Kafkas Schloss

Flinke Augen huschen über Seite 201, während die Kuppen von Zeigefinger und Daumen der rechten Hand sich bereitmachen. Umblättern. Ein Prozess, der in Zeitlupe einem Vorspiel gleicht, beginnend an der oberen rechten Ecke, erst mit zwei Fingern, dann nur noch mit dem Zeigefinger sanft über die Kante streichend, bis das Papier schwach wird und sich mit einem stummen Seufzen auf den Rücken fallen lässt. Es genießt den neugierigen Blick auf seine Rückseite und lehnt sich entspannt zurück, bis das Augenpaar sich dem nächsten Blatt widmet und das Zusammenspiel aus Daumen, Zeigefinger und Seufzen von vorn beginnt. Das Schloss genießt die Zärtlichkeiten 220 Seiten lang. Ob Kafka sich im Grabe umdreht, um dieses Grauen nicht zu sehen oder zufrieden lächelnd jede Berührung seines Werkes beobachtet, bleibt sein wohlgehütetes Geheimnis. Die Neugier ist groß, was er wohl davon hielte, dass seine Zeilen sich als Herumtreiber entpuppten. Das Schloss, den Kinderschuhen längst entwachsen, geht ohnehin seine eigenen Wege, zumindest lässt es sich bereitwillig auf jedes neue Hände- und Augenpaar ein, das sich von ihm angezogen fühlt. So kommt es, dass Kafkas Werk Abenteuer erlebt, von denen wir Menschen nur lesen können. Diese Reise endet in 18 Seiten. Der Abschied ist ein vertrauter Ablauf für beide Beteiligten, ein Auf Wiedersehen zwischen einer weit gereisten Geschichte und Fingern, die trotz ihrer Jugend bereits 276 Beziehungen dieser Art führten. Alle endeten auf dieselbe Weise. Die Gedanken verharren noch drei tiefe Atemzüge auf dem letzten Satz, bevor sich der Einband wieder um die Seiten schließt. Ein letztes Mal streicht diese Hand über seinen Rücken, ein Abschied mit Aussicht auf ein Wiedersehen, vielleicht in ein paar Jahren. Das stumme Versprechen einander nicht zu vergessen gefolgt von der Übergabe an den Turm der Gelesenen. Wäre dieses Werk ein einfaches Buch, würde sein Weg hier enden, auch wenn die Chance auf ein oder zwei neue Bekanntschaften nicht auszuschließen sind. Die Wahrscheinlichkeit des Verblassens unter einer Ansammlung von Staubkörnern ist hoch. Doch diese Ausgabe von Kafkas Schloss ist nicht für den frühen Ruhestand bestimmt. Dieses Werk folgt einem anderen Schicksal.

Zwischen in Klarsichtfolie überzogenen Einbänden finde ich mich wieder. Der Boden des Aluminiumregals fühlt sich kalt an, doch meine Nachbarn wärmen mich an Vorder- und Rückseite. Leise brummendes Neonlicht hüllt den Raum in einen leicht muffigen Gelbstich, der mir bedeutet, dass ich wieder zu Hause bin. Die Ecken meines Einbands dröseln sich mit jedem Griff weiter auf, wie splissige Haarenden. Mir wohlvertraute Hände streichen sanft darüber, bevor sie mich zurück ins Regal stellen – so schlimm scheint es noch nicht zu sein. Jedes Leben hinterlässt seine Spuren, auch das eines Bibliotheksbuches. Meine Reisen verbringe ich weitgehend als stiller Beobachter, doch zurück im zweiten Regalfach von oben unter dem Schild Romane K-L teile ich meine Erlebnisse mit dir. Wir Bücher sehen mehr als du denkst. Wir erinnern uns an jeden Blick, der uns je traf, jede Hand, die uns einst hielt. Wenn du das nächste Mal in einer Bibliothek stehst, halte einmal inne und nimm dir Zeit, genau hinzuhören. Wenn du es schaffst, deine eigenen Gedanken ganz leise zu stellen, kannst du uns hören. Das emsige Wispern zwischen den Seiten, während Rückkehrende von ihrem letzten Abenteuer erzählen und Neuankömmlinge darüber philosophieren, wer sie wohl als erstes auswählt und über den Scanner zieht, dessen Piepsen die Leihfrist von vier Wochen einläutet. Mascha Kalékos Sei klug und halte dich an Wunder berichtet mir gerade von der salzig-heißen Träne eines Herren mit rauen Fingerkuppen, die sie auf Seite 22 traf als Heinz Kahlaus Fundsachen sich den Weg in unser Zwiegespräch bahnen. Das Atmen fällt mir schwer, es wird langsam eng zwischen K und L und ich hoffe auf einen baldigen Reiseantritt. In diesem Jahr stehen meine Chancen gut, denn der Geburtstag meines Schöpfers wird groß gefeiert. Jeder möchte ein Stück von ihm haben und so war ich in den letzten Monaten mehr unterwegs als die meisten anderen hier. Selbst die Neuerscheinungen blicken mir neidvoll hinterher, wenn ich in fremden Taschen das Haus verlasse. Heute schließe ich meine Augen zwischen Kahlau und Hesse, der sich wohl verirrt hat, was manchmal passiert, wenn die Tochter des Bibliothekars zu Besuch ist. Sie findet, Hermann Hesse passt besser zu Mascha und mir als zu Hemingway, die diskutieren ihr immer zu laut, sagte sie einst. Gerade gehe ich vom Dösen in einen tiefen Schlaf über, da reißt mich ein gekonnter Handgriff aus meinen Träumen, noch bevor sie beginnen. Ich wurde vorbestellt. Auf dem Wagen mit den Bereitstellungen für den nächsten Tag ist mir ein wenig frisch um den Einband und es kribbelt in den aufgedröselten Ecken. Wer mich wohl morgen abholen wird?

Es duftet nach Sandelholz, die Heizung haucht dem großen Raum mit stetem Rauschen Wärme ein. Zwischen Seite 31 und 32 steckt eine Postkarte aus Kreta mit verblasster Tinte. Liebe Grüße von Oma und Opa. Aus der anderen Ecke des Raumes schallen abwechselnd fremde Stimmen aus einem Laptop-Lautsprecher, meine momentane Besitzerin scheint ein wenig wortkarg in diesem Spektakel. Doch ich spüre ihre Blicke auf mir. Sie hat es mir gemütlich gemacht, ich liege eingekuschelt in die warmen Worte ihrer Großeltern auf einer Decke, die so weich ist, wie ich mir die Konsistenz einer Wolke vorstelle. Fernab jeder Realität besteht diese aus 100 Prozent Wolle. Das ungeduldige Wippen mit ihrem rechten Fuß unter dem großen Holztisch, auf dem der plappernde Laptop seinen Platz hat, macht mich nervös. Tschüss! Das erste und letzte Wort, das in diesem Raum heute gesprochen wurde. Ein tiefer Seufzer lässt Bildschirm und Tastatur miteinander verschmelzen. Als sie sich unter die wolkenweiche Decke schiebt, lande ich auf ihrem Schoß und spüre, wie ihr Körper ruhiger wird, der Atem tief und gleichmäßig. Meine Seiten legt sie so zart um, als drohten sie beim nächsten Windhauch auseinanderzufallen. Obwohl sie einen leichten Gelbschleier vorweisen, sind sie von robuster Qualität. Ich verstehe meinen Auftrag und versuche meine Seiten möglichst zu entspannen, damit sich die Hände, die mich halten, nicht an mir schneiden können. Es gibt Momente, da bemühe ich mich um extra scharfe Kanten. Immer dann, wenn ich merke, dass jemand mich nur benutzt, um Eindruck zu schinden und überhaupt nicht an einem ehrlichen Kennenlernen interessiert ist. Dem letzten Junggesellen bescherte ich nach dem vierten Date in einer Woche ein blutendes Rinnsal aus dem rechten Zeigefinger, als er mich viermal an derselben Stelle aufschlug und sein Gegenüber mit denselben Worten einzunehmen versuchte, wie bereits drei Male zuvor. Manchmal besteht meine Aufgabe darin Trost zu spenden und zuzuhören, doch dann und wann nehme ich es mir heraus ein Zeichen zu setzen. Die bräunlich gefärbten Flecken auf den entsprechenden Seiten tragen alle Bibliotheksbücher, wenigstens die, die in ihrem Leben mindestens eine bitter geweinte Träne gekostet haben. Oft sind wir die einzigen, die den Schmerz eines gebrochenen Herzens wirklich zu Gesicht bekommen. Wenn du jemanden dabei erwischt, der seine Nase tief zwischen unseren Kapiteln vergräbt, dann sei dir sicher, dieser Mensch hat ein reines Herz. Die Augen geschlossen, halten sie uns dicht an ihr Gesicht und atmen unsere Seele ein. Unser Duft aus bedrucktem Papier, Tränen und Blut ist für die einen ein Graus und versetzt andere in einen Rausch der Glückseligkeit. Die letzten Monate versanken in einem Kreislauf aus Enge im Aluminiumregal, unterbrochenen Gesprächen mit Mascha und Reisen in Rucksäcken, Jutebeuteln, mal behandschuhten und mal schwitzigen Händen. Tränen, Stimmen, Düfte fremder Schlaf- und Wohnzimmer, Zugfahrten, sanfte Berührungen, Scannen, Piepsen, Rückgabefach, zweites Regalbrett von oben zwischen K und L. Zwei Wochen vergehen und ich langweile mich in meinem Regalfach. Fast hätte mich der Staubwedel erwischt, doch gerade rechtzeitig greift eine zittrige Hand nach mir, ich stolpere und falle auf den braunen Teppichboden. Keuchend werde ich aufgehoben und getätschelt, wie ein Kind mit aufgeschlagenem Knie. Mir ist, als würde man mir ein bunt gemustertes Pflaster aufkleben, damit die Wunde besser heilen kann. Der Scanner piepst, vier Wochen bin ich dein. Eingehüllt in Leder und Chanel No. 5 trete ich meine Reise an, nichtsahnend, wie besonders sie für uns beide sein würde.

Die samtige Textur von Eichenholz schmiegt sich an meinen Rücken und ich lausche aufmerksam seinen Erzählungen, während meine neue Besitzerin sich auf unser Rendezvous vorbereitet. Es kann nicht mehr lange dauern, denn das Zischen des Kessels geht langsam in ein Gurgeln über. Beinahe andächtig gießen die vorhin noch zittrigen Hände das heiße Wasser in die Tasse, aus der sogleich ein dampfender Wall aus Pfefferminz emporsteigt. Stille. Die Atmosphäre gleicht dem Moment nach einem gemeinsamen Abend mit Freund:innen, die nach stundenlangem Lachen, Reden und Philosophieren den Heimweg antreten. Pfefferminz, Chanel No. 5 und ein mir unbekanntes Aroma vermischen sich und ich werde von kalten, aber sanften Händen begrüßt. Ich spüre ein Lächeln, so wohlwollend und wehmütig zugleich, dass meine Seiten ins Flattern geraten und das Umblättern schwerfällt, doch gemeinsam schaffen wir es. Dreizehn Schlucke Pfefferminztee und 57 Seiten. Dann verstummen die Hände, die mich halten. Draußen wird es dunkel und nur eine Stehlampe mit beblümtem Schirm direkt über dem Sessel, auf dem wir es uns gemütlich gemacht haben, hüllt den Raum in eine friedvolle Stille. Ich spüre, wie ich langsam Richtung Teppichboden gleite und falle schließlich weich. Diesmal bleibe ich liegen. Kein angestrengtes Keuchen, mit dem ich aufgehoben werde, nicht einmal der kleinste Atemhauch. Frieden. Pfefferminz, Chanel No. 5 und Frieden.

 

Sarah Niklowitz

 

freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>