Mosaike

Ein dunkelweißer Lederball rollt die Gasse hinab und die Burschen stürmen hinterher. Laut hallen ihre Tritte von den lehmverkleideten Wänden wider, laut rufen sie sich auf Arabisch und uns etwas anderes zu. „Bonjour, Monsieur!“, „Ca va, Madame?“ Mein beschauliches Französisch hat gelernt, diese Floskeln mit einem Lächeln zu erwidern, die Mundwinkel gerade so hoch angezogen, dass sie nachbarschaftliche Freundlichkeit, aber keine verstehenwollende Nähe, kein ehrlichgemeintes Amusement zeigen. Zu viele aus Palmblättern gebastelte Kamele, zu viele süßgedorrte Datteln wurden mir schon unter die Nase gehalten, wenn ich auch ein lachendes Auge riskierte.

Der Ball stürmt mit der Meute weiter, prallt ab an Schusterläden und Schmieden, Nähwerkstätten und Tischlereien. Verirrt sich in manchen bunt gefliesten Innenräumen, deren glasierter Schein schon lange nicht mehr von den verklumpten Meißeln, den zerborstenen Fasern, den fehlenden Zähnen ihrer Meister reflektiert wird. Die Blumenmosaike vergehen in sich, schön für sich, schön in einer Welt, in der Schönheit meist nur ein Kaufargument ist. „Come inside, more beautiful inside, I have more“ – der Ball rollt.

Auf seinem Weg schreckt er die streunenden Katzen auf, große und kleine, ein- und zwei- und dreifärbige, manche in Gruppen, manche alleine. Er rollt über ihren Lebensinhalt, die Därme und Innereien, die nicht einmal hier von den generationen-gealterten Fleischern und den traditions-veralteten Köchen verarbeitet werden wollen. Müde sehen die Tiere dem Leder nach, der Katzenelan nur noch eine verblasste Erinnerung, zittrig ihre Glieder, wie die der Pferde und Esel, die zu schwer tragen, westliches Geld und heimische Ernten.

„Why don’t you talk to me? Are you afraid?”, verliere ich den Ball aus den Augen, grölt die aufdringliche Männerstimme mich an. Schweigen wird nicht akzeptiert, wird als Schwäche angesehen. Mein nachbarschaftliches Nicken reicht nur für Straßenkinder und Straßenhunde, darüber hinaus habe ich noch kein Mittel für das Sein gefunden.

„Are you afraid?”

Vom ersten Tag an beunruhigt es mich, dass ich mich immer wieder bei dem Gedanken ertappe, froh zu sein, hier nicht allein das Stadtpflaster betreten zu müssen, einen großgewachsenen, robusten und wortgewandten Mann an meiner Seite zu wissen, mich in seinem Schatten klein machen zu können. Klein und unbedeutend. Der Gedanke ist Stickstoff in meinen Atemwegen, ein Kloß aus heißer Luft, er würde mich verbrennen, würde ich ihn zu Ende denken.

Ist es Angst, die diesen Gedanken zu Tage fördert? Hat der grölende Verkäufer mich enttarnt, mein Schweigen richtig gedeutet, mein leeres Lächeln mehr für mich als für ihn interpretiert?

Manchmal, auf den breiteren Straßen, wenn die handgefertigten Teppiche und die naturgegerbten Lederwaren weiter auseinanderrücken, mache ich mich groß, gestikuliere weit, deute auf dieses und jenes, bestimme den Weg, das Ziel. Gehe mit meinen ausgetretenen Sandalen, meiner luftigen Hose, meinem schulterbedeckenden Überwurf selbstbewusst voran, bewusster als sonst, bewusster als in einem Umfeld, in dem das Bewusstsein auch einmal der Freiheit weichen darf. Bewusst bin ich mir aber auch des wachenden männlichen Auges hinter mir, dass die anderen glotzenden Linsen abwendet, das einschreiten würde, wenn aus Augen Hände, Griffe, Greifhände werden würden.

„Are you afraid?“ – Angst, vielleicht, ja vielleicht wirklich, aber wovor?

Was die Aussage des Käufers provoziert, ist das, was das rollende Leder der Jungs nicht ansteuert. Verhüllt in bunt gefärbten Stoffen, wie die Fliesenmosaike schön und still, ist das Unmännliche hier meist unsichtbar, ist in den Räumen hinter den Mosaikaufgängen, in den Werkstätten fernab der Hauptwege, in den Kooperativen, die Arbeit schaffen und Luft nehmen. Schön und still.

Schön und still sind auch die Mädchen, die den spielenden Jungs zusehen. Ihre Augen tiefbraun oder schimmernd grün, lehnen sie in Treppenaufgängen, an Geländern, sitzen sie am Straßenrand, halten sie die schützende Hand ihrer Mutter beim Einkauf von Getreide und Milch. Mitspielen ist ausgeschlossen, die Teilung ist so stark wie die klammernde Nadel im Hijab der Frauen.

Als Kind war ich gewiss alles andere als schön und still. Immer am Erkunden, immer am Austesten meiner Umgebung waren meine Knie stets dreckig und aufgeschlagen, meine Handflächen voll mit Kieselsteinen, Gräsern und Insekten. Gemeinsam mit meinem gleichaltrigen Nachbar grub ich Löcher im Garten (wir wollten Fische darin züchten – wenig erfolgreich), warf ich Bälle über Häuserdächer, veranstaltete ich Autorennen am Wohnzimmerteppich. Ich nahm aber auch Ballettstunden, spielte Flöte und sah den Margariten im Garten beim Wachsen zu.

Wäre ich Walt Whitman, würde ich nun sagen: I contain multitudes.

Ich bin Vieles, die Summe und Differenz meiner Identitäten.

Am Jemaa el Fna gibt es keine Geschichtenerzählerinnen, hinter den Theken der vornehmen Rooftopbars keine Kellnerinnen, in den Musikläden keine Instrumentenbauerinnen. Das Weibliche hüpft nicht über die dampfenden Gerbertöpfe, es verkauft keine Tagines, es mischt keine Berbertees. Im Öffentlichen ist es schön und still, hinter den Fliesenaufgängen ist es Mutter und Ehefrau, Fürsorgerin und Köchin, Gastgeberin und Bettüberzieherin.

Hier, am Markt in der marokkanischen Stadt bin ich hauptsächlich eine weiße Frau mit einem weißen Mann, der vermutlich reich ist, der ein potentieller Kunde ist. Beim Deckenkauf erwartet man, dass ich aussuche und er bezahlt. Als ich einen größeren Teppich ablehne, meint man, ich solle in einen reicheren Mann investieren.

Hier, am Markt, bin ich nicht Viele. Ich bin eine gerundete Tabula Rasa, definiert von den Reflexionen der Menschen um mich herum, ein Spiegelbild des Erzählens, ein Abbild der bunten Mosaike und der schweigenden Mädchen. Für große Gesten bleibt mir hier kein Raum.

Vielleicht liegt aber ausgerechnet im verwinkelten Souk die Antwort auf die Frage nach der Angst. Hier, inmitten des bunten Trubels, der roten, blauen, grünen Stoffe, der ebenso vielfärbigen Gewürze, der vorbeirauschenden Mopeds, der blökenden Esel. Hier, wo mir alles zu eng wird, werde ich mir selbst zu eng. Von außen begrenzt, habe ich vielleicht Angst, dass die Grenzlinien durch meine Poren in mich eindringen, meinen Blutfluss verzerren, meine Gedanken beschränken könnten? Habe ich Angst, mit jedem Dirham auch eine Besonderheit, meine Eigenheit wegzugeben? Nein – denn bald schon werde ich im Flugzeug sitzen, die Beine angewinkelt, wie es mir gefällt, Yoko Tawada lesend, den Stadtlichtern beim Verschwinden zusehend.

Was mir zu eng wird, bin nicht ich. Was mir zu eng wird, sind die Aussichten auf ein selbstbestimmtes, ja vielleicht sogar freies Leben der Frauen, die mich hinter Besen und aus dunklen Nischen anlächeln, die ein paar wenige Schafe um ihre Lehmhäuser treiben. Ich frage mich, ob es die reicheren unter ihnen besser haben – und was Reichtum als Frau bedeuten mag.

Wovor ich Angst habe, ist, dass ich irgendwann diese Lebensvoraussetzungen akzeptieren könnte.

Am Heimweg vom Souk halten wir bei einer von Frauen geführten Patisserie an. Die kunstvoll gestalteten Pralinen leuchten wie die Sterne der Wüste hinein in die langsam dunkler werdende Gasse. Während mir eine junge Frau, vielleicht gleich alt wie ich, die Kreationen erklärt, verweilt eine andere im Geschäftslokal von mir abgewandt, ihren dunkelgrünen Hijab tief ins Gesicht gezogen, keinen Blick riskierend. Als ich später auf der Dachterrasse unseres Riads in die Schokoladenpraline beiße, stelle ich mir das Gesicht der verhüllten Frau vor. Welche Geschichten beherbergt es, wie sieht ihr Leben aus? Ich weiß zu wenig.

Der Ball rollt. Er läuft von Pass zu Pass, wird hin und her gestoßen zwischen Jungenbeinen, zwischen Jungengelächter, zwischen Jungengeschubse und Jungengegröle. Die Mädchen am Straßenrand sehen mich mit großen Augen an. Nur schwer können sie ihren Blick von mir abwenden, nur schwer kann ich meine Lider schließen. Welche Geschichten würden sie mir erzählen, sprächen wir dieselbe Sprache? Wie würden sie ihr Lebensmosaik gestalten?

 

 

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Lisa Schantl

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