Gespenster zählen

(erste Postkarte)

Das Unheimliche ist die Wiederkehr des Vertrauten in einer neuen Verkleidung. Jedes Laken verwandelt sich, wenn lange genug nicht gewaschen, in ein Gespenst.

Das Erste, wonach meine Augen beim Einchecken ins Hotel suchen, sind die Notausgänge. Mich fasziniert, mit wie viel Optimismus die Fluchtwege beschrieben sind. Mit wie wenigen Adjektiven die Anweisungen auskommen.

Vielleicht gehörst auch du zu den Menschen, die davon träumen, in einem Hotelzimmer zu sterben, beleuchtet vom kühlen Licht der Minibar, bis dich jemand vom Zimmerservice findet. Das weiß überzogene Bett eine Einladung, eine Bühne für noch nicht erfundene Opferrituale.

Ich ziehe den Vorhang zur Seite, kippe das Fenster. Gespenster radieren an der Gegenwart, machen das Papier, aus dem sie gemacht ist, ganz dünn, indem sie Vergangenes wiederholen. Das nennt man Spuken. Ob die Menschen, die nach mir dieses Zimmer belegen, wissen, dass es sich um einen Tatort handelt?

Direkt unter dem Fenster flackert eine Straßenlaterne, Morsezeichen vielleicht. Welcher Code, wie viele Fingerabdrücke entsperren mittlerweile dein Handy, will ich wissen, und bin mir sicher, dass du nicht rangehen wirst, wenn ich deine Nummer wähle. Mein Name auf deinem Display – das Letzte, mit dem du gerechnet hast, heute Nacht.

Also gehe ich duschen, trage Parfum auf, steige in den Lift, verwandle mich in leichte Beute.

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Martin Peichl

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