Die Übriggebliebenen

Es war Abend und die Familie hatte sich um den üppig gedeckten Esstisch versammelt. Es fehlte ihnen an nichts. Wenn alles glatt lief, dann wäre dies das letzte Mahl, das sie zusammen einnehmen. Denn morgen wird die Welt untergehen, da waren sie sich alle einige, die Großmutter sowie der Jüngste.

Anfänglich hatten sie noch versucht, andere Menschen davon zu überzeugen, dass es diesmal tatsächlich soweit sei, doch es war ihnen gleichgültig gewesen. Seit der letzten Prophezeiung einige Jahre zuvor dachten sie, sie wären immun gegen eine sol-che Gefahr. Ein wenig vermisste die Familie den medialen Rummel, den Austausch, das Spekulieren mit den Nachbaren. Aber das alles war nebensächlich. Bald würde es vorbei sein. Gemeinsam nahmen sie nun Abschied. Bis spät in die Nacht blieben sie auf und stopften sich die Mägen voll, lebten so, als würde es keinen Morgen geben, bis einer nach dem anderen bei Tisch einschlief. Die Großmutter mit dem Kopf rück-wärts und mit offenem Mund. Die Mutter neben dem Vater mit dem Kopf an dessen Schulter. Der Sohn hatte den Teller nach vorne geschoben und lag nun mit dem Kopf auf dem Tisch.

Beinahe zeitgleich erwachten sie am Morgen. Fassungslos starrten sie sich in die Augen. Wieder eine Pleite, dachten sie, ihre Gesichter voller Enttäuschung. Sie sagten kein Wort. Dann sprang die Mutter auf und lief zur Eingangstür. Sie riss sie auf. Ihre Kinn-lade klappte nach unten und ihre Zunge überragte leicht die untere Zahnreihe. Ihre Augäpfel quollen aus den Höhlen und ihre Pupillen weiteten sich. Verdutzt stand sie da. Ohne sich umzudrehen, winkte sie die anderen zu sich.

Sie erblickten eine Ruinenlandschaft. Die Gebäude waren in sich zusammen-gefallen. Die Erde war geziert von nackten leblosen Körpern. Sie waren übrig geblie-ben. Sie waren vergessen worden.

Fluchend wandte sich der Vater ab und durchkämmte die Wohnung.

Die Farbe der Gemälde war verblasst, der Fernseher flimmerte, der Radioapparat rauschte, die Konturen der Letter in den Büchern waren aufgebrochen und die Druckerschwärze hatte die Seiten schwarz verfärbt.

Die Übergebliebenen, sie warteten, sie warteten darauf, dass auch sie endlich erlöst werden würden.

Ernest Perfahl

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