Ganz Normal

Ich habe eine Kugel im Kopf. Wie genau sie dorthin gekommen ist, weiß ich nicht mehr, es war diese komische Zeit, in der Kinder auf offener Straße erstochen wurden und auch Schießereien keine Seltenheit waren.

Was ich noch weiß ist, dass ich spazieren gegangen bin und mich plötzlich etwas am Hinterkopf getroffen hat. Ich dachte noch, wer bewirft mich hier mit einem Schuh?! Dann lag ich plötzlich auf dem Boden und jemand meinte: „Sie bluten da aber ganz schön”. Ich muss ohnmächtig geworden sein und jemand muss den Krankenwagen gerufen haben. Als ich wieder aufwachte, beugte sich ein Arzt über mich und meinte „Herr M., schön, dass Sie wieder bei uns sind. Sie haben eine Kugel im Kopf, aber das ist kein Grund zur Panik. Zumindest nicht in Ihrem Fall. Keine Sorge, Sie sind nicht im Himmel, ich bin nicht Gott und auch keine Jungfrau oder so.”

Er zwinkerte. Ich glotzte.

„Jedenfalls, Spaß beiseite”, fuhr er fort, „die Kugel steckt genau zwischen ihren beiden Hirnhälften fest. Wir werden sie vorerst nicht entfernen können, das ist zu gefährlich und könnte Sie unter Umständen wirklich zu Gemüse machen. In ein paar Jahrzehnten ist die Laserchirurgie sicherlich soweit. Aber bis dahin sind Sie nicht der erste und auch nicht der Letzte, der mit einer Kugel im Hirn rumläuft, also Kopf hoch! Können Sie sprechen?” Ich nickte, der Arzt lachte. „Sehr gut, dann schaue ich später noch einmal nach Ihnen.”

Natürlich wurde über den Vorfall berichtet. Ich selbst bekam nicht so viel davon mit, aber meine Nichten und Neffen zeigten mir, was im Internet über die ganze Sache geschrieben wurde und meinten „Onkel, jetzt bist du voll berühmt.” Es gab einen längeren Bericht auf der Titelseite der Lokalzeitung, den meine Frau in eine Klarsichthülle steckte. Dann kam der nächste Vorfall und zack gab es neue Schlagzeilen.

Vor der Entlassung hatte ich ein Gespräch mit der Krankenhauspsychologin. Sie fragte mich, ob ich wütend oder traurig sei, ob ich das Bedürfnis hätte, mir oder anderen wehzutun, oder ob ich mich emotional irgendwie taub fühlen würde. Ich sagte zu allem Nein. Es ging mir eigentlich ganz gut, ich freute mich auf zu Hause, auf meine Frau und meinen Kiosk.

Die Psychologin war noch recht jung. „In Ordnung, Herr M.”, sagte sie, „schön, dass es Ihnen soweit gut geht. Meistens dauert es Monate und manchmal sogar Jahrzehnte, bis man eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt. Falls Sie eine solche Störung entwickeln sollten, merken Sie das zum Beispiel daran, dass Sie schlecht schlafen, Flashbacks haben, also plötzliche Erinnerungen an die traumatische Situation, und insgesamt sehr erschöpft sind. Sollten diese oder andere Symptome bei Ihnen auftreten, melden Sie sich bei uns.“

Der Kiosk lief zunächst ganz gut. Meine Stammkunden schmissen eine Willkommen-zurück-Party, bei der ich ein bisschen Pipi in den Augen hatte. Alle wollten Fotos von der Schusswunde machen. Auch die Lokalpresse kam vorbei. Natürlich wollten sie wissen, wie es war, angeschossen zu werden, und ob ich eine Idee hatte, wer die Täter gewesen sein könnten. Die Ermittlungen der Polizei waren erfolglos geblieben. Eigentlich hätte ich sie am liebsten rausgeschmissen, aber ich wusste, dass ich durch die Berichterstattung ein paar Kunden mehr bekommen würde. Ich sagte also: „Ich habe keine Ahnung, wer die Täter sind, aber ich würde es ganz gerne wissen. Nicht um mich zu rächen. Aber um mir den ganzen Papierkram zu sparen, den ich jetzt wegen dem Schmerzensgeld am Hals habe. Ist ganz schön Kacke, wenn einem durch sowas der Umsatz von mehreren Monaten flöten geht.”

Ich wusste es tatsächlich nicht. Mein Kiosk lag in der Feiermeile. Im Laufe der Zeit hatten nach und nach alle Mafias, Banden, Clans und Sekten angeklopft und mir Waffen, Drogen, Kinderpornos und natürlich ‚Schutz‘ angeboten. Ich habe jedes Mal dankend abgelehnt, wie es mir ein befreundeter Tätowierer geraten hatte: Sei freundlich, halt dich raus, verkaufe nichts unter der Theke und sie lassen dich in Ruhe. Hatte bisher erstaunlich gut funktioniert. Aber vielleicht war ich aus Versehen jemandem auf den Schlips getreten, oder sie wollten meinen Laden haben und hatten keine Lust, ihn zu kaufen. Vielleicht war es auch ein reiner Zufall gewesen, irgendein Psychopath, der einfach Lust hatte, ein bisschen durch die Gegend zu ballern.

Meine Frau ist die ersten Monate, in denen ich wieder arbeiten gegangen bin, vor Sorge fast durchgedreht. Deshalb habe ich mir einen Dobermann besorgt. Ansonsten ist nicht viel passiert. Die Nachkontrollen im Krankenhaus sind abgeschlossen, die Ärzte haben mir alles Gute gewünscht, und „melden Sie sich, wenn etwas ist.”

Es ist nur eine Sache: Ich habe schon den Eindruck, dass die Menschen weniger rausgehen oder zumindest seltener in meinen Kiosk kommen. Manchmal unterhalte ich mich mit dem Besitzer der Kneipe von gegenüber. Er meint, ihm sei nichts aufgefallen, aber vielleicht müsse ich mal was tun, neues Sortiment oder einfach mal den Laden umräumen, neuen Schwung reinbringen, ich wisse schon. Ich nicke und weiß, dass er einer von denen ist, die ihren Laden eh nur für Geldwäsche nutzen. Von daher kann es ihm egal sein, wie viel Kundschaft kommt. Trotzdem habe ich versucht, mein Schaufenster umzudekorieren. Das heißt, ich habe darüber nachgedacht, aber wirklich weit bin ich nicht gekommen. Ich konnte mich einfach nicht dazu aufraffen, auch nur eine der Bierkisten, die seit Ewigkeiten dort stehen, wegzuräumen. Schließlich habe ich meine Frau um Hilfe gebeten. Sie hat die Kästen aus dem Schaufenster geräumt und sie dann mitten im Laden stehengelassen, weil sie ihr zu schwer waren. Jetzt stehen sie jedem im Weg, der in den Kiosk will. Trotzdem schaffe ich es nicht, sie wegzuräumen. Es macht eigentlich auch nichts, es kommt eh kaum noch jemand in den Laden, und wenn, dann sind es Obdachlose, die ich sofort wieder rausschmeiße.

Vielleicht ist das jetzt die posttraumatische Belastungsstörung? Der Vorfall ist immerhin schon ein paar Monate her. Ich kontaktiere das Krankenhaus. Die alte Psychologin arbeitet nicht mehr dort, die Neue ist nochmal ein ganzes Stück jünger. Ich erzähle ihr von allem und von der Sache mit den Kisten. Sie arbeitet mit mir eine Checkliste ab.

„Haben Sie Schlafstörungen?” Nein.

„Sind Sie in letzter Zeit besonders schreckhaft?” Nein.

„Haben Sie neuerdings Wutanfälle, die Sie früher nicht hatten?” Nein. „Konzentrationsschwierigkeiten?” Nein. Ich verbringe mittlerweile Stunden damit, Kreuzworträtsel und Sudoku zu lösen, während ich auf Kundschaft warte.

„Haben Sie manchmal Erinnerungen an den Vorfall, die Ihnen ganz plötzlich in den Kopf kommen?” Nein. Ich kann mich mittlerweile kaum noch daran erinnern.

„Und sonst ist auch nichts Auffälliges passiert?”  Nein. Nur eben das mit den Kisten. Und dass die Kundschaft ausbleibt und ich das Gefühl habe, kaum mehr Menschen auf der Straße zu sehen, wenn ich mit dem Hund Gassi gehe.

„Wann gehen Sie denn mit Ihrem Hund spazieren?” Meistens morgens früh und abends spät, wenn ich den Kiosk zumache. Selbst am Wochenende ist da nicht mehr viel los. Das war früher ganz anders.

„Vielleicht müssen Sie einfach mal mittags rausgehen, da sind bestimmt mehr Leute auf den Straßen. Oder gehen Sie in ein anderes Viertel, ein bisschen weg aus der Innenstadt. Das tut bestimmt gut, eine neue Perspektive. Vielleicht können Sie ja am Wochenende auch mal wegfahren, mit Ihrer Frau – wie ist eigentlich die Beziehung zu Ihrer Frau? Was sagt die zu den Kisten?” Dass sie ihr zu schwer sind und ich sie selber wegräumen soll.

„Nein, das meine ich nicht. Was sagt sie zu ihrer gesamten Situation im Moment, dass Sie die Kisten nicht wegräumen können, und dass die Kundschaft ausbleibt?”

Nicht so viel. Wir reden nicht so viel.

„War das schon immer so oder reden Sie erst seit Neustem nicht mehr so viel miteinander?”

Das war schon immer so.

Die Psychologin legt die Blätter beiseite und sieht mich an: „Also, Herr M., so wie ich das sehe, haben Sie eine leichte oder vielleicht auch mittelgradige depressive Episode. Keine posttraumatische Belastungsstörung, dafür erfüllen Sie nicht die zutreffenden Kriterien. Ich empfehle Ihnen erstmal, mehr rauszugehen, vielleicht wirklich mal übers Wochenende wegzufahren. Und reden Sie mit ihrer Frau. Darüber, wie es Ihnen geht. Dass Sie es vermissen, unter Menschen zu sein. Und vielleicht können Sie die Kisten ja einfach zu zweit wegräumen. Dann sind sie auch nicht so schwer.”

Ich sage Okay und wir vereinbaren den nächsten Termin.

Als ich das nächste Mal ins Krankenhaus komme, ist kaum jemand auf den Gängen unterwegs. Ich setze mich vor die Tür der Psychologin und warte. Als sie mich eine Viertelstunde nach der vereinbarten Zeit immer noch nicht hereingebeten hat, klopfe ich an. Es kommt keine Antwort, ich drücke vorsichtig die Klinke herunter. Der Raum ist abgeschlossen. Ich gehe zur Information und frage die Schwester dort, was hier eigentlich los ist, wo die ganzen Leute sind und warum meine Psychologin nicht da ist. „Wir haben den Betrieb auf dieser Station zurzeit etwas runtergefahren“, sagt sie. „Ist doch auch mal ganz angenehm, finden Sie nicht? Wie heißt denn ihre Therapeutin? Sind Sie sicher, dass der Termin heute war?“.

Ich sage Ja und gebe ihr den Namen der Psychologin. Sie runzelt die Stirn. „Komisch, also, den Namen habe ich noch nie gehört. Sind Sie sicher, dass Sie auf der richtigen Station sind?“ Ja. Sie tippt in ihrem Computer herum, schaut mich dann an. „Also, leider kann ich Ihre Therapeutin hier nicht finden. Kann sein, dass sie kurzfristig gekündigt hat, das kriegt man hier manchmal gar nicht mit. Am besten melden Sie sich mal unter dieser Nummer bei unserer zentralen Terminvergabestelle, da müssten Sie dann eine neue Therapeutin zugeteilt bekommen.“ Sie schiebt mir ein Kärtchen hin, die Nummer ist mit Kuli umkringelt.

Die Bahn ist menschenleer, obwohl es gerade erst vier Uhr nachmittags ist, also eigentlich Feierabendverkehr. Auf den Straßen sind kaum Autos zu sehen. Eigentlich will ich zurück in den Kiosk, aber dann fahre ich doch nachhause. Vielleicht sollte ich wirklich mal mit meiner Frau reden, denke ich, ob sie in letzter Zeit auch so wenige Menschen sieht wie ich.

Die Wohnung ist leer. Ich rufe meine Frau an und sehe sofort, dass sie ihr Handy auf dem Küchentisch liegengelassen hat. Ich warte zwei Stunden, mache Kreuzworträtsel. Dann rufe ich ihre Freundinnen, ihre Schwestern, ihre Cousinen, am Ende sogar ihre Eltern an. Niemand geht dran. Ich hole den Hund aus dem Kiosk und laufe eine Runde um den Block. Ich probiere es noch einmal bei allen Verwandten, keiner nimmt ab. Irgendwann nach Mitternacht rufe ich bei der Polizei an. Die Leitung ist tot. Genauso bei Feuerwehr und Krankenwagen. Ich gehe zum Fenster. Als ich hinausschaue, sehe ich, dass der Häuserblock gegenüber nicht mehr da ist.

.

Anna Pia Jordan-Bertinelli

.

freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>