Flughafen CDG

Ich stehe im Ankunftsbereich von Gate 2F. Ich habe noch nie jemanden vom Flughafen abgeholt. Mir kommen Filmszenen in den Sinn. Love actually. Ja, das war’s eigentlich, mir kommen nur Szenen aus diesem Film in den Sinn. Hat das automatisch eine romantische Konnotation, jemanden vom Flughafen abzuholen, am Gate auf ihn zu warten? Vielleicht hätte ich dann Blumen mitbringen sollen. Besser Kaffee. Mit zwei Papp-to go-Bechern in der Hand warten, das hat Filmcharakter. So ein Quatsch, ich will ja gerade vermeiden, dass es romantisch wirkt. Und ich bin gegen Einwegbecher. Also stecke ich die Hände in die Manteltasche und warte. Er schrieb, er stehe gerade bei der Sicherheitskontrolle an und dann müsse er noch auf sein Gepäck warten. Mich wundert die Sicherheitskontrolle, schließlich ist das ein innereuropäischer Flug. Ich denke an das Wort „Schengen“ und daran, dass ich seinen Klang lustig finde.

Hier sind viele Leute, die warten. Sie haben diese typischen Schilder dabei, wo ein Name oder eine Institution drauf steht, Abholserviceschilder. Sowas hätte ich basteln und mitbringen können. Natürlich nur aus Spaß, denn wir kennen uns und werden uns wiedererkennen, selbst wenn unser letztes Treffen schon etwa drei Jahre her ist. Ich bemerke, dass Papierschilder out sind. Die Meisten haben ein Tablet dabei und halten das hoch. Zuerst lache ich darüber und finde das ein bisschen bescheuert. Andererseits spart man so das Papier, das man für den nächsten to go-Becher aus Pappe verwenden kann. Hat also durchaus auch seine Vorteile.

Es macht ziemlichen Spaß, am Gate zu stehen, dort ankommende und wartende Menschen zu beobachten. Vielleicht komme ich nächste Woche mit einem Schild wieder (aber eins aus Papier) und da schreibe ich irgendeinen Namen drauf und stelle mich ans Ankunftsgate und warte. Und ich würde den ganzen Tag warten und niemand käme, aber ich hätte eine wunderbare Rechtfertigung, wieso ich da stehe: Ich warte auf die Person auf dem Schild, aber sie ist noch nicht angekommen. Ein anderer Wartender würde mich ansprechen: „Sie warten auch schon ganz schön lange, hat der Flug Verspätung?“ „Ich fürchte, ja.“ Und wir würden ein paar Minuten plaudern, solange bis seine Person ankommen und er mit ihr gehen würde. Irgendwann am späten Abend würde ich resigniert mein Schild einpacken und mich auf den Nachhauseweg machen. Der Flughafenangestellte (ich wüsste nicht genau, was sein Job ist, deshalb wäre er einfach „der Flughafenangestellte“) würde mich fragen: „Niemand gekommen?“ Und ich würde antworten: „Nein, ich fürchte ich wurde versetzt.“

Ich finde, man kann zwei Typen von Ankommenden unterscheiden: einerseits die Träumer, andererseits die Realisten. Die Träumer kommen durch die sich automatisch öffnenden Türen und schauen sich um, nehmen aber die Wartenden gar nicht richtig wahr, außer sie wissen, sie werden abgeholt. Ansonsten sehen sie leicht verpeilt aus, verschlafen, verstrubbelt, etwas neben sich stehend (das sind vielleicht die von den Langstreckenflügen mit Zeitverschiebung) und nun gucken sie in die Flughafenhalle, stolpern durchs Gate in sie hinein, sind aber im Kopf noch nicht ganz da. Die Realisten andererseits, die sind sich sehr bewusst, wo sie sind. Sie blicken die Wartenden entweder direkt an, oder sie schauen mit Absicht nicht hin, weil sie sich angestarrt fühlen und ihnen das unangenehm ist. Genauso wenn der automatische Türöffnenmechanismus nicht richtig funktioniert und ihnen die Tür, kurz bevor sie hindurchgehen wollen, wieder vor der Nase zuklappt. Wenn die Tür dann doch wieder aufgeht, nachdem sie abrupt abgebremst haben, verdrehen sie genervt die Augen und gehen hindurch. Es ist ihnen peinlich, dass sie fast gegen die Tür gelaufen wären und die Wartenden das gesehen haben. Die Realisten schauen sich auch ein wenig um, aber viel flüchtiger, denn sie wollen möglichst schnell weg, um nicht weiter angestarrt zu werden. Zugegeben, diese Einteilung ist etwas grob, aber im Großen und Ganzen tragfähig. Sie trifft aber nur auf Alleinreisende zu, die von niemandem abgeholt werden.

Gerade kommt ein Pärchen an und die beiden tragen das gleiche Shirt, rot und dunkelblau gestreift. Ich hasse sowas. Aber eigentlich ist es mir egal, ich sage nur deshalb, dass ich das hasse, weil ich gelernt habe, dass das cool ist, Pärchen nicht ausstehen zu können. Ich frage mich, ob die beiden häufiger dasselbe Outfit tragen und ob sie noch mehr gleiche Sachen haben. Zahnbürsten in derselben Farbe zum Beispiel.

Ich stehe nun schon fünfzehn Minuten hier und ein gleichmäßiger Singsang hat sich in mein Hirn gegraben. Jetzt höre ich zum ersten Mal aufmerksam hin: „Taxi officiel sortie 11.“ (Ja, wir sind in Frankreich. Und obwohl ich es für prätentiös halte, Dinge in Texten unübersetzt zu lassen, nur um die Folklore nachzuzeichnen und am besten noch damit anzugeben, dass man diverse Fremdsprachen spricht, lasse ich das so stehen.) „Taksiofisiel sortiõz.“ Ich drehe den Kopf und sehe den Flughafenangestellten. Er hat eine kleine Weste an und verweist alle Neuankommenden auf den offiziellen Taxistand bei Ausgang elf. Wie lange am Stück muss er das machen? Muss man bei solch repetitiven Aufgaben häufiger Schichtwechsel machen, um nicht aggressiv zu werden? Ich lache über meine eigene plötzliche Idee: wie lustig wäre das, sich ebenfalls eine kleine offizielle Weste anzuziehen und sich direkt neben ihn zu stellen. Und immer wenn neue Reisende ankommen und er sagt: „Taksiofisiel sortiõz“, würde man direkt hinterher sagen: „Taksiofisiel sortinöf“. Taxi officiel sortie 9. Fraglich wäre, ob man zuerst von dem Angestellten aufs Maul kriegen, oder vom Sicherheitspersonal entfernt werden würde. Ich muss diese zwei Ideen kurz aufschreiben, bevor er ankommt: „Schild hochhalten“ und „Taxi-prank“.

Wie schnell bekommt man Hausverbot am Flughafen? Würde es jemandem auffallen, wenn ich von nun an mehrmals die Woche hier wäre und am Gate Menschen beobachten würde? Wäre das verdächtiges Verhalten und sie würden mich anhalten und verhören? Fällt so etwas zuerst dem Wachpersonal, das durch den Flughafen patrouilliert, auf, oder der Person, die regelmäßig die Überwachungsvideos checkt? Gibt es eine Person, die regelmäßig die Überwachungsvideos checkt? Ich habe wieder Filmszenen im Kopf. Dieses Mal aber keine bestimmten, sondern mehr so generell als Topos. Der Typ, der vor dem Computer sitzt, in einem Raum ohne Tageslicht. Das bläuliche Licht des Bildschirms spiegelt sich in seinen Brillengläsern, deshalb sieht man seine Augen nicht richtig und ich weiß nicht genau, welcher Film es ist.

Nun müsst er eigentlich jeden Augenblick durch die Türen kommen, die Anzeigetafel sagt, dass die Gepäckausgabe seines Fluges beendet ist. Jedes Mal, wenn die automatischen Türen aufgehen und jemand herauskommt, bin ich für eine Sekunde lang aufgeregt. Um das klar zu stellen: Ich habe wirklich keine romantischen Gefühle für ihn und das hier ist auch keine Geschichte darüber, wie ich mir meine romantischen Gefühle für ihn zuerst nicht eingestehen will, sie am Ende aber doch ganz deutlich sehe. Es ist tatsächlich die Flughafenatmosphäre, die für diese Aufregung sorgt. Vielleicht passiert das nicht, wenn man das dauernd macht. Der Mann im Anzug neben mir, der mit einer Hand sein Tablet hochhält, in der anderen sein Handy hat und mit dem Daumen durch seinen Facebook-Feed scrollt, sieht nicht besonders aufgeregt aus. Geht das auf Dauer nicht ins Handgelenk, wenn er das Tablet nur mit einer Hand hochhält? Vielleicht ist es ultraleicht.

Ein kleines Mädchen kommt mit ihrer Mutter durch die Türen, sieht ihren wartenden Vater und rennt auf ihn zu, ruft freudig „Papa!“ und springt ihm in die Arme. Hat sie das auch in Love actually gesehen, oder hat sie das bei ihren Eltern gesehen, die es in Love actually gesehen haben? Oder ist das eine zutiefst menschliche Verhaltensweise?

In einer Ecke steht ein knutschendes Paar. Er hat seine riesige Reisetasche zwei Meter neben sich abgeworfen. Glückselig unterbrechen sie ihre Küsse immer wieder für lange Umarmungen. Ich habe leider seine Ankunft verpasst und frage mich, ob sie sich zuerst geküsst, oder zuerst umarmt haben. Nun starre ich auf seine Reisetasche. Schon etwas riskant, die achtlos zwei Meter neben sich liegen zu lassen. Ich würde sie gerne näher an seine Füße heranschieben, aber das würde die beiden eventuell irritieren. Der Mann unterbricht die Umarmung und bückt sich nach seiner Reisetasche. Ich kann beruhigt den Blick abwenden.

Wenn ich zu viel durch die Gegend schaue, verpasse ich den Moment, in dem er durch die automatischen Türen kommt. Ich habe ein bisschen Angst, dass sich ein breites Grinsen auf mein Gesicht legt, sobald ich ihn sehe. Schließlich ist das so eine Situation mit dem Warten und der Aufregung und wahrscheinlich ist ein besonders großes Lächeln dann eine physiologische Reaktion, um Stress abzubauen. (Ich habe keine Ahnung von biochemischen Körperprozessen.) Gleichzeitig warte ich aber seit einer halben Stunde genau darauf, dass er durch diese Tür kommt. Ich kann also gar nicht umhin zu hoffen, dass ich den Moment nicht verpasse. Ihn nicht durch die Tür kommen zu sehen, wäre unbefriedigend. Ich fixiere also die Türen, abwechselnd, denn es gibt vier davon. Es wundert mich, dass nicht tatsächlich regelmäßig Menschen dagegen knallen, denn dass sie kurz bevor jemand hindurch will wieder zu gehen, kommt relativ häufig vor. Wenn er gegen eine der Türen knallen und sich dabei die Nase brechen würde, dann müssten wir erstmal ins Krankhaus fahren. Das würde garantiert jegliche unerwünschte romantische Stimmung ersticken. Ah, ich sehe ihn, da ist er. Ich muss Stift und Papier wegpacken und ihn begrüßen.

 

Anja Christ

 

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