sich ihm gegenüber mit einem Buch niederließ, glühte ihr Gesicht. Sie lagerte ihre Füße neben seinen auf einem Hocker, der an einen Melkschemel erinnerte. Roberts rechter Knöchel, dick mit Schmerzsalbe beschmiert, war in einen Drei-Meter-Verband aus dem Erste-Hilfe-Kasten gewickelt, ihre Füße steckten in Plüschpantoffeln mit Krokodilgesichtern. Sonst stießen ihn derlei Spielereien ab, aber hier oben vor dem Feuer gefiel ihm der Glaube ans Fressen-und-gefressen-werden.

À la recherche du temps perdu wickelte Dolores ihre Ringellocken um den kleinen Finger, zog sie lang bis zu den Schultern und ließ sie wieder nach oben schnellen, wo sie dank natürlicher Sprungkraft oder Dauerwelle an den Ohrläppchen endeten. Robert schielte immer wieder zu ihr hinüber. Sein Blick folgte der zarten Linie, die ihr langer schlanker Hals vom Unterkiefer über den Kehlkopf bis zum Schlüsselbein zeichnete. Wenn eine Passage gefiel, wippten die Krokodile.

„Du magst Hälse.“

„Wie bitte?“ Robert blickte aus seinem Buch auf.

Sie taxierte ihn mit unverhohlener Neugier.

„Du magst Hälse“, wiederholte sie. „Jetzt habe ich das geschnallt. Schon mal Atemkontrolle ausprobiert?“

„Nein! Wie kommst du darauf?“

„Dein Halstuch. Hätte ja sein können, dass du gern damit spielst.“

„Das ist von meiner Schwester.“

„Ach so“, sagte sie, als wäre damit alles geklärt. „Und ich war früher Physiotherapeutin.“

Robert verstand überhaupt nichts mehr. Wie kam diese Person dazu, sich über ihn lustig zu machen? Gerade jetzt, wo er dabei war, sie … Ja, was eigentlich? Ihn fröstelte.

Atemkontrolle. Woher wusste sie das? Er wollte weiterlesen, nach tagheller Mystik suchen, aber die Buchstaben tanzten vor seinen Augen aus der Reihe. Ihm schien, als wartete Dolores auf irgendetwas. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, worauf. Schließlich fragte er: „Warum bist du mitgekommen, wenn du dir aus Wintersport gar nichts machst?“

„Frieren ist meine Kernkompetenz. Mein Job ist wie ein ewigwährender Wintersport.“

Prompt sah er sie vor seinem geistigen Auge in Latexkleidern. Reflexartig kniff er die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Das Ganze dauerte keine Zehntelsekunde, Dolores merkte es trotzdem. Halb belustigt, halb entschuldigend fügte sie hinzu: „Wo, wenn nicht in Eis und Schnee, kann ich mich wärmen und gehen lassen?“

„Ist das denn anstrengend?“

„Das Bisschen Auspeitschen und Stiefel-Lecken-Lassen?“ Plötzlich war sie die Eingeschnappte. „Natürlich, ist das anstrengend! Viel Verantwortung. Deine Schwester sollte es sich gut überlegen, bevor sie diesen Weg einschlägt.“

„Meine Schwester ist tot.“

„…“

„Konntest du ja nicht wissen.“

Sie schwiegen lange.

„Komm, gehen wir in die Sauna“, sagte Dolores endlich.

„Mit dem Verband?“

„Stimmt. Der sitzt zu stramm.“ Sie begann ihn zu lösen. Als er zuckte, sagte sie: „Physiotherapeutin, schon vergessen?“, und tastete seinen Knöchel ab. Aus der Nähe offenbarte ihr Gesicht die Spuren der Zeit. Lachfältchen überwogen, laut Roberts Theorie, ein Indiz für Leute, die ein selbstbestimmtes Leben führten. Je länger Dolores an seinem Bein herumfummelte, desto tiefer furchten Sorgenfalten ihre Stirn. „Das sollte sich besser ein Arzt ansehen.“

„Morgen“, sagte er entschieden. „Heute komme ich sowieso nicht mehr dran. Mich interessiert, was du vorhin mit Atemkontrolle meintest. Wie funktioniert das?“

Auf dem Weg zur Sauna beschrieb sie die rauschhaften Gefühle beim Erwachen aus der Ohnmacht. Robert erfuhr, dass Würgespiele zur Steigerung der Lust schon vor über hundert Jahren in Südfrankreich verbreitet gewesen waren und dass der Autor Jean Gino sie in einem seiner Romane beschrieben hatte.

In der Umkleide streiften sie das Thema Sicherheitsmaßnahmen.

„Leidest du oder jemand aus deiner Familie unter Asthma?“

Sie öffnete ihren Bademantel.

„Nein, nicht das ich wüsste.“

„Panikattacken?“ Ihre Brüste zeigten noch nach oben.

„Auch nicht.“ Robert schwitzte. „In wie viel Prozent aller Fälle geht das denn schief? Mit Notarzt und so?“

Die Antwort klang wie ein Witz. Jedenfalls im Vergleich zu seiner Schadenkostenquote. Was hemmte ihn eigentlich den Bademantel und Halstuch auszuziehen?

„Wirklich gefährlich ist nur die Selbststrangulation. In meinem Studio arbeite ich mit unterschiedlichen Materialien. Gasmasken, Korsetts und so. Man kann aber auch einfach Alltagsgegenstände benutzen wie diesen Bademantelgurt hier.“

Höchste Zeit in die Sauna zu gehen! Neben der Schwalldusche stand ein Korb mit Handtüchern. Sollte er sich bedecken? Lachte sie ihn dann wieder aus? Er stellte sich ihre Ringellöckchen bei hoher Luftfeuchtigkeit vor.

Schon drückte Dolores ihn sanft gegen die Sauna-Tür.

„Du kannst es so wickeln, oder so …“ Sie demonstrierte verschiedene Spielarten. „Das sind natürlich nur Trockenübungen“, endete sie. „Aber, wenn du willst …“

Robert überlegte. „Lass mich mal.“

Der Bademantelgurt hing ihm wie ein Schlange um den Hals. Er griff mit beiden Händen nach den Enden, schüttelte den Kopf, löste stattdessen sein Halstuch und bevor sie Nein sagen konnte, hatte er es um ihren Schwanenhals geschlungen. Schön stramm, wie damals.

„Robert“, flüsterte Dolores mit weitaufgerissenen Augen. Dann sagte sie nichts mehr.

Als die Domina zu Boden sank, fing Robert sie auf. Er trug sie in die Sauna, bettete sie auf eine der oberen Bänke, holte zwei Handtücher, rollte sie auf und schob sie ihr in den Nacken und unter die Knie. Dann setzt er sich auf die untere Ebene und betrachtete sie von den Zehen bis zur Stirn. Sie gefiel ihm immer besser. Gerne hätte Robert das Spiel länger ausgekostet, doch er hörte, dass die anderen zurück waren und durch die Hütte lärmten. Der Aufregung, die gleich einsetzen musste, zog er die Ohnmacht vor. Und zog. Und zog.

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Saskia Raupp

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