Die Wunschlosen 

Du sagst, es ist spät. Ich schaue auf die Uhr, die du mir vor Jahren geschenkt hast, auf der Innenseite hast du mir was eingravieren lassen. Numquam retro. Niemals zurück.

Es ist nachts, zwei Uhr einundzwanzig. Meine Augen sind ausgetrocknet, zu lange habe ich auf den Bildschirm geschaut. Fünf Stunden, 39 Minuten, um genau zu sein.

Ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht, darauf zu achten, wie viel Zeit ich für was brauche. Sechs Stunden Schlaf, 43 Minuten im Bad (morgens und abends zusammen), zehn Stunden in der Arbeit. Die restliche Zeit kümmere ich mich um deinen Kater Morli, in der Hoffnung, dass er sich irgendwann von mir berühren lässt, und gehe zu deinem Grab. Mindestens zweimal die Woche pflege ich es. Die Leute sollen schon von der Ferne sehen, dass dein Grab am schönsten ist, damit sie merken, dass du wichtig bist.

Ansonsten habe ich keine Hobbys, ich mache den Haushalt und bereite meine Patientengespräche vor.

Ich bin effizient.

Wenn ich mich entspanne, fühle ich mich faul.

Nur wenn ich nach Hotels schaue, kann es passieren, dass ich mich für Stunden verliere. Ich plane eine Weltreise, darunter ein zweiwöchiger Aufenthalt in Peru. Ich recherchiere nach den besten Unterkünften, Ausflügen, Lokaltipps und Reiserouten, bis ich so erschöpft bin, dass ich nicht mehr kann. Ich schließe den Laptop, ich bin voller Adrenalin. Ich stelle mir vor, wie das wohl sein wird. Peru, Island, Litauen, Japan, Indonesien, Australien, Hawaii, L.A., New York. Wissend, dass keiner von diesen Urlauben jemals für mich stattfinden wird.

Aber warum, du würdest doch gerne verreisen, sagst du. Es hätte nichts geändert, wenn du bei mir geblieben wärst.

Mein Handy vibriert.

Unsere ältere Schwester Katrin schreibt, ob ich nächsten Samstag zu ihr komme.

Wegen Weihnachten.

Ich seufze.
Schön wieder ein Jahr vergangen.

Katrin hält den Gedanken nicht aus, dass ich den 24. Dezember alleine verbringe oder so wie vor zwei Jahren den ganzen Tag an deinem Grab stehe. Zu groß das schlechte Gewissen. Beim Weihnachtsfest selbst will sie mich aber nicht dabei haben, nicht dass ich die Stimmung runterziehe, ich soll am Vormittag kommen.

„Till ist mit den Kindern einen Baum aussuchen“, sagt sie. Sie öffnet einen Prosecco. Wie eine Sanduhr bei einem Saunadurchgang markiert die Flasche unser gemeinsames Zeitfenster, das anzeigt, wie lange ich noch durchhalten muss, bis ich wieder verschwinden kann.

Ich schenke ihr eine Orchidee, Pralinen und ein Buch, das sie vermutlich niemals lesen wird. Sie sagt, das wäre nicht nötig gewesen. Es ist nicht leicht, jemanden zu beschenken, der schon alles hat.

„Für dich“, sagt sie und hält mir einen Reisegutschein entgegen. Letztes Jahr Wizz Air, dieses Jahr Tui. Ich bedanke mich, doch ich greife ihn nicht an.

„Freust du dich nicht?“, fragt sie.

„Doch. Ich kann ihn nur nicht annehmen.“

„Warum nicht?“
„Du weißt doch, dass ich Morli nicht alleine lassen kann.“

„Er kann bei mir bleiben.“
„Die Kinder würden ihn stressen. Außerdem muss ich auf meine Patienten schauen. Mir wäre nicht wohl dabei, ein Wochenende nicht erreichbar zu sein.“

„Du arbeitest zu viel.“

Sie hat recht, meinst du. Ich schüttle den Kopf.

„Wann warst du das letzte Mal auf Urlaub?“
Ich zucke mit den Schultern, als wüsste ich es nicht. Es sind drei Jahre, elf Monate und zwei Tage, seitdem du tot bist.

„Hast du kein Fernweh?“

„Ich glaub, ich brauch das Reisen nicht mehr“, sage ich.

„Blödsinn!“, ruft Katrin. „Mit ihr wolltest du noch eine Weltreise machen! Du warst immer so gern unterwegs und jetzt dreht sich alles nur noch um deine Psychopraxis!“

Katrin hält nichts von Psychotherapie. Sie glaubt, dass das Geldabzocke ist, dass die Leute nur an ihren Profit denken, wenn sie sich am Leid der anderen bereichern. Sie findet, mit seinen Problemen muss jeder selbst fertig werden; es bringt nichts, seine Sorgen immer wieder durchzukauen. Man muss weitermachen, sich auf das Gute konzentrieren, dann wird das schon.

„Und sonst?“, fragt Katrin. „Hast du irgendwas vor? Irgendwelche Pläne für die Feiertage?“

Ich schüttle den Kopf.

„Ich bin wunschlos.“

„Aber glücklich bist du nicht.“

Katrin trinkt den Prosecco aus und spricht mit ernster Stimme weiter: „Ich mach mir Sorgen um dich.“

Sie will wissen, was mich hier hält.

Ob es wegen dir ist?
Warum ich nicht loslassen kann?

Ihre Lippen bewegen sich weiter, aber ich höre nichts. Ich sehe deinen ausgetrockneten Mund, Katrin, wie sie dir den Speichel weg tupft. Ich sehe mich dir winken, euch sagen, ich hätte einen Notfall, einer Patientin geht es nicht gut. Ich verlasse das Krankenhaus, steige in ein Taxi und fahre zum Flughafen, ohne Gepäck buche ich dort den nächstbesten Flug, es geht nach Athen. Ich steige in den Flieger, ich komme an, ich lasse mich in einen Klub bringen, ich trinke, bis ich nicht mehr gerade stehen kann. Ich unterhalte mich, ich lache, ich tanze, ich mache alles, was du nicht mehr machen kannst. Ich habe Spaß, ich denke nicht an dich.

„Geht’s dir gut?“, fragt Katrin.

Mein Gesicht ist nass und salzig. Meine Haut glüht. Ich dachte, ich würde um dich trauern und dann würde es mir besser gehen, doch stattdessen bekomme ich jedes Jahr einen neuen Reisegutschein, den ich verfallen lasse und anstatt dem Rauschen der Wellen höre ich immer wieder die dröhnende Partymusik des Klubs und Katrin, die mich am nächsten Morgen anruft und sagt, du wärst friedlich eingeschlafen.

„Was ist?“
Ich kann nicht antworten, nicht denken, ich habe das Gefühl zu zerfallen, ich falle –

„Du warst sicher zehn Minuten weg.“

Katrin sagt, dass ich zu viel alleine bin und mehr auf mich schauen muss. Sie hätte mich mehrmals gerüttelt und meinen Namen geschrien, ich wäre am Boden gelegen und nicht ansprechbar gewesen.

Ich soll mir die Feiertage nehmen und mich entspannen, meinst du.

Ihr übertreibt.

Nach den Feiertagen gehe ich wie gewohnt zur Arbeit.

Numquam retro.

.

Carolina Reichl

.

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at