Der Zuckervogel

Eine alte Schaukel hängt an dem Mangobaum draußen vor dem Fenster. Sie erinnert sich, wie sie stundenlang dort saß und das zerschlissene Seil hielt. Der Himmel spannte sich zu einem Dunst aus Lila und Blau. Und aus der Höhe sties ein Zuckervogel auf eine der Früchte, oder er flog zu wild blühenden Allamanden neben dem Haus. Saug den Nektar.

Mädchen spielen in den Vorgärten. Sie kann hören, wie sie klatschen und singen zu “Down Down, Babyâ”. Sie kann das Knirschen der Autorreifen auf dem steinigen Asphalt der Uferstraße ausmachen. Sie lauscht dem Zuckervogel.

Down Down Baby, Down by the river side

Sweet Sweet Baby, I’ll never let you go…

Vögel fliegen über die singenden Kinder, hienüber zu dem Fenster, wo sie sitzt und wartet. Er kommt zur selben Zeit, tagaus, tagein. Sein Rücken ist schwarz, sein Schnabel gebogen; mit ihm hämmert er wild gegen den Fenstersims. Sie stellt ihm eine Schale Zuckerwasser hin, die er meidet. Viel lieber trinkt er aus ihrer Hand.

Sie schüttet ein wenig Süße in ihre Hand, und das Wasser verrinnt in ihren Lebenslinien. Immer wenn sich ihm zu entziehen beginnt, schreitet der schwarze Vogel mit der gelben Brust ihr frech entgegen.

Er nippt.

Er schluckt.

Schnell verschwindet das Zuckerwasser von ihrer Haut, doch er trinkt weiter. Sie spürt die sich eingrabende Schnabelspitze und versucht ihre Hand wegzuziehen. Heute trägt sie die Bluse, die ihr Tita genäht hat, die mit den Lagenärmeln. Ein davon hat sich verhakt im Fensterrahmen, dessen sonnengetrocknetes Holz leicht brüchig geworden ist. Sie versucht, ihn freizumachen. Plötzlich reißt der Zuckervogel ihre Haut, seinen Schnabel in die Innenseite ihrer Hand bohrend. Schreie. Blut. Es fließt über ihre Hand, rinnt zwischen ihre Finger. Sie bewegt sich nicht mehr. Sie sitzt fest.

Er trinkt.

Er schluckt.

Als er genug hat, fliegt der Zuckervogel davon, sein Magen voll mit Hautfetzen, ihrem Blut; zerschlissen lässt er Hand und Ärmel zurück. Draußen spielen noch immer die Mädchen. Sie wechseln sich ab beim Schaukeln unter dem Mangobaum, aber jetzt singen sie ein neues Lied, eines, dass sie nicht kennt.

Laurel Eberle

freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>