Der Tanz

Die Blätter einer Kastanie rascheln über meinem Kopf im goldgelben Schein der Sonne. Überall liegen stachelige Fruchtschalen herum. Die Stacheln sind schön, denke ich und dann patsch, patsch, patsch. Er taucht aus dem Nichts auf. Ich sehe, wie seine geschwollenen Füße auf die unregelmäßig verlegten Steinplatten klatschen, direkt auf mich zu, oder besser gesagt: im Zickzack um die stacheligen Fruchtschalen herum, aber mit einem unmissverständlichen Ziel – die Bank, auf der ich sitze. Er plumpst neben mich. Ohne zu zögern greift er nach dem Becher Automatenkakao, den ich neben mir abgestellt habe.
„Ey…!“, rufe ich.
Keine Reaktion. Der Barfüßige nimmt noch einen Schluck aus dem Becher. Aber wenigstens die Bank verteidigen, denke ich. Ich verschränke die Arme vor der Brust und blicke geradeaus. Minuten vergehen ohne ein Wort. Dann ist meine Pause zu Ende. Als ich aufstehen will, rollt sich vor meinen Füßen ein Satz aus wie ein neu gekaufter Teppich.
„Warum sind die Menschen, wie sie sind…“
Ich drehe mich zu ihm. Der Barfüßige ist jung. Anfang Zwanzig vielleicht, aber nicht viel älter. Sein dunkelbraunes Haar ist akkurat geschnitten. Die Striemen auf seinen Wangen sind frisch.

„Warum trägst du keine Schuhe?“, frage ich. Ein Teppich gewebt aus Menschheitsfragen ist mir zu viel. Der Barfüßige schiebt seine Unterlippe vor, als würde er schmollen. Er bietet mir etwas von meinem Kakao an. Ich schüttele den Kopf. „Behalte ihn“, sage ich. Er trinkt in einem Zug den Becher aus. Um die Kakaoklümpchen vom Boden des Bechers zu erwischen, stochert er mit seinen Fingern darin herum. Als der Becher leer ist, schmeißt er ihn in den Mülleimer neben der Bank.

„Ich tanze jetzt. Deshalb habe ich meine Schuhe weggeworfen. Ich will tanzen“, sagt er abrupt. Vor meinem inneren Auge sehe ich dicht aneinander gedrängte Menschen. Das Licht zuckt. Mittendrin tanzt der Barfüßige gedankenverloren. Von der Decke regnet es Konfetti.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weiß nur, dass ich etwas sagen sollte, aber auch nicht wem. Die Sonnenstrahlen versiegen. Der Geruch von ungewaschenen Hosen und einsam auf den Straßen verbrachten Nächten steigt mir in die Nase. Ich zünde mir eine Zigarette an.
„Kann ich mal einen Zug von deiner Zigarette haben?“, fragt er. Er nimmt sich nacheinander zwei Zigaretten aus der Schachtel, die ich ihm hinhalte. Eine davon verschwindet in seiner Hosentasche.

Wir rauchen schweigend.
Meine Füße gleiten wie von selbst aus meinen flachen Halbschuhen. Ich schiebe sie mit den Füßen ein Stück von mir weg.
„Wie sollten die Menschen sein?“, frage ich.
Der Barfüßige überlegt, „Wie du und ich“ antwortet er. Er bläst Kringel in die Luft und lacht. „Sie sollten wie du und ich sein.“
Ein kleiner Strauß Fältchen ergießt sich von seinen Augen bis zu den Schläfen. Wir rauchen die Zigarette auf und dann noch eine. Die Blätter der Kastanie rauschen in unsere Stille. Nach einer Weile gleiten meine Strumpfhosenfüße wieder in die Schuhe. Ich gehe zurück in die
Bibliothek. Unter meinen Sohlen knacken die Fruchtschalen und ich rede mir ein, dass flache Damenhalbschuhe ihm nicht hätten helfen können.

Gloria Ballhause

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