Alles Frisch

Vor wenigen Wochen hast du dabei geholfen die Wände der Wohnung deines Vaters für Nachmieter zu weißeln. In einem der Zimmer hast du ein paar Jahre gewohnt. Eine Spanne wie ein Strich, abgehakt kurz. Während der Ausmalarbeiten hast du ein zwei Sätze darüber gesagt und gleich bemerkt, dass dein Vater keine Erinnerung daran besitzt wie schwer er dir damals dein Leben gemacht hat. Vor einiger Zeit hast du einmal damit angefangen, einfach losgeredet, weil du dir sicher warst, dass es für euch beide wichtig ist. Er sah auf selbstschuldige Weise betroffen aus, sagte nichts und wechselte bald das Thema. Du warst immer nachsichtig mit ihm. Immerhin hat er ein Kind verloren, deinen Zwillingsbruder. Und du wusstest ja auch nicht wie das geht, ohne Zwillingsbruder zu leben. Mit einem Vater in dessen Versteck, in dessen Höhle zu vegetieren, dass weißt du, das hast du gelernt. Mit deinem Auszug stand dein Zimmer für ein paar Jahre beinah ungenützt leer. Seine einzige Funktion war es als eine Art Wäschekammer zu dienen. Von den meisten Dingen hatte er zu wenig, aber zwei aufgeklappte Wäscheständer hatte er. Immer waren sie aufgestellt und immer hängte was auf ihnen. Beim Ausmalen machte ein dunkler Abdruck auf der Wand Probleme. Der Fleck stammt aus dir. Er ist das Werk deiner Einsamkeit. Dein Abdruck liegt wie einer der Schatten von Pompeji im Zimmer. Dort bist du gewesen. An dieser Wand gelehnt, nicht in Pompeji. Dort warst du nie. Das ganze Zeugs was tief in deiner Brust existierte, pulsierte und raus wollte, schlief immer wieder ein, wachte immer wieder auf und endete dann dort an der Wand. Nach dem Auszug hast du lange gelitten ohne zu wissen wie es anders geht als sich dabei wegzusperren. Vater wollte mit der Pension eine Veränderung. Fand sie mit einer neuen, kleineren Wohnung. An seiner Art des Verbergens hat sich nichts geändert. Es ist wie damals, nur ohne diesem Zimmer an dem dein Abdruck klebt.

Gestern. Eine Freundin befindet sich zurzeit in einer Rehabilitationsklinik für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Es war dir und deiner Freundin wichtig sie zu sehen, mit ihr zu sprechen, ihr zu zeigen, dass sie ein paar Stunden Fahrt wert ist. Am Hinweg, auf der Autobahn, wart ihr plötzlich in den Totenwinkel eines anderen Autos gerutscht um gleich wieder daraus zu entgleiten. Deine Freundin wachte aufgrund des kleinen Lenkmanövers auf. Du hast nur gesagt: ‚Kein Problem. Ich sah das Kommen.‘  Und  ‚Ich werde sehr alt werden. Ich weiß nicht warum, aber das spüre ich schon lange.‘

Du wohnst mit dieser Frau zusammen. Zuhause musst du sie immer wieder darauf hinweisen, sie solle die Kerzen auspusten wenn sie den Raum verlässt. Sie vergisst das oft. Was die beiden Katzen betrifft glaubst du, dass sie euch ansehen als würdet ihr ihnen was bedeuten. Dabei habt ihr sie von ihren Müttern getrennt. Eiskalt sind wir.

Was wird dich begleiten, was wird man vergessen, was macht dich glücklich?

Du weißt gar nicht was du heute tun sollst. Einfach weiter machen, denkst du. Niemand weiß wie das geht. Bis sich die Sache mit dem Glücklich-Sein wieder einstellt. Für einen Moment. Das reicht.

Mit aller Frische denkst du dann, ja so war es.

Abends. Fast in der Badewanne ausgerutscht.

Dein Herz schlägt wie wild.

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Mario Schemmerl

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Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
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