Erster Advent

Der Advent ist unser Refugium. Die kerzenwarmen Grüße hat selbst das Löschpapier nicht verhärmt. Die Karten baumelnd an der Leine über dem Kamin, rotbebändert wie verknotete Zuversicht. Gesammelte Trophäen der Mitmenschlichkeit, saugen sie sich voll mit mistelumkränzten Blicken. Wie tief die Hoffnungen auch hängen mögen, wachsende Vorratshaltung der Wünsche. Sie gehen uns nie aus.

In der Küche wohnt das Leben selbst. Mutters Teig beatmet unsere Sehnsucht. Ihre Zuneigung flüssiges Metall. Insgeheim schlinge ich die Kekse noch warm hinunter. So gehen sie in mir auf wie kein Same je, und mein Körper wird zur Stadt. Ähnlich der, die unweit im Tal flackert. Uns lockt sie nicht. Wir bleiben im Territorium unserer Weiblichkeit.

Großmutter klopft ans Fenster und hat heute den Schnee dabei, den der Wolf sich aus dem Fell geschüttelt hat. Lässt ihn unterm Gejohle der Schwestern zu unseren Füßen auf den Küchenboden rieseln. Ein tiefes Gurren aus nahenden Raunächten kommt mit ihm ins Haus.

Ihr leichtes Gepäck hat sie dabei nicht verraten, sie trug die alte Mär gewandt in der Kraxn. Auf dem Steingut schmelzen die Schneekristalle passend zum Aggregatszustand meiner Sinne. Kein Geruch enthüllt die wilde Natur. Ich sehe mich um und bemerke keine Veränderung. Mutter wischt den See mit ihrer Nachsicht auf. Dieses Augenzwinkern haben wir an ihr noch nie gesehen. Gewiss hat sie im Fell der Nacht die Habergeiß gewittert.

Im oberen Stock die Tante in emsiger Bettstatt zugange. Wir hören sie gut und singen altbekannte Lieder darüber hinweg. Kein Mann habe ihre Lust entstellt. Und uns hat die Mutter vor den Perchten gewarnt!

Um den Küchentisch scharen wir Stoßgebete wie Kinderreime, während das Verlangen unaufhaltsam in uns tropft. Übers Stiegengeländer flocken Sporen der Leidenschaft zu uns herunter, vermischen sich schlierig mit dem Duft aus Großmutters Kaffeemühle. So unschuldig wie möglich sehen wir uns um, ob alles beim Alten geblieben wäre.

Zwiebelmuster aufs Porzellan gemalt und das Begehren an die Wand. Wir lösen einander das Haar. Der Zirbenkranz in der Tischmitte flicht unser Wissen zu einem einzigen Zopf. Lodernd
brennt darauf die erste Kerze.

 

Zweiter Advent

Tagesanbruch. Wir benennen nicht, was aus den Wäldern steigt. Wie Nebel, die Reste des vorangegangenen Tages und die Hütten halten darunter die Luft an. Aus unserem Schornstein aber steigt Rauch, dessen Schatten uns der Mond auf die Schneedecke legt. Zögerlich hebt sich die Nacht vom ermatteten Firn. Tief die Spuren johlender Schritte darin. Ihr Kettengerassel klingt uns noch in den Ohren, das schwere Klopfen an die Holztür, vom Verlangen, das Einlass begehrt. Glücklich haben die sorgsam geflochtenen Zöpfe uns davor nicht bewahrt.

Wir Schwestern wollen alles sehen. Sowie wir unsere Nasen an die Scheiben pressen, schmelzen die Eiskristalle. Draußen lichten sich unsere Sehnsüchte über dem Tal.

Dunstschwaden ziehen am alten Flusslauf entlang. Erinnerungsfetzen der Geschöpfe, die mit uns leben. Jäh ruft der Eichelhäher, wenn unsere Blicke die Baumgrenze überschreiten. Der Föhnwind hat die Perchten über die Bergrücken getrieben, heute kommt der Nikolo. Ich will über die Alm sehen, bis dahin, wo ich jüngst Haselruten geschnitten, ihr Mark mit meinem Monatsblut gefüllt. Zwischen Wurzelwerk ersteht die Stiefmutter aus Alraunen auf. Ihr Rauchwerk ist handverlesen. Sie betont jedes Wort wie ihr letztes: Alles, was uns wahrhaft gehört, ist geborgt von einem höheren Stern.

Das Mühlrad am Haus dreht sich und dreht uns. Ein leiser Windhauch durch Fensterritzen lässt uns wissen, worin wir geborgen sind. Du irrst dich, klagt die Schwester, nicht Mutterns
Nachsicht war es, ich habe den Schnee vom Küchenboden aufgeleckt!

Horch, Stiegenholzknarren. Herab steigt die Tante in neuem Gewand. Kein Ring an ihrem Finger weist sie aus. Staunend befühlen wir das niegekannte Stickwerk auf ihrer Walkjacke. Fäden aus vielen Jahren gesponnen. Voll Zuversicht bürstet sie sich die Vergangenheit aus dem Haar. Alles Brauchtum ist sinnlich, sagt sie. Wie auf ein Stichwort unter der Hörschwelle holt die Mutter das Kletzenbrot aus dem Ofen. Ob wir rauskönnen, fragen wir, nun, da die Nächte nicht mehr rau sind. Mutter und Tante sehen sich an und brechen in unbändiges Gelächter aus, das die Stube durchsprüht. Wie Wunderkerzen, flüstert die Jüngste und klatscht in die Hände. Ich verstehe den Mond nicht mehr, sagt die andere und schnäuzt sich in ihre Schürze. Wir Schwestern haben uns allzu lange nicht an den Händen gehalten, denke ich und tue es beidseits. Die Hoffnung reicht bis zum Esstisch. Und als läge uns nichts näher, zünden wir darauf die zweite Kerze an.

 

Dritter Advent

Das Feuer im Ofen ist fast heruntergebrannt. In den welligen Scheiben der Holzveranda brandet das Morgenrot. Tunkt das Haus in einen neuen Tag, noch bevor es verlischt. Ich lege drei Scheite nach, für jede Generation eines. Du hast die Urli vergessen, schimpft meine Schwester, und ich blase beschämt in die Glut. Zahllose Ahninnen, so viele Scheite hast du nicht, sagt die Großmutter und ihre Stimme war nie heller. Unter ihren kundigen Handgriffen wacht die Küche auf. Die Teekanne wiegt beinahe nichts. Nicht in ihren Händen, die einst Tag um Tag Gewänder über die Wäschehobel geschrubbt, weitab des Flussbetts.

Die Sonnenwende naht und der Schnee ist vor der Zeit getaut. Mir gefällt nicht alles, was darunter zum Vorschein kommt, doch ich weine ihm nicht nach. Großmutter kleidet sich in die Farben des Waldes. Eines Tages wird sie nicht zurückkommen. Wimpernumrandet ihr letzter Gruß und ihre Sanftmut bleibt. Käferbrut wird sich von uns nähren, lacht sie unlängst.

Meine Schwester meint, ihre Bluse müsse wohl sauber geworden sein. Atemwolken begleiten sie in die Waschküche. Ihre Herzhaut weicht nicht zurück. Sie trägt meine Bewunderung wie eine Zierde zum Festtag. Ich atme tief durch und gehe hinaus, Feuerholz holen, bevor der Stoß kippt. Kein Knirschen mehr unter den Schuhen. Die Erde ist scheinbar wieder näher gerückt. Stein und Stein schichte ich auf den bemoosten Baumstumpf. Opfergaben an die Treulosigkeit meiner Trauer. Darunter liegt das Tier begraben. Unser Streit darum ist beigelegt. Die Nachsicht hat der Mutter eine Kette um den Nacken gelegt, die alles andere ist als ein Hundehalsband. Der Großmutter hätte das Funkeln gefallen. Gib es nur immer weiter, sagt die Mutter und streicht der Ältesten übers Haar. Die Entbehrungen des Jahres sind über den Blutmond vergessen. Noch ein Viertel, sagt die Mutter. Und wir sehen zu, wie der Germteig beim Ofen aufgeht, wo die Katze am liebsten liegt. Wir haben genug, sagt sie und schlägt den Striezel ins Tuch. Im Tal raufen die Buben um den Sterz, weiß sie und wir mit ihr: Entfesselte Kräfte rauben unseren Mut nicht! Morgen zieht sie ihre Schuhbänder fest.

Der Bach, sonst ein Rinnsal, ist von der Schneeschmelze angeschwollen. Die Holzschaufeln des Mühlrads trinken sich gurgelnd satt und die Jüngste schlürft auf Mutters Schoß Zuversicht aus ihrem Becher. Ich schließe die Holztür mit dem Winterwind hinter mir. Ein Luftzug, der wie meine Großmutter heißt, ist mit mir gekommen und hat einen Docht ausgeblasen. Nicht die erste Kerze, nicht die dritte, frisch angezündete. Die zweite ist es. Die Zeit tut, als wäre nichts geschehen – bald schon, bald! – und lässt uns lichter auflodern.

 

Vierter Advent

Das ist die letzte lange Nacht. Wir alle vollziehen die uns verbliebenen Rituale der Dunkelheit. Atemluft zwischen Handflächen gewärmt, schüren wir eine Glut, die sich tags vor uns verbergen mag, winden Bänder um entflohene Mythen. Auf dem Fensterbrett die Stille in Milchschalen gegossen, die letzte Anrufung, um die wir sicher wissen. Wenn auch die Großmutter gegangen sein wird, so bleiben wir ruchbar im Schwesternuniversum. Und jede unserer Gesten sei angetan, die Wiederkehr der erstarkenden Sonne zu bezeugen.

Morgen gleichen sich Tag und Nacht. Lockend ziehen Schwaden neuen Glücks dicht an der Hauswand vorbei. Nichts hat uns darauf vorbereitet. Vogelpaare streiten in der Dämmerung lautstark um den Nachwuchs, der ausbleibt. Wartet noch, wartet, will ich sie trösten, die lichte Zeit kommt bald zurück! Sie glauben nicht mir, sondern allein der Witterung der Zeit selbst. Ahnen nicht, dass mich nichts sonst derart verwirrt, wie ihr steter Verlauf.

Was wissen wir schon? Meist sehen wir die Welt durch unser Fenster, schicken unseren Blick hinaus, tags mehr als nachts. Aus Scheiben, das Werk alter Hände, spiegelnd aus Quarzsand getaucht. Heften Zwirnfäden an unsere Bestimmung, verlassen uns auf die Saligen. Dass sie von den Gletschern herabsteigen, uns innewohnen, sobald die Welt aus dem Nebel fällt.

Ich wage einen Schritt vor die Tür. Jetzt ist da ein Glitzern von tanzenden Schneeflocken rund um mich. Tränen kristallisieren auf meinen Wangen. Ich gehe bis zur Grenze. Dort treffe ich sie. Sie bietet mir Obst an, das ich zunächst nicht annehmen will. Einen glasierten Apfel, glänzend und ahnungsvoll süß knackend. Sie lacht, beißt selbst hinein. Die Apfelhaut rotglühend in ihrem Mund wie das Schwesternzahnfleisch. Sie bückt sich, die Haare fallen ihr über die Schultern nach vorn, ich glaube es sind meine, formt mit bloßen Händen aus der Erde neues Leben. Reicht es mir. Das und die Bitte, es unterm Gaumendach zu verwahren.

Zurück in der Stube sehe ich meine Schwestern verändert an. Die Mutter birgt ihr Gesicht in Kinderhaut weich. Am Tisch ist mein Platz frei. Die Karten liegen über ihn verstreut, wie kleine Zündflammen, schmelzen die Schatten der Schriftzeichen, über Jahre ins Holz gekerbt. Ihr Abdruck ist weithin nahbar. Wir wissen, was diese Umarmung bedeutet und behängen die Äste. Das Christkind zählt drei Tage von der Sonnenwende hinauf. Verlässliches Uhrwerk meiner Geborgenheit. Die baumelnden Schokokugeln in weißes Fransenpapier geschlagen, sind ihre Zahnräder. Vier Kerzen zitieren uns die Himmelsrichtungen. Morgen gleichen sich Tag und Nacht. Die Feuer werden die Hänge hell erleuchten. Alles hat uns darauf vorbereitet.

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Sofie Morin

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