Sterne einatmen

Wir sitzen am Fenster und schauen in die Sterne. Der Mond muss auch irgendwo sein, aber noch habe ich ihn nicht entdeckt, zu viele Wolken ziehen über den Himmel. In der Nachbarwohnung läuft der Fernseher, die Geräusche dringen dumpf durch die Wand. Uschi, so nenne ich die Frau von nebenan insgeheim. An ihrer Haustür hängt ein Mandala, und durch das Küchenfenster zieht regelmäßig der Geruch von Kreuzkümmel und Kurkuma nach draußen.

Wie geht es dir heute?, fragst du. Du schaust mich dabei nicht an, hast deinen Blick weiter nach draußen in den Himmel gerichtet. Früher hast du dir oft vorgestellt, dass Sterne zwinkern können, und wenn einer einmal heller und wieder dunkler wurde, war das dein Beweis dafür. Sterne haben auch Gefühle, hast du dann gesagt.  

Ich wende meinen Blick von dir ab, zurück zu den Sternen. Gut, sage ich. Gut geht es mir.

Bist du sicher?, fragst du.

Ja, sage ich. Warum?

Ach, sagst du. Du wirkst nicht so.

Warum das denn?

Ich richte mich auf in meinem Stuhl und drehe mich wieder zu dir. Noch immer schaust du mich nicht an. In der Luft hängt noch der Geruch des Chilis, das ich vor ein paar Stunden gekocht habe. Ich reiße das Fenster auf, schließe meine Augen, atme ein.

Naja, sagst du. Früher hättest du jetzt gesagt, komm, lass mal Sterne einatmen. Lass mal das Leben vergessen und einfach sein.

Sterne einatmen?, frage ich und runzle meine Stirn. Noch immer schaust du mich nicht an, hast den Blick starr aus dem Fenster gerichtet.

Ja, Sterne einatmen, sagst du. Die ganze Welt, die ganze Nacht. Alles, was ist, und was sein könnte. Möglichkeiten, Unendlichkeiten.

So ein Quatsch, sage ich. Unendlichkeiten.

Da, sagst du. Genau das ist es. Du denkst nur noch. Du fühlst gar nicht mehr.

Ich höre den Vorwurf in deiner Stimme, und er macht mich wütend.

Das stimmt nicht, sage ich. Ich fühle andauernd.

Aha, sagst du. Wann denn zuletzt?

Wie bitte?

Was war dein letztes Gefühl?

Was ist denn das für eine Frage?

Fragen brauchen Antworten. Auf so eine Logik stehst du doch. Also los jetzt.

Nein, sage ich. Der Vorwurf in deiner Stimme gefällt mir noch immer nicht.

Da hast du es.

Gestern, sage ich schließlich, nur um dir zu beweisen, dass du nicht Recht hast. Natürlich hast du nicht Recht. Natürlich fühle ich.

Gestern habe ich einen Text gelesen. Von einer Kollegin. Der war sehr interessant. Der hat mich zum Nachdenken gebracht. Im gleichen Moment, in dem ich den Satz ausgesprochen habe, merke ich meinen Fehler. Doch du bist schneller.

Ha, sagst du. Siehst du.

Ich mache meinen Mund auf, möchte mich verteidigen, dir sagen, dass das gar nicht stimmt, was du sagst, dass ich sehr wohl fühle, aber die Worte kommen nicht. Sie bleiben in meinem Hals stecken, störrisch, wie die kleinen dornigen Widerhaken, die früher in meinem Wollpullover hängenblieben, wenn ich über die Wiese vom Bauern Thomassun lief.

Eine Weile schweigen wir; ich denke über Theo nach, der mir in der zehnten Klasse das Herz gebrochen hat; über den Tag, als ich in meine erste eigene Wohnung gezogen bin, und über den Moment, in dem ich den Anruf von der Polizistin bekommen habe, Frau Hollweg, Ihr Vater.

Aber all das ist Jahre her.

Trotzdem will ich dir nicht Recht geben.

Woran machst du das denn fest?, frage ich dich schließlich. Dass ich nicht fühle?

Du zuckst mit den Achseln. Das ist leicht. Du lachst nicht mehr richtig.

Das stimmt gar nicht, sage ich. Ich lache andauernd.

Vielleicht, sagst du. Aber nicht richtig. Nicht so, dass du nach Luft schnappen musst und deine Bauchmuskeln sich so anspannen, dass du danach Seitenstechen bekommst, und dass du dir dabei fast in die Hose pinkelst.

Ich will protestieren und sagen, dass ich mir auch ganz sicher nicht in die Hose pinkeln möchte vor Lachen, aber dann verliere ich mich in meinen Gedanken. Ich erinnere mich an die Lachanfälle, die ich früher hatte, über die banalsten Dinge. Herr Schmitt mit dem überdimensionalen Schnauzer, der immer mittwochs seinen Rasen gemäht hat und dabei seine Finger ganz merkwürdig abgespreizt hat. Den Fernsehmoderator, dem in der Live-Übertragung des EM-Finales eine widerspenstige Haarsträhne vom Kopf abstand.

Vielleicht hast du Recht, sage ich schließlich und kaue auf meiner Unterlippe herum.

Und die Texte, die du liest, sagst du und schüttelst deinen Kopf.

Was ist damit?, frage ich.

Die sind immer voller tiefsinniger Gedanken, aber frei von Gefühlen.

Ja und, sage ich. Ich mag Texte, die mich zum Nachdenken anregen.

Offensichtlich, sagst du.

Und jetzt?, sage ich und wickle einen losen Faden von meinem Pullover um meinen Zeigefinger. Was soll ich deiner Meinung nach tun?

Gar nichts. Einfach mal gar nichts.

Ich starre dich an, dein vertrautes Profil, das noch immer von mir abgewandt ist. Ich denke an den Nachmittag, als ich ohne Badesachen in der Bucht in Montenegro schwimmen gegangen bin, an den Geschmack von Salzwasser auf meinen aufgesprungenen Lippen und das Kribbeln in meinem Unterleib.

Und dann?, frage ich. Was soll das bringen?

Dann kommen die Gefühle. In der Stille.

Endlich drehst du auch deinen Kopf, siehst mich an, und in deinen Augen tanzt ein ganzes Universum.

Wir sitzen einige Minuten lang schweigend voreinander. Ich verliere mich in deinen Augen, und plötzlich bin ich nur noch Gefühl, bestehe aus kribbelnden Fingerspitzen und tanzenden Atomen und lebendiger Materie. Habe vergessen, wie Denken überhaupt geht, und dass du gar nicht hier bist. Dass dein Profil nur eine flüchtige Verzerrung meines eigenen Spiegelbilds ist, und deine Worte nur der Widerhall meiner eigenen Gedanken.

Ich hebe meine Hand und lasse meine Finger über die Sitzfläche des leeren Stuhls neben mir gleiten. Schaue in die Sterne, die sich in der Unendlichkeit verlieren. Atme noch einmal ein, tief und lange, bis jeder Winkel meiner Lunge mit der kalten Luft gefüllt ist. Bis die Kälte in mir explodiert, sich in Hitze verwandelt, und in ruckartigen Stößen durch meinen Körper schießt.

Ich wehre mich nicht dagegen, lasse es einfach geschehen, gebe mich hin; der Erinnerung an dich, allem, was hätte sein können, was ich nicht fühlen wollte und konnte, was unter der Oberfläche all die Jahre brodelte und mich zu einer leeren Hülle hat werden lassen; einer Hülle, die funktioniert, sehr gut sogar; aber so viel Leere, so viel Kälte. Ich denke an Mandala-Uschi, an den Bauern Thomassun, an meinen Vater, und frage mich, ob sie auch alle dieses Ziehen in sich hatten, wenn sie in die Sterne geschaut haben.

Irgendwann ist es vorbei, und als ich in den Himmel schaue, spüre ich, dass ich es gerade endlich wieder getan habe: Ich habe Sterne eingeatmet. Möglichkeiten, Unendlichkeiten. Alles, was ist, und alles, was sein könnte.

Ich spüre, wie eine Träne meine Wange hinunterläuft. Ich lasse sie laufen, halte sie nicht auf, und schaue weiter in den Himmel.

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Marina Wudy

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