Der Schotterplatz oder Von innerer und äußerer Zeit

An einem Sonntagnachmittag im Juni hören wir den durchdringenden Ruf einer Möwe und ich frage mich kurz, ob wir uns später daran erinnern werden.

Mein kleiner Sohn und ich stehen auf einer großen geschotterten Fläche. Rechts ist der Bahndamm und links, hinter jungen Fichten, ein langgestrecktes Gebäude. Der Rest eines alten Hofs, dessen Fenster und Türen vernagelt sind. Es ist schwülwarm, besonders wenn die Sonne hervorkommt. Ich sehe hin zu einem der blinden Fenster oben im langen Dach des Hofgebäudes.

 

Wir haben es als Kinder geliebt, von solch einer Kammer unter dem Dach aus einem vorbeiziehenden Sommergewitter zuzuschauen. Auf den nackten Armen und Beinen spürten wir die Kühle, die es begleitete. Das Licht der Blitze erschreckte uns durch sein kurzes Aufflackern; ein kaltes Licht, und es schien die Kälte in dem kleinen Raum nur noch zu verstärken.

Einmal saßen wir in einer Scheune, draußen vor der Stadt, die bis oben voller Stroh war. Wir verkrochen uns, während das Gewitter vorbeirauschte. Innen hatte die Luft zuerst noch golden geglänzt, man sah darin den helleren Staub umher kreiseln, und heiß und stickig war es gewesen, dass man kaum Luft bekam. Mäuse raschelten weit hinten. Dann wurde es bald dunkler und dunkler, und jeder Donnerschlag ließ die grau gewordenen Balken für Momente erschüttern. Der Regen prasselte im Laub, schlug auf den trockenen Sand der Wege. Niemand sprach und als nach kurzer Zeit, die uns doch wie eine Ewigkeit vorkam, alles vorbei war, da hörten wir laut rinnendes Wasser, das in alle Richtungen zugleich abfloss. Wir konnten es kaum noch aushalten, so eng und staubig war es gewesen, und wir rissen gemeinsam das große Tor der Scheune auf, dessen Holz mit einem Mal ganz leicht war. Über den Brennnesseln schwirrten Insekten. Hier und da fielen um uns einzelne letzte schwere Tropfen, und der Himmel, an dem noch das weitergezogene Gewitter stand, war schwarz und bedrückend. Von vorn blendete es dagegen schon wieder hell und klar, und nach dieser Richtung, die Hände ausstreckend, atmeten wir tief ein. Dort war der Duft der frischen sauberen Luft, der Geruch vom Regen, von nasser Erde und gewaschenem Sommerlaub. Er vermischte sich momenthaft mit jenem warmen Geruch des Strohs, der aus der dunklen, staubigen Höhlung der Scheune kam, in die wir nun auf keinen Fall mehr zurück wollten.

 

Ich hörte einmal einen Schriftsteller sagen, dass die ersten fünfzehn Jahre im Leben eines Menschen die prägendsten seien. Abends, wenn ich am Fenster sitze, denke ich darüber nach. Es kommt mir so vor, dass man damals tatsächlich alles ganz anders besah, mit seinen Blicken umkreiste, auf andere Art und Weise berührte, betastete, viel ruhiger und klarer den Duft der unterschiedlichsten Dinge wahrnahm, ihren Geräuschen nachsann. Zumindest kommt es mir heute so vor und ich versuche in der Folge zuweilen auch all dem nachzuspüren, das ich nicht behielt. In welchem Moment entscheidet sich eigentlich, was man vergessen wird und was nicht? Vielleicht spielt mir mein Gedächtnis einen Streich, aber ich entsinne mich kaum noch kleinerer Begebenheiten der letzten Monate oder Jahre. Die Zeit zerrinnt mir wie Sand zwischen den Fingern, je älter ich werde. Ich spüre jedoch überdeutlich gewisse Räume, Licht, Duft und Klänge aus den Tagen meiner Kindheit in mir, obschon es mittlerweile Jahrzehnte zurückliegen mag.

Manchmal versuche ich mich dem Sog der fliehenden Zeit entgegen zu stemmen, nicht nur gedanklich. Familie und Freunde schütteln die Köpfe, man verlacht mich, doch ich streife trotzig zu den realen Orten der Kindheit, zu den Häusern und Gebüschen, zu den Bäumen und Garagenhöfen, und ich versuche zu begreifen, was sich seitdem verändert hat und was noch da ist. Ich versuche zu verstehen, wie manches Erinnerung werden konnte und manches nicht. Viele dieser Orte sind verschwunden oder haben sich fast vollständig verändert. Oder schaue ich das alles heute nur anders an, fühle ich die Orte anders? Wenn ich wieder zuhause bin, zurückgekehrt von meinen Erkundungen und darüber schreiben möchte, spüre ich zwar noch den Nachklang jener Gedanken, aber all dies verblasst sehr schnell. Jeder von mir geschriebene Satz ist nur Andeutung, vage Annäherung. Mir kommt es zuweilen vor, als wenn sich die Welt, der Alltag um mich viel schneller bewegt, als die Welt in mir selbst, ich schaue auf und alles herum hat sich verändert, ich aber, ich hinke hinterher – Gedanken, Orten, Stimmungen nach-hängend, nach-denkend.

Der Schluss daraus ist, dass ich weiter in Bäume klettern, die Böschungen zu den schmalen Fleeten hinabschlittern muss, um einen Blick unter die Brücken dort zu werfen, wo wir früher zwischen Spinnenweben schlafende Fledermäuse in den Betonnischen entdeckten, auch wenn es in den Augen anderer zwecklos ist, keinen Sinn macht, die Fledermäuse längst verschwunden sind.

 

Ich senke den Blick. Der Boden des Platzes ist stellenweise fest gestampft und fleckig, zu den Rändern hin schrundig. Flechten wachsen dort und kurzes trockenes Gras. Auf einem Haufen liegen Teile einer Holzverkleidung, ein verbogener Stahlträger, die Hälfte eines Tores, zerbrochene Gehwegplatten, Mülltüten, leere Flaschen, zwei Matratzen. Wenn der Wind einen Atemzug lang aussetzt, hört man das Knistern des feinen Schotters unter unseren Schritten. Der Bahndamm im Augenwinkel ist dunkel, grün und schattig. Eichen stehen da. Unter ihnen wachsen Efeu, Brombeeren, Weißdorn. Den Schotterplatz säumen in einem weiten Kreis Schösslinge von Birken und Weiden. Die Hauptstraße ganz hinten hört man nicht, nur die Rückseiten ihrer Häuser sieht man manchmal rot zwischen den Blättern.

Ich stehe nun also hier und bin in meiner eigenen Zeit. Mein Sohn steht einen Steinwurf entfernt und ist in seiner Zeit. Nur die gemeinsame äußere Zeit verbindet uns. Jeder von uns beiden ist in diesem Moment vollkommen von seiner eigenen Wahrnehmung umwölbt, sieht, hört und riecht möglicherweise Dinge, die dem anderen verborgen bleiben. Wird es ihm oder mir, wird es uns beiden, irgendwann möglich sein dafür Worte zu finden? Wird es einen Tag geben, da wir uns ansehen und einander davon erzählen? Werden wir Mittel und Wege haben unsere Erlebnisse, unsere Empfindungen abzugleichen?

Von Westen kommen immer dunklere Wolken heran und da sie sich vor die Sonne schieben, wird es augenblicklich kühler, sodass wir beschließen zu gehen. Man spürt, dass der Wind die Intensität eines sich nahenden Gewitters heranträgt. Scheinbar ist niemand sonst unterwegs, es ist, als wären wir allein.

Auf dem Rückweg wandert mir noch einmal im Kopf herum, was mein kleiner Sohn von diesem Sonntagnachmittag wohl mitnehmen mag. Ob er sich erinnern wird, und wie seine Erinnerungen aussehen könnten: vom Schotterplatz, dem Bahndamm und dem vernagelten Haus hinter Fichten, dem Ruf einer Möwe, oder ob all das einfach durch ihn hindurchgeht ohne eine Spur zu hinterlassen.

 

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Denis Vidinski

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