Müll, aber schön

„Wir müssen über deine Tassen reden“, sagt Klaudia. Ich besitze kein einheitliches Set, alle auf einmal erworben. Meine Tassen habe ich im Laufe der Jahre angesammelt. „Die sind einfach unästhetisch“, sagt Klaudia.

Das mag sein, dafür kann ich mein Leben anhand meiner Tassen erzählen: Meine älteste Tasse ist schwarz – mit einem roten Stern darauf, das Rot fast weggewaschen. Die Tasse meiner Jugend: Sonntagmorgens habe ich verkatert Kaffee getrunken und mir vorgestellt, etwas zu sein, was ich nicht bin, und etwas werden zu können, was ich niemals werden kann.

Außerdem besitze ich eine Tasse mit einem Goldzeisig darauf. Neben dem Jus-Studium bin ich durch die Natur gezogen, um Vögel zu fotografieren. Ich habe nie gelernt, den Apparat unter Ausnützung all seiner Möglichkeiten zu verwenden. Wenn es das Schicksal will, mache ich ein gutes Bild. Fotografie ist mein Ersatz für Glücksspiel.

Ich habe eine Tasse aus dem Kafka-Museum in Prag. Ich habe mit „Vor dem Gesetz“ zu lesen begonnen und werde nicht aufhören, bis ich Kafka verstanden habe. So viel kann ich mittlerweile sagen: Wenn Kafka wüsste, dass sein Gesicht heute auf Tassen gedruckt wird, käme er zur Überzeugung, in seiner eigenen Prosa gelandet zu sein.

Dann sind da noch viele Tassen von Menschen, die meinen, das Büro wäre ein Ort für mich, um Spaß zu haben. Sie haben mir Spruchtassen geschenkt, dass es nichts Heimtückischeres gebe als Montag, nichts Ersehnenswerteres als Freitag und das einzig Wahre im Leben Kaffeetrinken sei.

All meine Tassen packe ich in eine Schachtel, denn im Dezember übersiedeln wir. Am Umzugstag fällt genau diese Schachtel als einzige von vielen im neuen Stiegenhaus die Treppe hinunter. Alle meine Tassen zerbrechen. Klaudia spricht von einer Verkettung unglücklicher Umstände, sie entschuldigt sich. Den zweiten Teil glaube ich ihr.

Am Weihnachtsmorgen stolpere ich im Schlafzimmer über eine braune Schachtel, die ich für den letzten Umzugskarton halte. Ich öffne sie: Tatsächlich sind Klaudias Weihnachtsgeschenke für mich darin.

Ein wenig später blicke ich aus dem Wohnzimmer auf die Straße und trinke Tee aus einer meiner neuen Tassen. Sie sind aus Emaille: Spezialanfertigungen, auf denen die Vögel Mitteleuropas abgebildet sind. Jeder Vogel trägt neben dem Schnabel eine Sprechblase mit einem eigenen Kafka-Zitat.

Vor dem Wohnzimmerfenster schwebt ein zerrissenes Stück Cellophan vorbei, dreht seine Kreise im Wind und funkelt in der Wintersonne. „Wahrscheinlich die Verpackung von einem Geschenk“, sage ich zu Klaudia, die mich von hinten umarmt.

„Stimmt“, sagt sie, „Müll, aber schön.“

Markus Grundtner

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