Styx

Auf der Rolltreppe befinden sich erheblich zu viele Menschen, um die Fahrt nicht als direkten Eingriff in Leas Privatsphäre zu werten. Die von Körperausdünstungen und sich auflösenden Bremsbelägen geschwängerte U-Bahnluft drängt spürbar gegen Fahrtrichtung den Treppenschacht hinauf, geradewegs in Leas Nase. Abartig. Sie wünscht sich, die Treppe genommen zu haben, weiß gar nicht, warum sie es nicht getan hat, und befindet sich nun in einem idiotischen Menschenauflauf, dem das Rechts-Stehen-Links-Gehen-Prinzip offensichtlich fremd ist. Sie ist festgesetzt.

Ihr linker Unterarm liegt auf den schwarzen Gummihandlauf – so konnte sie zumindest noch wenige Zentimeter von ihrem Stufenpartner wegrutschen –, doch aus nicht nachzuvollziehenden Gründen ist die Geschwindigkeit des Handlaufs minimal schneller als die der Treppe, sodass Lea alle paar Meter den nackten Unterarm mit einem leise schmatzenden Geräusch anheben und in eine angenehmere Position bringen muss, bevor ihr Oberkörper so weit nach vorne gezogen wird, dass ihre Nase in der Frisur des Vordermanns landet.

Kurz verschränkt sie die Arme vor der Brust, aber dann ruckelt die Treppe und Lea denkt daran, wie sie als Kind einmal auf einer Kaufhausrolltreppe hinfiel und die metallenen Zähne am Ende sich etwas von ihrem Babyspeck einverleibt haben. Es war eigentlich nur ein kleiner Hautfetzen, aber in ihrem Kinderkopf formte sich dich Sicherheit, gerade noch einmal mit dem Leben davongekommen zu sein. Unbewusst wandert die Hand wieder auf das klebrige Gummi.

Ein Tropfen fällt ihr auf den Arm, Lea zuckt zusammen und schaut reflexartig an die Decke, die im Schneckentempo an ihr vorüberzieht, kann aber keinen Ursprung lokalisieren. Die Flüssigkeit ist irgendwie zu dunkel, fast schwarz. Als Lea sie mit den Fingerkuppen berührt, ist es für eine Sekunde so, als könnte sie den Tropfen als Ganzes verschieben wie Regen auf einem Lotusblatt, erst dann bricht die Oberflächenspannung.

Auf den Zehenspitzen versucht Lea, das Ende der Rolltreppe zu sehen, so lange kann die Fahrt doch nicht dauern. Sie sieht jedoch nichts außer einer schier endlosen Menge von Hinterköpfen, unbewegt und gleich ausgerichtet. Ihr umherschweifender Blick findet wenige Fixpunkte, die Plastikrahmen an den Wänden zeigen alternierend das gleiche Motiv: Dr. Eckart von Hirschhausens neue Glückswortspielfolter auf Tour, zwei Wochen später gefolgt von Chris de Burgh. Beide grinsen debil in dem Wissen, dass sie fürstlich dafür bezahlt werden, in den großen Hallen des Landes den Menschen das zu geben, wofür sie gekommen sind: Durchhalteparolen und die Bestätigung, dass doch alles gar nicht so schlimm ist.

Eine Abweichung von dieser Reihung gibt es an genau einer Stelle, wo auf die Wand zwischen die Entertainment-Klone ein Sticker geklebt wurde. Der Aufkleber sieht aus wie ein Namensschild aus amerikanischen Filmen, in denen jemand zu den Anonymen Alkoholikern geht. Ein blaues Feld trägt den weiß ausgesparten Schriftzug HELLO, MY NAME IS, gefolgt von einem Blanko-Feld. Darauf hat der Urban Artist mehr oder weniger kunstvoll die Buchstaben Styx getagt. Der Aufkleber ist an drei der abgerundeten Ecken beschädigt, konnte jedoch nicht erfolgreich entfernt werden.

Die omnipräsente Aluminiumverkleidung spiegelt das gelbliche Licht der Leuchtstoffröhren und verzerrt die Körperformen der Reisenden. Monströse Schenkel und deformierte Hände, disproportionale Köpfe und weichgezeichnete Konturen bilden ein gespenstisches Wimmelbild im Treppenschacht.

Unruhe dringt von weiter hinten zu Lea und als sie sich umsieht, kann sie gerade noch die Hand wegreißen, bevor eine Person mit hoher Geschwindigkeit knapp an ihr vorbeirauscht. Der Ausbrecher gleitet auf dem schmalen Steg zwischen Handlauf und Wand herunter, doch kurz nachdem er an Lea vorbeirutscht, passiert das Unvermeidliche: Sein Sneaker weicht von der Ideallinie ab und die linke Ferse verkantet am Gummilauf. Er hebt ab, kracht mit dem Kopf an eine von Hirschhausen-Ikone und fällt zurück in die geregelte Bahn der Treppe.

Kurz bewegen sich die Köpfe und Oberkörper der anderen Treppennutzer, während der Gefallene in den kaum vorhandenen Zwischenräumen auf den Boden sinkt. Dann herrschen wieder stoisches Nach-Vorne-Schauen.

Lea kann nicht ausmachen, was mit dem Ausreißer passiert, aber es sieht nicht so aus, als würde sich jemand um ihn kümmern. Gerade ist sie auf der Höhe, an der sein Kopf gegen den die Wand geschlagen ist, Blutspritzer verfeinern das manische Lächeln des Glücksdoktors. Es ist einfach, glücklich zu sein. Schwer ist nur, einfach zu sein, zitiert die Masse unerwartet im Chor und verfällt dann wieder in Schweigen.

Instinktiv drückt Lea den Not-Aus-Knopf, der gerade an ihr vorüberzieht. Die Treppe kommt zum Stehen und das Licht geht aus. Wassersprinkler an der Decke schalten sich ein und innerhalb von Sekunden ist Lea vollkommen durchnässt. Ein Bach bildet sich, der die Stufen hinunterfließt, ihre Ballerinas durchweicht und binnen kurzer Zeit auch ihre Knöchel umspült. Panisch reißt sie den Knopf aus seiner Arretierung. Flackernd gehen die Lampen an, die Rolltreppe bewegt sich wieder und das Wasser, das bei Licht betrachtet die ekelhafte schwarze Flüssigkeit ist, versickert langsam in den durchlässigen Stufen. Fröstelnd schaut sich Lea um, sie ist die einzige, die von der Horror-Episode überhaupt Notiz genommen hat. Sie wischt sich die restlichen Tropfen von den Armen, wringt Haare und Kleid aus, um dann wieder in Gedanken bei dem Gestürzten zu landen, dem ihre Aktion sicher eher geschadet hat.

Sie drückt sich weiter nach vorne, schiebt sich zwischen den regungslosen nassen Gestalten voran, gewinnt nur langsam Raum. Es wirkt, als wollten die Gestalten sie wirklich zurückhalten. Doch immer, wenn sie sich umdreht, sind die Mitfahrer bewegungslos. Lea fixiert den ihr am nächsten Stehenden, baut sich vor ihm auf und schaut ihm direkt in die Augen. Dieser nimmt sie nicht wahr, guckt apathisch durch sie hindurch und blinzelt sehr langsam und regelmäßig. Er stinkt.

Alle haben hier den gleichen Gesichtsausdruck und obwohl sie sich in Statur, Kleidung und Gesichtszügen unterscheiden, sind sie dennoch wie uniformiert. Alle tragen Kopfhörer und wenn Lea raten müsste, würde sie auf Chris de Burgh in Dauerschleife tippen.

Auf dem Treppenboden befinden sich aufgeweichte Pappbecher und Fastfoodreste, die sich so weit auftürmen, dass Lea weniger gehen kann als waten muss. Tauben fliegen wie Aasgeier auf und ab, kreisen unter der Leuchtstoffsonne, suchen nach einem Landeplatz, von dem aus sie die Abfälle ungestört ausweiden können. Die Blicke des Chors richten sich auf das nächste Medizinkaberettplakat, geschlossen intoniert er: Shit happens. Mal bist du Taube, mal bist du Denkmal.

Schließlich erreicht Lea den Verunglückten, der zwar an einer frischen Platzwunde am Kopf zu erkennen ist, ansonsten aber wie die anderen steht und sich nicht weiter abhebt. Das Blut ist bereits geronnen und er hat offensichtlich keine ernsteren Verletzungen davongetragen.

Dann geht ein Zucken durch seinen Körper, erst rebelliert das Zwerchfell, die Schultern zittern, ein Röcheln folgt, dann ein vorsichtiges Husten, das sich in einen regelrechten Anfall steigert. Als es vorbei ist und der Gebeutelte die Hand vom Mund nimmt, hält er eine Münze darin. Kurz schaut er sie an, der Grauschleier vor seinen Pupillen lüftet sich. Seine Hand schließt sich um die Münze und wie auf ein Signal hin, das Lea verpasst hat, heben die Umstehenden ihn hoch, lagern ihn auf ihren Händen und reichen ihn nach oben hin weiter, als wäre er vollkommen gewichtslos, als würde die hochgereckte Faust mit der Münze darin ihn nach oben ziehen.

Lea schaut ihm nach, doch er ist schnell außer Sichtweite und sie kann es nicht ertragen, so stehenzubleiben und in all die stumpfen Augenpaare zu blicken. Also dreht sie sich um und starrt auf den Hinterkopf ihres Vordermanns. Wieder ruckelt die Rolltreppe, doch Lea fühlt sich nicht mehr dazu verpflichtet, den Handlauf zu benutzen. Ihr Körper nimmt die Unregelmäßigkeit unbeteiligt auf, als die Schockwelle der Erschütterung von den Füßen bis in den Kopf läuft, die Zähne kurz aufeinanderschlagen lässt und dann verschwunden ist.

Wie lange ist sie nun schon auf dieser Treppe? Es können Sekunden oder Stunden oder Tage sein. Wie ist sie überhaupt hergekommen? Sie sucht nach ihrem Handy, doch ihr Kleid hat keine Taschen und ihre Handtasche muss von der Flut weggespült worden sein.

Mittlerweile hat sie den Eindruck, dass nicht die Treppe selbst sich bewegt, sondern nur die Wände um sie herum wie eine Leinwand im Loop vorbeiziehen. Immer, wenn die Erschütterung kommt, ist die Leinwandrolle einmal durchgelaufen und beginnt wieder von vorne. Von Hirschhausen, de Burgh, von Hirschhausen, de Burgh, von Hirschhausen, de Burgh, der Aufkleber HELLO, MY NAME IS Styx, an dem drei Ecken abgefetzt sind.

Das kann natürlich Zufall sein, die Sticker sind schließlich dafür gemacht, in größeren Mengen verklebt zu werden. Trotzdem ist Lea sich sicher, dass sie ihn bald wiedersehen wird und macht sich darauf gefasst, die vierte Ecke zu bearbeiten, um ganz sicher zu gehen. Sie schwört sich, die Plakate zu zählen und die Abstände zwischen den Aufklebern, aber nach dem achten von Hirschhausen verliert sie den Überblick, als der Chor murmelt: Du willst anders sein? Andere gibt es schon genug.

Es gibt keine Exit-Strategie. Erst einmal abwarten. Ein Tropfen schwarzes Wasser fällt auf ihre Schulter, sie nimmt es hin. Dann wird Lea bewusst, dass auch sie Kopfhörer trägt, aus denen 80s-Rock erklingt: Don’t pay the ferryman / until he gets you to the other side. Und alle drei Minuten und zweiundfünfzig Sekunden ruckelt die Treppe und ein neuer Durchlauf beginnt.

 

Matthias Becher

 

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