Warten
Aus dem Nichts taucht der Fuchs neben Raul auf. Er steht auf der Kante des Bordsteins und wartet, dass der Verkehr abebbt. Stille um ihn herum, die sich ausdehnt. Raul wagt nicht, sich zu bewegen. Er gräbt stattdessen seine Hände tiefer in die Manteltaschen.
Es ist ein später Samstagvormittag im Oktober. Auf der anderen Straßenseite stehen schon Leute vor einem Falafel-Imbiss, der Gemüsehändler in dem Laden daneben preist sein Gemüse an. Auberginen, Zucchini, Tomaten. Zweineunundneuzigdaskilowollensieprobieren? Sein Singsang legt sich über das Rauschen vorbeifahrender Autos, und irgendwo klappern Glasflaschen.
Raul dreht sich leicht zu Seite, um den Fuchs zu betrachten. Müde sieht er aus. Sein Fell ist rostbraun und ein wenig zerzauselt, helles Grau durchzieht Rücken und Schweif, aber seine Statur ist kräftig. Er scheint noch jung zu sein.
Der Fuchs fährt sich mit einer Pfote über die Schnauze als wolle er seine Müdigkeit wegwischen.
Ein bisschen ausruhen, bevor es weitergeht, denkt Raul. Er bemerkt wie schwer seine eigenen Beine sind. Wie weit er dieses Mal gelaufen ist.
Es ist nicht Rauls Gegend. Obwohl er oft Samstagvormittag spazieren geht, ist er noch nie so weit gelaufen. Wo er wohnt, gibt es keine Geschäfte, keinen Imbiss. Es gibt Hochhäuser mit vielen Menschen darin, davor abgezirkelte Wiesen, die kaum jemand betritt.
Er ist losgelaufen, als es noch dunkel war, als alle noch schliefen. Sein Onkel, seine Tante, die Wohnung im Halbdunkel, das Ticken der Wanduhr in der Küche. Seine leisen Sockenfüße auf dem Laminat.
Du bist wie ein alter Mann, der nicht schlafen kann und nachts herumwandert, schimpft seine Tante, wenn er von diesen Spaziergängen zurückkommt mit frischen Brötchen in der Hand oder gefüllten Teigtaschen, die Tüte manchmal ein bisschen zerfleddert vom langen Tragen. Sie schimpft nie böse, sondern lächelt dabei, ihr Gesicht eine Sonne, deren Strahlen wärmen.
Raul ist nicht alt, er ist bloß ungeduldig. Er ist dieses Jahr achtzehn geworden, und kommt aus einer kleinen Stadt, sieben Busstunden entfernt. Und eigentlich kommt er nicht einmal von dort, sondern aus dem letzten Haus vor dem Ortsschild. Hinter dem krummen, verwitterten Haus ein Kiefernwald und sonst nur Maisfelder; es sind fünfundzwanzig Minuten mit dem Bus bis zur Innenstadt, mit dem Fahrrad viel schneller.
Familie ist Familie, hat sein Onkel am Telefon gesagt, der vor vielen Jahren schon, Raul war noch ein Kind, weggezogen ist in die große Stadt. Er sagte es zähneknirschend, nicht zu überhören über den Lautsprecher des Handys, den Raul angeschaltet hatte, anschalten musste, damit seine Mutter mithören konnte. Sie saß neben ihm, kerzengerade wie bei einer Prüfung, die Hände flach auf den Oberschenkeln aufgelegt. Aber gesagt ist gesagt, und Rauls Mutter schrie ihren Dank ins Telefon, über seine Stimme hinweg, als sei sie aufgeregter als er selbst. Es geht aber nur für zwei Monate, sagte sein Onkel dann noch. Das würde reichen, hatte Raul gedacht, um ein Zimmer zu finden und einen Job.
Das Warten nimmt kein Ende. Autos strömen vorbei, als hätte jemand eine Schleuse geöffnet. Als hätten alle gleichzeitig beschlossen, genau jetzt ins Auto zu steigen, um einkaufen zu gehen, zum Friseur oder sonstwohin. Nur los.
Die Stille neben Raul schwindet. Die Beine des Fuchses beginnen zu zittern, unruhig senkt er die Schnauze und tippelt auf der Stelle. Raul weiß, dass die Füchse hier nicht die gleichen sind, wie die in dem Kiefernwald. Sie haben sich angepasst an Straßenkreuzungen und an Bahntrassen, an Falafel-Reste vor Mülltonnen, an Menschen, die überall sind. Sie leben in einem Netz aus Inseln, und bewegen sich zwischen ihnen ohne Angst. Wenn man sie in die Wildnis bringt, laufen sie zurück in die Stadt.
Aber dieser Samstagvormittag ist zu viel für den Fuchs. Es ist der Moment, der sich zum Guten neigt oder zum Schlechten, denkt Raul. Auf welche Seite, weiß niemand vorher. Raul wünscht sich, dass die Zeit still steht, dass der Fuchs noch ein wenig bleibt und dass er nichts tun wird aus Angst. Es gibt doch immer mehrere Möglichkeiten, denkt er.
Die zwei Monate sind an diesem Samstag vorbei. Raul hat immer noch kein Zimmer gefunden, und auch keinen Job. Einmal hat er zur Probe gearbeitet in einem Lager, aber das war nichts für ihn. Er packte nicht schnell genug die Pakete, stand in der Pause allein in der Ecke. Am Ende des Tages ein Händedruck vom Schichtleiter, der seine Kappe kurz zurechtrückte, im Gesicht ein süßliches Lächeln, das hieß: Du nicht.
Auf der gegenüberliegenden Seite bleibt eine Gestalt stehen. Schwarze Kapuzenjacke, silbernes Papier, das in den Händen glänzt, ein Stück Fladenbrot, das nicht ganz mit dem Papier umwickelt ist und von dem abgebissen wird. Eine lilafarbene Strähne sprießt aus der Kapuze, das Gesicht halb verdeckt.
Raul hebt langsam einen Arm, zeigt auf den Fuchs und auf die Straße, mehrmals. Die Kapuzenjacke mampft weiter Falafel als ob nichts wäre. Dann endlich sieht die Kapuzenjacke auf, blickt sich um, nach ein paar Sekunden, eine Hand, die zurückwinkt.
Der Gemüsehändler ist für einen Augenblick still. Er scheint sein Gemüse zu vergessen, starrt zu Raul hinüber oder besser gesagt, zu Rauls Begleiter. Ein Grinsen klebt in seinem Gesicht. Er kramt ein Handy aus seiner Hose.
Der erste Schritt ist mehr ein Sprung im Inneren, als dass er wirklich springt. Raul schreitet in eine Lücke, ein Auto bremst. Der Fahrer streckt den Kopf aus dem Fenster.
Alles klar bei dir?, schreit er.
Dann stellt sich auch die Gestalt in der Kapuzenjacke auf die Straße, die lilafarbene Strähne bauscht sich im Wind. Autos stauen sich, die Leute vor dem Falaffel-Imbiss drehen sich zu ihnen. Der Gemüsehändler filmt.
Er filmt, wie der Fuchs über die Fahrbahn läuft, ruhig, und ohne Hast, als hätte er es erwartet, dass man ihm Straße freihält. Mit einem letzten Satz verschwindet er hinter einer Hausecke.
Als das Hupen beginnt, ist Raul schon längst auf der anderen Straßenseite. Er lässt die Flüche, die im Vorbeifahren gerufen werden, über sich hinwegziehen. Er wirft einen Blick in das Gesicht, das unter der Kapuze steckt. Schwarz funkelnde Augen von lilafarbenen Strähnen umrahmt. Raul weiß nicht, ob er was sagen soll und auch nicht was. Er lächelt bloß. Das Gesicht mit der lilafarbenen Strähne vor der Stirn blickt ihn stumm an. Raul dreht sich schon zum Weitergehen, da hört er, dass jemand etwas sagt.
Hey, Fuchsretter, wo gehst’n hin?
Raul dreht sich um.
Weiß nicht, ich geh’ nur spazieren.
Kann ich mitkommen?
Raul erschrickt. Die Frage hat er lang nicht mehr gehört.
Kennst du einen guten Bäcker?, fragt Raul nach einer Weile.
Er erhält ein Lächeln.
Klar. Soll ich dir zeigen, wo?
Als sie losgehen hebt der Singsang des Gemüsehändlers wieder an.
Raul nimmt ihn kaum aber mehr wahr. Er hält sich an einem Gedanken fest. Er wird es als Fahrradkurier probieren. Er ist immer viel Fahrrad gefahren, vom Ortsschild bis zur Stadtbibliothek hinter dem Kirchplatz. Manchmal mehrmals täglich. Sein Onkel wird ja sagen, wenn er noch ein bisschen bleibt, ganz bestimmt.
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