95 Jahre: Stimmen

I

Lange hatte das Haus im Schlaf gelegen, sagt er. Lange dichtete es die Zeit nach draußen ab. Eine alte Dame kam zu uns. Sie stieg durch das Treppenhaus. Sie sprach: Es hat sich nichts verändert. Es ist dieselbe Farbe. Es ist dasselbe Holz, das meine Hand streift. Es wäre das Gefühl von damals, wäre ich noch …

Die Musikerin zieht eine Etage tiefer. An die eierschalenfarbene kahle Wand klebt sie ein Notenblatt mit dem Titel Mondschein-Walzer.

Über den Pflaumenbaum klettern Kinder auf die Garagendächer, ernten Holunder. In dem Sonntagskuchen duften Blüten.

Die Stille im Dachstuhl. Das Knarren der Treppe.

In der Badewanne schaukelt das Löschwasser. In die Badewanne, in den Eintopf rieselt das Stroh.

Im Keller bricht ein Rohr. Nun treffen sich die Nachbarn wieder. In Ketten schöpfen und reichen sie sich die Eimer von Hand zu Hand.

II

Leipzig, den 02. Juni 1923
Das Mitteldeutsche Braunkohlen-Syndikat beabsichtigt nach den in doppelter Ausfertigung beifolgenden Plänen auf dem an der Richterstraße in Leipzig-Gohlis gelegenen Flurstück Nr. 3587/3588 ein Beamtendoppelhaus zu errichten.
Wir erlauben uns dazu erläuternd folgendes zu bemerken: Das Haus soll aus Erdgeschoss, zwei Obergeschossen und ausgebautem Dachgeschoss bestehen und je zwei zus. also acht Wohnungen enthalten und gänzlich unterkellert werden. Die Trennung der Wohnungen in den einzelnen Geschossen geschieht je durch zwei Leichtwände mit entsprechend ausgefülltem Zwischenraum. Es sind zwei Haustreppen aus Eiche mit unterseits verschalten und verputzten Läufern vorgesehen, die an den Eingangsseiten liegen …

Das Kind legt sich flach auf die Steine im Keller. Es presst die Hände fest an die Ohren. Eine Welle erreicht es. Eine Welle, so rot, so warm – viel zu heiß.

Das Holz der Stuhllehne quillt. Von der Diskokugel im Garten löst sich ein Paillettenstreifen. Aus einem Handtäschchen baumelt eine Perlenkette.

Der Professor trägt neue Schriften heran, legt sie auf den schwankenden Stapel.

Durch die Dachrinne drückt sich der Regen.

Der Nachbarschaftsverein GOASE präsentiert Hoppel – eine Skulptur von Matthias Garff. Es wird Kaffee und Kuchen geben!

III

Es war eine Bucht für Gestrandete wie mich, spricht er. Für Menschen, die sich aus dem Geschehen fallen ließen, um zu sich zu kommen; um zu ruhen.

Guter Mond, du gehst so stille / In den Abendwolken hin, / Bist so ruhig, und ich fühle …

Durch eine schmale Klappe schiebt sich eine orangene Katze.

An den Fenstern flackern Kerzen, in die Wand sickern Klänge. Jedes Haus lebt, sagt er.

Im Waschhaus kochen sie die Zuckerrüben. Ein Mädchen zieht den Löffel aus dem Zuber.

Ein Besucher des Gartenfestes zieht ein Buch aus einer Kiste.

IV

Das Knarren der Treppe. Es scheint mir dasselbe zu sein wie vor 80 Jahren. Damals setzten wir uns in den Garten, vor die Stechpalme. Jene, vor der wir auch heute stehen. Wir Kinder setzten uns vor die Pflanze und spielten Doktor. Denn die Palme stach.

Die Welle kommt. Die Welle brennt sich in den Stein. Ein Walzer verhallt.

Die Kirschen fallen. Die Birnen fallen. Die Äpfel, Zwetschgen, Pflaumen fallen.

Der Vater reißt die Tür auf. Vom Volkssturm desertiert. Das Mädchen erinnert sich an einen Verschlag in der Schräge des Daches.

Lange kratzt der Arzt am Kalk der Badewanne, dann winkt er ab. Er entfernt die Gardinenstange, stößt auf hohlen Ziegel, blickt ins Freie.

Unbekannte Arbeiter kommen, stellen ein Gerüst auf, verschwinden.

V

Dann kam der Tag der Aktivierung. Wir mussten erwachen.

Durch das Beet streichen die Hühner. Im Feuer knackt das Holz. Der Musiker legt das Kinn auf die Violine.

Am Baugerüst rankt die Erbse. Am Baugerüst rankt der Wein. Die Pappeln bilden neue Triebe. Die Kätzchen platzen. Die Samen fliegen. Wirbelnder Schnee im Sommer.

Nachts stehen brennende Kerzen in den Fenstern des Paares, das die Partei nicht außer Landes lässt.

Auf dem Balkon positioniert sich der Schauspieler.

Unter einem weißen Laken steckt ein lehmfarbenes Wesen. Die platten Füße schauen heraus. Ein Dutzend Menschen haben sich unter bunten Wimpeln im Vorgarten versammelt. Ein Kind spielt Tischtennis mit seinem Vater. Ein Bewohner des Hauses steht auf dem Zaunpfeiler, ruft Sonntagsspaziergänger herbei. Wir dürfen Ihnen präsentieren: Hoppel! Das Laken wird gelüftet; ein Widderkaninchen blickt in die Runde.

VI

Wir entrümpelten die Keller und füllten den Lkw mit Heizkörpern, Waschmaschinen, Benzinkanistern, Autobatterien, Rohren, Fahrrädern, Fernsehern, Matratzen. Wir brachen Wände auf, entfernten die Zäune.

Da platzt die Frontscheibe, da bricht das Rohr, da explodiert…

Ein Kind schwingt sich an den Wäschepfahl. Rost splittert. Der Pfahl zerknickt.

Die alte Frau schiebt den Bohnerbesen hin und her.

Der Arzt schiebt dem Arbeiter ein Päckchen Kaffee in die Manteltasche. Dieser holt die Westantenne aus seinem Barkas. Wir stellen sie unters Dach, sagt er. Das wird flimmern, aber du kannst empfangen.

In den Wintern zieht das Paar in das warme Zimmer der einstigen Magd. In den umliegenden Zimmern glänzen Eiskristalle.

VII

Im Flur hängen hundert Drucke, Zeichnungen, Aquarelle. Hundert Menschen drängen sich. Mit Pinseln streichen sie die Buchstaben auf das Plakat, stellen die Hollywoodschaukel auf die Straße.

Guter Mond, du gehst so stille …

Die Kinder zeichnen mit Kreide Gesichter auf die Platten. Durch die Ritzen des Dachbodens dringt die Flugasche. In den Gärten faulen die Zaunbretter.

Ein Arbeiter der Hausverwaltung erscheint. Er zieht einen Ziegel ins Dach, dann geht er.

Ein Mann wischt sich den Ruß aus dem Gesicht.

VIII

22. September 1939. Betrifft Luftschutzmaßnahme.
In dem uns gehörenden Doppelgrundstück, N22, Richterstraße 4-6, beabsichtigen wir einen Durchbruch der Brandgiebelmauer im Keller vornehmen zu lassen. Es soll damit eine Verbindung zwischen beiden Häusern im Alarmfalle geschaffen werden, damit ohne Gefahr eine beiderseitige Hilfe gewährleistet ist.
Wir bitten um Veranlassung und Genehmigung.

Auf den grünen Stuhl steigt die orangene Katze. Staub erglänzt. Die Katze öffnet die Klappe, verschwindet.

Die Hausgemeinschaft versammelt sich zu einem ersten Plenum.

Im Treppenhaus hallen die Stiefel. Im Treppenhaus schlägt sie den Bohnerbesen gegen die Leiste. Im Eingang klappert der Briefkasten.

Ich habe den Ochsenkopf unter das Dach gestellt, sagt der Arzt. Ich habe ihn durch den Schornstein gezogen, antwortet der Assistent.

Der Sturm tost. Das Glas des Gewächshauses flattert. Fetzen einer Folie fliegen durch die Luft, verfangen sich in den Büschen. Ein Baum kippt, eine Scheibe platzt. Hoppel wankt. Regen fließt über das schwarze glänzende Auge des Kaninchens. Die Skulptur fällt. Die Haut bricht, die Platten knacken, das Linoleum birst.

IX

Ein Chor hebt an: …

Die Musikerin streift winters durch das Gestrüpp. All these things happen in one second and last forever. Sie tanzt zur Violine am Feuer.

Die Gräser und Quecken wachsen. Aus dem Nichts erscheinen Birken, Kastanien.

Der Sturm hebt die Blätter vom Stapel, durch die Zimmer wirbeln die Schriften.

Der Putz bröckelt von den Wänden.

X

Die Stille unter dem Dach.

Dann brennen alle Häuser. Dann explodiert der Garten. Dann reißen die Bomben Krater so breit wie das Kinderzimmer, so weit wie Schlafsäle, so tief wie … Die Pappeln beben. Der Druck reißt das Geäst in die Höhe.

Das Holz der Stuhllehne reißt. Das Holz des Stuhlbeines bricht.

Ein windschiefer Schornstein. Die Hausverwaltung antwortet schriftlich: Es besteht keine Gefahr.

XI

Was wir uns wünschen, ist Gemeinschaft. Was wir wollen, ist Geborgenheit.

Leise dringen die Klänge des Walzers ins Gemäuer, während sie unten im Garten die Tafel aufbauen, zum Essen laden.

Im Wind rauschen die Pappeln. Ein Huhn pickt ein Korn. Eine Elster schiebt sich durch die Birke.

Der Schauspieler wendet sich nach links, wendet sich nach rechts. Seine Worte hallen im Garten:

Mephistoteles sich umsehend: Doch wie? – Wo sind sie hingezogen? / Unmündiges Volk, du hast mich überrascht! / Sind mit der Beute himmelwärts entflogen; / Drum haben sie an dieser Gruft genascht! / Mir ist ein großer, einziger Schatz entwendet: / Die hohe Seele, die sich mir verpfändet, / Die haben sie mir pfiffig weggepatscht. / / Beim wem soll ich mich beklagen? / Wer schafft mir mein erworbenes Recht? / Du bist getäuscht in deinen alten Tagen, / Du hasts verdient, es geht dir grimmig schlecht!

Sie schlagen ein Loch in die Wand, reichen die Korbmöbel aus der alten in die neue Wohnung; dann mauern sie die Wand zu.

XII

Vier Menschen machen sich im Garten an alten Paletten zu schaffen. Sie hebelt mit einer Zinkenhacke die Leisten ab; er klopft die Klötzer von den Brettern – die Klötzer landen in der Feuerschale. Ein Dritter zieht die Nägel aus den Brettern. Im Hintergrund sägt der Vierte. Sein Sohn spaziert zwischen den Tomatenpflanzen. Eine Schaufensterpuppe mit elfenbeinweißer Haut und kahlem Haupt sitzt im mohnroten Kleid auf dem Gerüst und hält ihnen eine Perlenkette entgegen.

Guter Mond, du gehst so stille / In den Abendwolken hin, / Bist so ruhig, und ich fühle, / Daß ich ohne Ruhe bin!

Sie schaufeln den Phosphorbrei in die Eimer. Die Kinder tragen den brennenden Schutt aus den Häusern. Mit Wasser, Sand, Erde löschen sie die Flammen ab.

Eine alte Frau holt Post aus dem Briefkasten. Jeden Tag öffnet sie ihn, zur selben Stunde.

Vom Blech der Eimer tropft das Wasser auf die Dielen. Die Frauen nehmen die verstaubte Wäsche vom Dachboden, hängen sie in die Flure.

XIII

Das Haus schläft. In seinem Schoß ruhen die Kinderträume. Da kehrt der Vater mit Bonbons fürs Töchterchen nach Hause. Da packt ein Paar seine Koffer. Da gesellt sich eine alte Dame mit Postkarten zu ihrem Gatten. Bedächtig schleichen die Seelen durch die Räume. An den Fenstern verlöschen die Kerzen.

 

Olav Amende

 

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