Der Bobbel

42 Tage, 12 Stunden, 21 Minuten. So lange saßen sie jetzt hier. Sie wussten das, weil die Stoppuhr immer noch lief. Sie hatten sie zu Beginn gestartet und seitdem ratterten die Ziffern ununterbrochen um die Wette, die Zahlen jagten einander ohne sich einzuholen, ohne Rast, konstant und zuverlässig zogen sie vorüber. Immer wenn nach 24 Stunden das Rennen von vorn begann, ritzte einer der Beiden mit dem Armbanddorn einen Strich ins Holz und so wussten sie eben, dass es 42 Tage, 12 Stunden und bald 22 Minuten waren, die sie mit den Augen die Digitalanzeige der Stoppuhr fixierten und hin und wieder einen Strich in die Wand kratzten. Sie hatten sich mit der Situation arrangiert. Eingerichtet, hatten sie sich, so sehr wie man es sich in einem Kleiderschrank eben einrichten konnte. Immerhin zwei klapprige Campingstühle hatten Platz gefunden und auf denen hockten sie jetzt und schwiegen sich an, denn sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Der Eine von ihnen verzog hin und wieder das Gesicht, er runzelte dann die Stirn, blinzelte mit den Augen, und schob die Brauen so gewaltsam zusammen, dass die Furchen auf der Stirn kleine Rettungsgassen bildeten. Die Andere stützte dagegen die Ellenbogen auf den Knien ab, krümmte den Rücken und vergrub das Gesicht in die aufgefächerten Hände. Sie taten das immer, wenn er durchs Treppenhaus polterte. Schwer und unbeholfen. Jeder Schritt war eine Detonation. Der Schrank begann dann zu zittern, das Holz pulsierte, Staub wirbelte durch die Luft. Mit jedem Tag wurden die Schritte derber, die Schwingungen gewaltiger, die Beben häufiger. Das ganze Haus wippte mittlerweile, wenn der Bobbel auf die Stufen stampfte.

Der Bobbel hatte sich eingeschlichen. Heimlich und harmlos. Am Anfang hatten sie es gar nicht so recht mitbekommen. Irgendwann war er eben da gewesen. Der Eine war sich sicher, dass die Andere ihn angeschleppt hatte, aber wann genau, dass konnte er beim besten Willen auch nicht mehr sagen. Irgendwann war er halt da, der Bobbel. Da hatte sie ihm gesagt, er solle den Bobbel doch bitte mal aufheben und dabei hatte sie auf den kleinen kugelförmigen Teigklumpen, der von der Arbeitsfläche auf die Fliesen gefallen war, gezeigt. Und er hatte den Bobbel aufgehoben und jetzt verfluchte er diesen Tag. Der Bobbel hatte sich schnell nicht mehr nur auf Teig beschränkt. Er war übergesprungen auf andere Dinge. Einmal da, konnte er vieles sein. Ein Wollknäuel, eine Bodenwelle, ein Tennisball. Alles Rundliche wurde fortan Bobbel genannt. Erst von der Anderen, etwas später von dem Einen. Frikadellen, Bäuche, Keksdosen – alles Bobbel. Irgendwann, als bereits Gebäckstücke, Küchengeräte und Gymnastikbälle zum Bobbel geworden waren, hatten sie es gemerkt. Da hatte die Andere zu dem Einen an einem Montagabend als sie in der Küche standen gesagt, sie habe es vergessen den Bobbel an die Straße zu stellen und mit Bobbel meinte sie den Müllsack und da hatten sie sich kurz in die Augen geschaut und mussten beide herzlich lachen, denn den Müllsack hatte bisher nun wirklich niemand Bobbel genannt. Und jetzt konnte plötzlich alles ein Bobbel sein. Schuhe, Kerzen, Steuererklärungen, Bademeister, Frischhaltefolie. Alles Bobbel. Wenn Gäste bei ihnen zu Besuch waren, kam es nicht selten vor, dass sie kein Wort verstanden. Zu weit erstreckte sich der Bedeutungshorizont des Wortes mittlerweile. Zwischen Sonnenschirm und Chicken Nuggets, konnte alles ein Bobbel sein. Der Eine und die Andere hatten dagegen längst gefallen am Bobbel gefunden. Sie schauten sich dann verschwörerisch an, wenn um sie herum alles rätselte, ob mit Bobbel jetzt gerade der Salzstreuer oder der Buchsbaum im Nachbarsgarten gemeint war. Der Eine und die Andere dagegen wussten immer was gemeint war. Sie achteten darauf ob die Augen beim Sprechen zusammengekniffen waren, ob sich die Lippen zu einem langgezogenen Oval formten, ob ein Akzent auf den ersten Vokal gesetzt wurde, ob die zweite Silbe verschluckt oder das „l“ sich, beinahe französisch, wie ein Kaugummi in die Länge zog. Der Bobbel konnte sich für sie ganz unterschiedlich anhören. Mal war er eher ein „Bòbbel“, mal fast schon ein „Bobbèl“, manchmal ein „Bobelle“ und nicht selten auch ein „Bobbl“. Der Eine und die Andere verstanden immer was verlangt war, wenn vom Bäcker ein Bobbel mitgebracht werden sollte. Auch jetzt, wo sie seit 42 Tagen, 12 Stunden und fast 25 Minuten im Schrank festsaßen, wussten sie: Es war die beste Zeit ihres Lebens.

Problematisch war es geworden als sich der Bobbel nicht mehr nur auf Nomen beschränkte, sondern sich auch nach und nach Verben und Adjektive zu eigen machte. Sätze wie „was bobbelst du hier rum?“, „ich dachte heute Abend bobbeln wir mal wieder“ oder „du wolltest doch den gebobbelten Bobbel anziehen?“ vermehrten sich exponentiell. Längst nannten die Andere und der Eine sich gegenseitig nicht mehr beim Namen, sondern sprachen auch in Anwesenheit anderer von ihrem Bobbel. Die ersten Missverständnisse entstanden schnell. Da hatte der Eine der Anderen statt eines Pfunds Mehl einen Staubsaugroboter aus der Stadt mitgebracht und da hatten sie beide noch gelacht, aber es war nicht dieses Lachen wie damals beim Müllsack, es war ein angespanntes Aufgrunzen, weil die Andere mit dem Staubsaugroboter ja jetzt keinen Bobbel backen konnte. Und es wurde immer schwieriger über die Missverständnisse hinwegzusehen, denn die Massagestühle, Mikrowellen und Thermodecken, die statt der gemeinten Marmeladen, Sparschäler und Deo-Roller angeschafft wurden, stapelten sich bereits. Einmal war die Andere für eine Woche verschwunden, nachdem der Eine sie gefragt hatte, ob sie sich am Bobbel träfen, weil sie schon so lang nicht mehr da gebobbelt hätten und dann war sie aber nicht in der Schlange ihrer Lieblingseisdiele aufgetaucht, sondern zu dem Ferienhaus an der Nordsee gefahren und hatte sich gewundert, warum er denn nicht da einträfe. Das war der Punkt, an dem sie gemerkt hatten, dass hier irgendwas schieflief. Dass der Bobbel sich viel zu breit gemacht hatte in ihrem Haus, ihrer Garage, ihrem Leben. Dass man ihn jetzt mal rausschmeißen müsse wie damals den Müllsack. Und so hatten sie sich zusammengesetzt, um eben diesen Rauswurf zu besprechen und als sie da saßen merkten sie plötzlich das ganze Ausmaß des Unheils. Dass sie den Bobbel gar nicht mehr rauswerfen konnten, weil er schon viel zu groß und breit geworden war. Und das war ja auch kein Wunder, denn sie hatten ihn gefüttert mit allem möglichen. Erst jetzt bemerkten sie, dass der Bobbel mit ihnen am Tisch saß und er lachte über sie, weil es ihnen so lange gar nicht aufgefallen war. Und jetzt wurde ihnen bewusst, dass sie gar nicht mehr miteinander sprechen konnten, weil ihr Wortschatz nur noch das Wort Bobbel kannte. Und so übernahm fortan der Bobbel das Sagen im Haus und sie das Schweigen. Und eines Tages, nachdem der Eine gerade vom Joggen nach Hause gekommen war, teilte ihnen der Bobbel mit, dass sie jetzt leider beide in den Kleiderschrank ziehen müssten, weil der Bobbel gewachsen sei und noch mehr Raum benötige. Und das war vor 42 Tagen, 12 Stunden und gleich 29 Minuten gewesen. Und alles was sie hatten war eben jetzt noch diese Stoppuhr, die der Eine noch vom Joggen umhatte, und obwohl das Leben jetzt doch sehr eingeschränkt für den Einen und die Andere in diesem sehr engen Kleiderschrank war, tat es irgendwie gut auf die Digitalanzeige zu schauen, auf die Zahlen, die sich gegenseitig verfolgten, denn sie waren eben Zahlen und keine Wörter und kein Bobbel und das waren die schönsten Momente bis die Schrankwand wieder anfing zu zittern.

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Luca Bognanni

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