Seeanemonen

Monika erinnert sich heute noch daran, wie sie an jenem Morgen nicht wie immer den Fahrstuhl nahm, sondern die neun Stockwerke zu ihrem Arbeitsplatz zu Fuß bestieg. Es war ein gewöhnlicher Morgen, und sie war selbst ein wenig von ihrer spontanen Entscheidung überrascht. Während sie die Treppe hochging, hatte sie Zeit, darüber nachzudenken, und ihr fiel ein, wie die Immergleichheit der Tage an manchen Momenten schlecht auszuhalten war, und sich dann eine Änderung des üblichen Verhaltens aufdrängte. Sie fragte sich, ob sich andere Menschen, die sich ebenfalls gelegentlich von der täglichen Monotonie bedrückt fühlten, auch vergeblich mit Kleinigkeiten abzulenken versuchten, mit einer noch nie vorhin probierten Beilage an der Speisetheke zum Beispiel, oder mit heimlichem Schuheausziehen unterm Schreibtisch, um mit Strumpffüßen den Teppichbelag zu befühlen. Bestimmt ginge es ihnen auch so, dachte Monika, denn sie unterschied sich doch kaum von der Mehrheit der Menschen, die, genauso wie sie, ereignislose Leben führten. Sie vermutete sogar, dass selbst schlagfertige Menschen, die Art von Menschen mit Einfluss und Entscheidungskraft, die Meetings im Stehen organisierten und sich mit Karriereplanung beschäftigten, ab und zu Tagen ausgesetzt waren, an denen der Magen mürbe ist und der Geist stumpf. Dieser Gedanke tröstete sie ein wenig, es war ihr, als ob sie ihre Beschwernisse nicht alleine tragen musste, aber nach einigen Stufen überfiel ihr trotzdem das Gefühl, dass sich ihr Kummer nicht zu teilen, sondern nur zu vervielfältigen schien. Daraufhin verfehlte sie die letzte Stufe zum Treppenabsatz zwischen der zweiten und dritten Etage und stürzte. Sie brauchte einige Sekunden, um festzustellen, dass ihr nichts wehtat, oder zumindest nichts, das nicht auch schon vorher wehgetan hatte. Und sie entschied sich, noch ein wenig liegenzubleiben, ein Viertelstündchen oder zwanzig Minuten vielleicht, sie nahm sich nichts Großes dabei vor, und trotzdem erinnert sie sich heute immer noch daran.

Sie lag in einer eher unbequemen Haltung, aber die kühlen Treppenfliesen pressten angenehm kalt an die glühende Backe und ihr Verstand tat sich ein Spaltbreit auf. Wäre etwas wie eine Einsicht oder ein Vorhaben dagewesen, ihr Denken hätte dafür empfänglich sein können.

Monika lauschte auf das Surren der Aufzüge nebenan, das man mit einigem Wohlwollen für das Meer halten konnte, und sie stellte sich vor, dass unten am Empfang, wo Daria hinter einem riesigen, an einem Raumschiff erinnernden Desk saß, Wasser hereinfließen würde, das das Bürogebäude mitsamt Treppenhaus langsam überflutete, und dass sie darin herumschwimmen würde, wie irgendein exotisches Meereswesen in einem Aquarium. Sie würde an den Besprechungsräumen und den Kaffeeküchen vorbeigleiten, bis zum deckenhohen Fenster ihres Büroraums, das sich nicht öffnen ließ, zweifelsohne aus Sicherheitsgründen, und sie würde hinausglotzen, auf den schlängelnden Verkehrsstrom draußen, der aus Autos bestand, in denen Menschen saßen, die auf klare Endziele zusteuerten, und auf die Wolken darüber, die trotz ihrer launischen Farb- und Formwechsel stets einen unbeirrbaren und standhaften Eindruck machten.

Ihr kam das Wort Einflussnahme in den Sinn.

Dann dachte sie an eine sich ein Spaltbreit öffnende Muschel.

Dann an Seeanemonen, Geschöpfe die gleichzeitig Tier und Pflanze sind, und deren Larven Gehirne haben. Die Larven schwimmen so lange umher, bis die Zeit gekommen ist, um aufzuwachsen. Dann docken sie am festen Boden an, verankern sie sich und lassen das Gehirn absterben. Was bleibt, sind ihre sanft wehenden Tentakel, die sie vorbeischwimmender Nahrung entgegenstrecken.

Monika war froh darüber, dass ihr die Seeanemonenanekdote, die Oscar ihr mal erzählt hatte, nicht aus dem Gedächtnis geraten war, wie sie sich immer freute, wenn ihr unnützes Wissen nicht abhanden gekommen war.

Sie presste die andere Backe an den kalten Fliesenboden und versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, den Verstand zu verlieren. Aber sie verfügte über zu wenig Einfallsreichtum, um diesen Gedanken zu Ende zu denken. Also dachte sie an Oscar, der jetzt schon fast ein Jahr nicht mehr im neunten Stock arbeitete, weil er Life Coach geworden war und Menschen beim Sortieren ihrer Leben half, eine Tätigkeit, bei der er vielleicht über Seeanemonen redete und Verankerung und absterbende Gehirne.

Man kann an vieles Denken, wenn man fünfzehn, zwanzig Minuten unbeweglich auf einem Treppenabsatz liegt, aber irgendwann stockt der Verstand, und was bleibt, ist ein Körper, der sich nur mit sich selbst und seinen regungslosen Zustand befassen kann. So ging es auch Monika. Sie stellte sich vor, dass sie, wenn sie nur ganz still sein würde, einfach liegenbleiben konnte. Dass im neunten Stock niemand ihr Verschwinden bemerken würde, wie bisher niemand ihr Schwinden bemerkt hatte. So lag sie da, in unkomfortabler Haltung, aber ganz kurz zufrieden.

Dann stieß jemand zwei Stockwerke über ihr mit ziemlicher Wucht die Brandschutztür zum Treppenhaus auf. Hastige Schritte hallten die Treppe hinunter.

Ein Mann, schätzte Monika.

Wenn er sie hier so liegen sähe. Vielleicht würde er sie in den Arm nehmen. Sie leise wiegen, zwischen der zweiten und dritten Etage.

Das kam ihr dann aber nach ihrem kurzen Moment der Zufriedenheit zu pathetisch vor. Also stand sie rechtzeitig auf, wie sie immer rechtzeitig aufstand für einen Tag ohne Ereignisse. Ein Mann mit Bart, in der Hand ein Telefon, rannte an ihr vorbei. Sie hatte ihn schon einige Male gesehen, Oscar hatte damals mit ihm zusammengearbeitet, und sie wollte ihn grüßen, aber er schien sie nicht zu bemerken, als ob sie bereits verschwunden war. Sein Telefon klingelte. „Ja“, sagte er, und „geht schon“ und dann war er zu weit unten, um die Gesprächsfetzen noch verstehen zu können.

Gebraucht zu werden, dachte Monika, und da ihr Verstand wohl zu kurz geraten war, um sich dabei etwas Konkretes auszumalen, entschied sie sich, das Denken einzustellen, und den langen Weg zum neunten Stock weiter hochzusteigen.

Inzwischen, viel später, Daria arbeitet schon längst nicht mehr als Rezeptionistin in dem Bürogebäude, und die Aufzüge sind durch neuere, stillere Teile ersetzt worden, denkt Monika, während sie Zahlen von einer Tabellenspalte in die nächste verschiebt, dann und wann immer noch an diesen Morgen zurück. Sie kann noch ganz genau die kalten Fliesen nachempfinden und das Meeresrauschen und die Restwärme einer mal dagewesenen Zufriedenheit. Sie kann noch die Schritte hören des Mannes, der sie nicht sah. Und wenn sie jemand darum beten würde, würde sie die Seeanemonenanekdote genau nacherzählen können. Sie würde mit Schwimmbewegungen die Irrwege der Larven nachahmen, und mit elegant über ihrem Kopf wehenden Armen die nach Fraß ausgedehnten Tentakel. Und bei der Stelle über das abgestorbene Gehirn, würde sie den Kopf auf die Brust fallen lassen und still sitzenbleiben, ganz still, ein Viertelstündchen oder zwanzig Minuten, und dann noch länger, so lange, bis man sie überhaupt nicht mehr bemerkte.

 

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Esther De Soomer

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