wenn ich verschlafe

wenn ich meine socken angezogen habe, dann laufe ich immer zum arzt, in den socken die straße hinab und stehe dann vor der praxis und klingel mindestens dreimal, schnell nacheinander, mit dem finger fest gegen die klingel gedrückt und der arzt (er arbeitet ganz alleine in der praxis) ruft aus dem fenster herab: „wieso kommen sie erst jetzt zu mir? ich habe sie schon lange erwartet?“ und ich rufe dann zum fenster hinauf (das der arzt aber gerade schon schließt): „ich habe verschlafen, tut mir leid.“

         beim eintreten zögere ich für eine sekunde, damit ich meine entscheidungen nicht übereile und laufe dann die treppen hinauf, zwei, drei stufen auf einmal, obwohl eigentlich auch ein aufzug vorhanden wäre, und oben hämmere ich gegen die tür des arztes, auf der tür steht: „dr. kewesch“ und außerdem die öffnungszeiten (rund um die uhr) und wenn der arzt dann nicht innerhalb der nächsten zwölf sekunden öffnet, dann stampfe ich mit den füßen auf den kleinen willkommensteppich vor der tür, bis der arzt endlich öffnet und ich ihn anschreien kann: „sie idiot haben mir ihre telefonnummer immer noch nicht gegeben, wie soll ich dann bescheid sagen, dass ich später komme?“ aber der arzt gibt mir seine telefonnummer trotzdem nicht, ich glaube weil er angst davor hat, dass ich ihn einmal im urlaub anrufen werde, um zu erfahren, wo ich ihn auffinden kann, für den fall, für den notfall.

         „ziehen sie bitte ihre dreckigen socken aus“, sagt der arzt, ich nenne ihn in diesem fall: „notarzt“. das macht aber nichts zur sache, weil herr dr. kewesch im selben fall zwei messer aus der schublade zückt (das eine messer für meine niere und das andere um die öffnung in meinem bauch wenigstens ein stück weit offen zu halten). „bitte“, sage ich meistens wenn es so weit kommt, „ich möchte meine socken heute ausnahmsweise einmal anbehalten dürfen.“ aber der notarzt, herr dr. kewesch, brüllt in mein ohr: „sie sind zu spät heute, ich darf jetzt alles entscheiden!“ wir lachen und schütteln unsere hände, als wären wir zwei freunde, es geht jedoch beim händeschütteln immer nur darum, dass der notarzt meinen puls messen kann (das kann er eigentlich nie so richtig, weil ich meine hand nach ein paar sekunden aus seinem griff reiße).

         ich halte für einen moment die luft an, weil es dann schon so weit gekommen ist, dass dr. kewesch mich operieren will und weil er kein einziges mal bisher schmerzmittel zur verfügung hatte, muss ich mich selbst in narkose bringen, das funktioniert nur gut, falls ich die luft lange genug anhalte, bis ich atemnot bekomme, ich frage oft nach einer plastiktüte, die ich mir über den kopf ziehen kann, aber selbst das hat herr dr. kewesch selten für mich parat. die luft geht mir schnell aus, ich blicke in den letzten sekunden vor meiner ohnmacht in eine der verschmutzten ecken, dort liegt ein sandwich von mir, das ich letzte woche nach der operation in die ecke geworfen habe, ich möchte fragen: „darf ich von diesem sandwich ein letztes mal beißen?“

doch dann ist es zu spät, weil alles wird schwarz vor meinen augen und mir wird sehr schwindelig und ich bräuchte etwas luft, nur ein bisschen luft, ein letztes mal atmen bitte, herr dr. kewesch, herr notarzt, lassen sie mich atmen, ich hasse es wenn ich nicht atmen kann und ich wache auf, als die operation schon lange vorbei ist, mindestens zwei stunden später und ich liege eine weile da und summe leise vor mich hin, wie ich es zu tun pflege, wenn ich sehr große schmerzen habe, mit halb offenem mund und der arzt setzt sich an sein cello und versucht mein summen zu begleiten, um mich zusätzlich zu versorgen, dafür muss ich normalerweise einen aufpreis bezahlen aber vielleicht gewährt er mir diesmal alles umsonst, er hat jetzt schließlich meine niere.

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Peter Sipos

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