Die Flucht

Mai 1972 – Ostharz, innerdeutsche Grenze, Staatsgebiet der DDR.

Seit zwei Tagen regnet es, ununterbrochen regnet es. Gassner muss an Bindfäden denken, die in der Luft hängen. An unzählige Bindfäden, Striche und Vertikalen. Regenwasser dringt durch die Kronen der Eichen, Buchen und Tannen, ergießt sich, wie an unsichtbaren Fäden, auf den mit Moos bewachsenen Waldboden, auf Ameisenvölker, braune und schwarze Käfer, und auf Gassner selbst, der an einen Baum gelehnt sitzt, Wasser in den Schuhen, sein Hemd völlig durchnässt. Die Brille setzt er nicht ab. An Schlaf ist nicht zu denken. An Gassners Rücken fließt geräuschlos Regenwasser ab. Am Boden bilden sich dunkelgrüne Pfützen, Tannennadeln darin, vereinzelt auch kleinere Spinnen und Fliegen – Kleintiere, die mit dem Tod ringen. Es riecht nach Moos und Flechten. Der Regen prasselt unentwegt. Wenn er doch nur aufstehen könnte und loslaufen, dann würde er vom Punkt zur Linie werden. Doch Gassner läuft nicht los, weil er nicht weiß, wohin, weil er keine Kraft mehr hat, sich verlaufen hat, in diesem regennassen deutschen Wald. Aber du musst, Gassner, weil du es willst. Du hast keine andere Wahl. Vergiss die Bindfäden in der Luft, den Wolkenbruch. Verdränge den Regen, die Kälte, den Schlaf. Im Grunde bist du allein, ja, aber es ist gut, hier und jetzt allein zu sein. Und später? Später kannst du schlafen, tagelang schlafen. Träumen wirst du dann, endlich wieder träumen. Von drüben? Nein, nicht von drüben, denn wenn du auf der anderen Seite angelangt bist, hast du ja dein Ziel erreicht. Und die kleine Öffnung in der Wolkendecke, auf Caspar-David-Friedrichs Bild, vom Mönch am Meer, wäre damit mehr als ein reines Versprechen deines Vaters gewesen – ein Ausweg nämlich, ein gelungener Fluchtversuch.

Aber halt, war da nicht ein Geräusch? Eine kurze Bewegung? Ein Knacken von Ästen? Dort hinter dem Baum?

Vor vier Tagen war Gassner mit 10.000 DDR-Mark in 50er und 100er Scheinen, seiner Geburtsurkunde, seinen Schulzeugnissen und dem Gesellenbrief, alles fein säuberlich in einer wasserdichten Plastiktasche verstaut, in einen Bus gestiegen, hatte den Bauernhof, die schon alt gewordene Mutter und den Bruder verlassen, und dabei versucht, möglichst unauffällig auszusehen – bei seinem ersten Fluchtversuch. Sein Plan schien aufzugehen: Der alte Fahrer des Omnibusses hatte seine Sonnenbrille nicht einmal abgesetzt, hatte nur Gassners Fahrkarte entgegen genommen und sie am perforierten Kartenrand abgerissen, so, wie es allgemein üblich war. Auch während der Fahrt in die nächstgelegene Stadt hatte der Fahrer nur selten in den Rückspiegel geblickt, was gut war, denn so ging es weiter, Kilometer für Kilometer. Die Mitreisenden waren so unauffällig wie Gassner selbst – darunter eine dickliche Frau, um die 30, mit kurzen Haaren, einem blassen Gesicht und einem Säugling auf dem Arm. Sie hatte ihren roten Wollpullover nach oben gezogen, so dass man ihre rechte Brust und den Kopf ihres Kindes sehen konnte. Unentwegt starrte die Frau auf die flaumigen schwarzen Haare ihres Säuglings und strich mit ihren dicken Fingern über Kopfhaut und Haar. Ihr gegenüber saß ein junger Mann, so um die 20, in einem hellen Cordanzug, Zigarette im Mund, ein altes, zerlesenes Buch in der Hand. Sein Blick wanderte hellwach über die Zeilen. Gassner fragte sich für einen Moment, was der Mann da las. Den blauen Einband kannte er nicht. Die Schrift darauf wurde von der Hand des Mannes verdeckt. Die hochgepriesenen Amerikaner, deren Bücher ihm sein Vater früher über Umwege besorgt hatte, kamen Gassner in den Sinn: Hemingway und Faulkner. Und während er an den alten Mann und das Meer und all die anderen Geschichten dachte, streifte sein Blick über das dichte Grün der riesigen Alleebäume – da tauchte plötzlich dieses Tier auf. Es hockte in einer der hellgrünen Baumkronen und blickte zur Seite. Ein Wisch, schon vorbei. Konnte das wirklich sein, hatte Gassner sich gefragt und sich erst wieder beruhigt, als er kurz darauf einen Wanderzirkus auf einer Wiese entdeckte. In der Mitte stand das große Zirkuszelt, am Rand des Lagers bunte Wohnwagen aus Holz, Tiere in Käfigen und vor den Käfigen jonglierende Artisten, Bälle und Keulen in der Luft. An einem kleinen Zelt flatterten bunte Fahnen im Wind. Er hatte sich also nicht getäuscht, sicher war es ein Affe gewesen. Ein Schimpanse auf der Flucht. Einer, der sich aus dem Staub machen wollte, einer der die haarigen Beine in die Hand genommen hatte, um diesem ganzen Zirkus hier zu entkommen. Sehr viel später, im Wald umher irrend, den Grenzzaun suchend, hatte sich Gassner gefragt, wie weit so ein Schimpanse, ganz auf sich allein gestellt, überhaupt käme. Denn es hatte angefangen zu regnen, und Gassner hatte sich vorgestellt, wie der Affe durch den Regen und über die Felder lief, halb springend, halb taumelnd. Auf den Zirkus folgten: ein Dorf mit Brunnen, ein Zweites ohne, dann ein Drittes, und nach einer halben Stunde Fahrt hatte der Bus schließlich angehalten, Gassner war ausgestiegen, hatte in die helle Mittagssonne geblinzelt, sich nach allen Seiten umgeschaut, seine Tasche genommen und sich auf eine der Holzbänke gesetzt. Hier wäre er also Besucher dieser Kleinstadt, nicht mehr und nicht weniger. Nur daran müsse er sich halten, an nichts anderes. Ganze fünf Mal sollte Gassner umsteigen, so der Plan: vom Bus in einen weiteren Bus, von einem Zug in den nächsten und so weiter. Bei den geplanten Kurzaufenthalten in den Dörfern und Städten wollte er sichergehen, dass ihm niemand folgte.

Moment. War da etwas? Ja, ein Geräusch. Er hat es gehört – da hinten. Jetzt kann er es sehen, verschwommen, wie durch Fäden hindurch, ein orangener Fleck auf seiner Brille, springt über Baumstümpfe und verliert sich im Unterholz. Wahrscheinlich ein Tier, schon vorbei, keine Gefahr. Durchatmen… Wind kommt jetzt auf. Am Himmel ziehen Wolken westwärts. Zwischen den Baumwipfeln entdeckt Gassner helle Flächen Licht, hier und da auch eine Vorstellung von Blau. Diese kleinen, blauen Flächen dehnen sich langsam aus. Hat es wirklich aufgehört zu regnen? Es fehlt ein Geräusch, ihm fehlt ein Geräusch – der Regen als Kulisse. Die Fäden sind weg. Jemand hat sie abgeschnitten. Gassner setzt die Brille ab, streicht mit einem Tuch über die Gläser, schaut sich um und setzt sich in Bewegung, ein federnder Gang. Die Sonne weist ihm den Weg. Nach einiger Zeit kommt es ihm vor, als würde sich der Wald um ihn herum verändern, als stünden die Bäume nicht mehr so dicht beisammen, als lichte sich der Wald, oben und auch an den Seiten. Gassner greift in die Tasche seiner nassen Hose und bricht ein Stück Schokolade, steckt es in den Mund und bewegt es mit der Zunge hin und her. Quer über ihm steht die Sonne, sie blendet.

Auch ich sehe sie jetzt und schreibe es auf. Die Sonne blendet. Mit meiner Hand schütze ich meine Augen und folge Gassners Schritten. Er sagt: „Los jetzt!“ Und: „Wir müssen weiter. Sofort!“ Wir?, möchte ich ihn fragen, und schütteln möchte ich ihn dabei, aber vielleicht ist es besser so, wahrscheinlich braucht er mich jetzt. Also folge ich seinen Anweisungen, folge ihm. Schließlich müssen wir weiter, er und ich. „Nicht so schnell!“, rufe ich, denn mir geht die Puste aus. Aber er läuft weiter, den Blick stur nach vorne gerichtet. Ich komme kaum hinterher. Wieder muss ich stehenbleiben und nach ihm rufen. Schnell ermahnt er mich, leise zu sein. „Wir wollen doch nicht riskieren geschnappt zu werden“, mahnt er. Zwischen den Bäumen weiten sich die Lücken – Lichtungen tun sich auf. Gassners Schritte werden verhaltener, vorsichtiger, er bleibt stehen, kniet sich hin, hört in den Wald hinein. Ein Geräusch? Nichts bewegt sich, nur die Wolken – ihre Schatten ziehen über uns hinweg. Vor uns öffnet sich eine Schneise, daran angrenzend ein hoher Zaun mit Stacheldraht. Plötzlich ein Wagen, kommt von rechts heran, immer näher, das Motorengeräusch schwillt an. Dann Stille, der Wagen vorbei. Gassner schnappt nach Luft. Hat er die ganze Zeit die Luft angehalten? „Endlich“, sagt er und es soll wohl beruhigend klingen. Ich sehe, wie Gassner die Umgebung genau beobachtet, sein Blick wandert vom Wachturm über die Wiese, den Zaun entlang. Erneut putzt Gassner seine Brille, doch die Schlieren bleiben. „Der Turm ist das Problem“, sagt er, nimmt ein letztes Stück Schokolade aus der Tasche und kaut darauf herum. „Wir dürfen kein Risiko eingehen“, sagt er und ich gebe ihm zu verstehen, dass ich seine Ansicht teile, dass es besser wäre, eine weniger einsehbare Stelle zu finden. Er nickt, ich nicke, wortlos folge ich ihm. Als er Sekunden später über eine Baumwurzel springt, knickt er ein, hält sich den Fuß. „Verdammter Mist“, sage ich. Ich gehe in die Hocke um mir den Fuß genauer anzusehen. „Das erste Mal“, sagt er, „meine erste Verletzung.“ „Und jetzt?“, frage ich. „Was willst du tun?“ „Ach, das krieg´ ich schon hin“, sagt er, „hast du Schokolade dabei?“ „Keine Schokolade, aber schau mal in deiner Tasche nach“, sage ich. Erstaunt fischt er ein Päckchen Traubenzucker heraus. „Das ist ja West-Ware“, sagt er und schaut mich fragend an. „Ein Geschenk“, sage ich. Er steht auf. In seinem Gesicht lese ich Schmerz. „Soll ich dir helfen?“, frage ich. „Nein, das schaffe ich schon!“, sagt er. Er nimmt ein gelbes Tuch aus seiner Tasche, legt es auf den Waldboden und drückt es gegen das feuchte Moos. Dann bindet er es fest um seinen Fuß. „So“, sagt er, „das müsste gehen.“

Wie lange hatte er darauf gewartet, diesen Wald zu betreten, diesen einen Schritt weiter zu gehen als die meisten anderen. Viel weiter als sein Vater war er gekommen; sein Vater, den sie eineinhalb Jahre zuvor inhaftiert hatten und dessen Tod der Staat vermeldete, als handele es sich um eine bloße Randnotiz. Sie sagten, dass es seinem Vater in den letzten Wochen sehr schlecht gegangen wäre. Er hätte jedwede Hilfe verweigert. Den Staat träfe keine Schuld. Ob es einen Abschiedsbrief gäbe, hatte Gassner einen der Verantwortlichen gefragt. Und der hatte ihm eine Skizze in die Hand gedrückt, auf der recht wenig zu erkennen war, nur Striche und Linien. „Das hier“, hatte er gesagt und ihm das Stück Papier ausgehändigt, „ist alles was wir von ihrem Vater haben.“ Auf den ersten Blick war wenig zu erkennen und Gassner brauchte eine Weile, um den stilisierten Mönch, den Himmel und das angedeutete Meer zu erkennen. Und er erinnerte sich, wie ihm sein Vater, in der alten Wohnung in Berlin, das Bild des Mönchs am Meer in einem Kunstband gezeigt hatte. Wie er ihm alles über das kleine Bild erzählt hatte, um dann mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand über eine helle Stelle in der Wolkendecke zu kreisen und zu sagen: „Siehst du das, mein Sohn? Siehst du das Aufklaren? Hier, direkt über dem Kopf der Figur?“, und er kreiste wieder um die Stelle, „ siehst du, hier öffnet sich der Himmel.“ Damals hatte Gassner die Anspielungen seines Vaters nicht verstanden, nicht gewusst, was er ihm damit sagen wollte. Und vielleicht war es auch besser so gewesen.

Wir kauern auf dem Boden und sondieren die Lage. Gassners Blick wirkt verschlossen. „Was ist?“, frage ich. „Ich habe Angst“, sagt er. Ich sage: „Ich weiß“, und lege meine Hand auf seine Schulter. „Warum tust du das alles?“, fragt er. „Eigentlich machst du doch alles selbst“, sage ich. „Außerdem folge ich dir, weil ich mich für dich und deine Geschichte interessiere.“ Er lächelt. „Das ist schön“, sagt er. „Aber was ist, wenn ich im Zaun hängenbleibe? Oder sie mich vom Zaun schießen? Oder eine Mine hochgeht?“ „Warte mal“, sage ich und zeige mit dem Finger auf die andere Seite, Richtung Westen. Und während Gassner meinem Fingerzeig folgt, taucht ein niederländischer Reisebus mit Grenztouristen auf. „Das sieht doch ganz nach einer guten Chance aus“, sage ich. „Los. Lauf los. Jetzt.“ Erst humpelt er, dann rennt er, noch 200 Meter, 100 Meter, 50, dann der Zaun. Gassner ist schnell. Seine rechte Hand greift in den Draht und zieht sich hoch. Im Bus sehe ich ein Blitzlichtgewitter. Gesichter kleben an den Fenstern, Münder sprechen aufgeregt miteinander. Die Oranier-Route führt hier, 1972, an der deutsch-deutschen Grenze vorbei. Für die Touristen aus den Niederlanden ist der Grenzzaun seit Jahren ein willkommener Anlass Fotos zu schießen, und einer wie Gassner, jetzt und hier, das ideale Motiv: ein Mensch auf der Flucht. Gassner ist jetzt hinter dem ersten Zaun. Ich sehe wie er sich zu mir umschaut. „Lauf!“, rufe ich. „Lauf um dein Leben!“ Ein zehn Meter breites Minenfeld. Gassner steht davor. Der Bus hält an, die Rücklichter leuchten. Er läuft über das Feld, läuft sehr schnell. Er fällt nicht, fliegt nicht in die Luft. Dann der zweite Zaun. Wieder zuerst die Hände, die Füße, ich muss an das Tuch an seinem Fuß denken, das gelbe Tuch. Ich sehe den gelben Knoten wie er am Draht entlang schrammt. Gassner lässt sich fallen, sein Körper bleibt liegen. Jetzt erst schaut er zum Bus, stützt sich auf, schaut zurück, ein Lächeln. Humpelnd verschwindet er im westdeutschen Wald. Ich stehe auf und bemerke erst jetzt, dass sich Stimmen nähern. Ein Hund hechelt. Zwei Grenzer mit Schäferhund laufen an mir vorbei. Plötzlich bellt der Hund. Ich bleibe stehen und sehe, wie sie den Hund von der Leine lassen. Blitzschnell rennt dieser über die Wiese, bremst am Zaun, überschlägt sich fast. Das Bellen hört nicht auf. Dann betreten die Grenzer die Wiese, pfeifen den Hund zurück und stecken sich Zigaretten an. Rauch steigt auf und verliert sich über der Schneise. „Sieh mal“, sagt einer der beiden und hebt einen weißen viereckigen Gegenstand vom Boden auf, etwa so groß wie eine Briefmarke.

„Sieht komisch aus“, ergänzt er.

„Das ist doch Traubenzucker!“, sagt der Zweite, steckt sich das Stück in den Mund und blinzelt in die gelbe Sonne.

Karsten Redmann

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