Grüner Kasten

Sie kam das Treppenhaus mit schweren, stampfenden Schritten hochgelaufen. Auf halber Strecke blieb sie stehen.
»Hallo, Marie«, sagte sie.
»Hey«, sagte ich und hob die Hand.
Ich lehnte mit verschränkten Armen am Türrahmen. Sie schnaufte und trug einen grünen Metallkasten in der Rechten. Sie hatte große Mühe, ihn bis zu meiner Wohnung
hochzubekommen.
»Das ist er«, sagte sie und stellte mir den Kasten vor die Füße. Wir tauschten Blicke aus. Sie versuchte zu lächeln. Ihre Augen waren glasig und rot, ihre Haut fahl.
»Ist gut«, sagte ich und räusperte mich.
Ich sah auf den Kasten. Brauner Rost begann, ihn aufzufressen. Ich wollte noch etwas anderes sagen, aber ich tat es nicht.
»So, das war jetzt das letzte, was ich von ihm hab«, sagte sie.
»Hat er die anderen Sachen schon geholt?«
Ich nickte. Dann lehnte sie sich mit dem Rücken an die Wand und drehte ihren Kopf weg von mir. Ich überlegte, ob ich es ihr jetzt sagen sollte. Sie begann, tief ein- und auszuatmen. Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Früher war sie blond gewesen. Jetzt hatte sie braunes, kantig geschnittes Haar. Als sie ihren Kopf neigte und in die Hocke ging, da fielen sie ihr wie ein Vorhang vor ihre Augen. Die braunen, kantig geschnittenen Haare.

Sie war drei Jahre lang mit ihm zusammen gewesen. Sie waren dem anderen nie fremdgegangen. Sie lebten nicht zusammen, aber sie sahen sich nahezu täglich. Ich traf die beiden ein paar Mal die Woche. Ich kannte sie aus dem Lehrstuhl. Sie lachten viel, aber oft verdrehten sie die Augen, wenn sie über den anderen sprachen. Nachdem er ihr gesagt hatte, dass er sie nicht mehr liebe, wollte sie ihn nie wieder sehen. Deswegen brachte sie mir seine Sachen.
»’schuldigung«, sagte sie. Sie wischte sich über die Augen, dann sah sie wieder mich an. »Heute nervt mich alles. Es gibt so Tage, da nervt mich einfach alles.«
Ich nickte, kratzte mich am Nacken. Ich hatte in einer halben Stunde eine Verabredung. Wir wollten ins Kino gehen. Da lief so eine Komödie über Punks, über Punks in den Achtzigern.
»Kein Problem«, sagte ich.
»Okay«, sagte sie.
Sie lehnte noch an der Wand an. Sie atmete tief ein und aus. Ich stand im Türrahmen, mit verschränkten Armen. Ich dachte an den Film, an die Komödie. Das Licht im Treppenhaus erlosch. Ich drückte den Knopf. Als es wieder hell war, hockte sie noch immer da, an der Wand gelehnt, und starrte vor sich hin.
»Willst du noch kurz reinkommen?«, sagte ich. »Wir müssen
hier nicht so rumstehen, im Treppenhaus.«
Aber eigentlich dachte ich an die Komödie.
»Nein«, sagte sie, ohne mich anzusehen, »passt schon, danke.«
Dann: »Er hat mich angerufen, heute. Vorhin. Er hat gesagt, er möchte noch mal über alles reden. Über früher. Er hat gesagt, dass er so ein abschließendes Gespräch haben will. Dass da noch Sachen unbesprochen sind.«
Ich nickte. Das Licht ging wieder aus. Ich drückte auf den Knopf.
»Er ist ein Arschloch«, sagte sie.
»Ja,« sagte ich, »sowas geht echt gar nicht«, sagte ich.
Ich trug den Metallkasten in meine Wohnung. Dann kam ich wieder.
»Er ist ein Arschloch, dass er mich einfach so anruft.«
Ich nickte. Ich mochte es nicht, so im Türrahmen zu stehen.
Das Treppenhaus war kalt, die Luft klamm. Sie rieb sich die Augen, dann sah sie hoch zu mir und sagte: »Ich glaube, ich würde doch noch mal kurz mit reinkommen, wenn’s dir nichts ausmacht.«
Auf dem grünen Kasten war eine Bohrmaschine gezeichnet. Der Kasten stand auf meinem Küchentisch, er sah uns an.
»Wir haben damit einen Schrank gebaut«, sagte sie, dann nippte sie noch mal an ihrem Glas. »Den einen, der da bei mir in der Ecke steht. Du weißt schon, mit den CDs drin.«
Ich nickte. Sie sah den grünen Kasten kurz so an, wie sie ihn immer angesehen hatte. Aber dann war sie wieder wütend, wütend und traurig. Ich glaube, es gibt nichts schlimmeres, als wütend und gleichzeitig traurig zu sein.
»Er war einfach so vor meiner Tür gestanden. Er hat geklingelt, und ich hab aus dem Fenster geschaut. Und dann hat er hochgewinkt, und auf den grünen Kasten gedeutet. Er hat gegrinst und hochgeschrien, dass er eine Überraschung für mich hat. Das hat er gesagt, als er mit dem Ding da vor meiner Tür gestanden war.«
Sie sah den Kasten noch immer an. Ich dachte an die Komödie. Aber ich dachte auch daran, wie sie bei sich zuhause sitzt und den Kasten ansieht.
»Ich bin so froh, dass es vorbei ist«, sagte sie und zuckte mit den Schultern. »Es waren die schlimmsten Jahre meines Lebens. Er war so ein richtiges Arschloch.«
Ich goss ihr noch etwas ins Glas und sagte: »Aber ist ja jetzt vorbei.«
»Ja«, sagte sie, »ja. Aber er war so ein richtiges Arschloch, weißt du? So ein richtiges.«
Ihre Augen glitzerten wieder, und sie strich sich mit der Hand darüber. Wir schwiegen und tranken aus unseren Gläsern.
»Du solltest heute noch was machen«, sagte ich, »irgendwas, dass du nicht so alleine rumsitzt.«
Sie nickte.
»Hast du was vor?«, sagte ich.
Sie zuckte mit den Schultern.
»Du?«, fragte sie.
»Ich gehe dann ins Kino.«
Sie sah mich an.
»Ach, schön«, sagte sie.
»Ja«, sagte ich.
Sie sah mich noch immer an, und ich fragte mich, ob sie es sehen konnte, ob man es mir ansah. Ihr Handy klingelte. Sie nahm ab und sprach ein paar Sätze, dann legte sie wieder auf.
»Ach«, fing sie an, »ich mach in der letzten Zeit so richtig viel. ’ne Menge neuer Leute kennengelernt. Ist manchmal ganz schön anstrengend«, sagte sie, und dann lachten wir beide. Wir zündeten uns Zigaretten an. Sie lächelte und schüttelte dabei den Kopf.
»Ich bin voll über ihn weg«, sagte sie dann, »das kannst du ihm ruhig sagen, wenn du ihn mal wieder siehst. Dass ich voll über ihn weg bin.«
»Ja«, sagte ich, »ja, mache ich.«
Ich drückte meine Zigarette aus. Der Film fing in einer Viertelstunde an. Ich schaute zur Wanduhr, zweimal, dreimal, dann sagte sie: »Oh, musst du los? Ich will dich nicht aufhalten, wenn du los musst.«
»Ist schon okay«, sagte ich und machte eine wegwerfende Handbewegung, »ich hab noch Zeit.«
Als wir aufstanden, sah sie noch einmal auf den grünen Kasten. Ihre Augen waren rot und in dunkle Schatten gehüllt. Ihre Haut war weiß wie die Wände meiner Küche. Dann drehte sie sich um und ging.

Mein Auto hatte einen Platten, also nahm ich das Fahrrad. Vor der Tür umarmten und verabschiedeten wir uns. Ich fragte mich noch einmal, ob ich ihr es sagen sollte. Ich fuhr und winkte ihr. Sie ging die Straße entlang und winkte zurück. Der Mond war groß und weiß, er war voller Narben. Ich dachte an die Komödie. Aber dann dachte ich wieder an den Kasten. Ich konnte mir gut vorstellen, wie sie damit den Schrank gebaut hatten. Ich konnte mir gut vorstellen, wie sie zuhause vor dem Kasten kniete und heulte und schrie. Ich sah ihn, wie er jetzt bei mir stand, auf meinem Küchentisch, der Kasten. Ich fragte mich, ob sie es mir angesehen hatte, ob man Leuten allgemein so etwas ansehen kann.

Vor dem Kino begrüßten wir uns. Wir küssten uns lange und intensiv. Er trug eine braune Lederjacke und roch nach Rasierwasser.
»Wo warst’n du so lange?«, fragte er und lächelte, »der Film
fängt gleich an.«
»Mein Auto hat ’nen Platten«, sagte ich.
Er fuhr mir durch die Haare.

Julian Drescher

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