Das Wasser unter den Mühlen

Rheinsberg und seine Schwester stehen auf dem Bürgersteig vor dem Haus und machen einen Flohmarkt. Sie wollen Steine, selbstgemalte Bilder und tote Schmetterlinge an die Nachbarn verkaufen. Die Nachbarn kommen aber nicht vorbei an diesem Morgen. Nur die gelbe Katze von gegenüber streicht Rheinsberg ein paar Minuten lang um die Beine, bis ihr Kopf zuckt, irgendwohin, und sie im Garten hinter ihm verschwindet. Das alles ist zwanzig Jahre her und die Katze tot. Rheinsberg dagegen lebt noch.

Rheinsberg hat im Wald eine Bank entdeckt, auf der jede Woche ein Mann sitzt und niest. Rheinsberg findet heraus, an welchen Tagen der Mann auf der Bank sitzt und legt seine Spaziergänge genau in die Zeit, in der der Mann sein Taschentuch hervorholt.

Im Februar geht Rheinsberg an einem Freitag vor Sonnenaufgang mit dem schwarzen Hund der Nachbarin spazieren. Er läuft durch die Industriegebiete und kommt schließlich zu den Feldern, die weit draußen vor der Stadt liegen. An einer Wegkreuzung steht eine alte Linde, an deren Stamm ein kleines Schild befestigt ist.

Das Schild informiert darüber, dass an dieser Stelle im 17. Jahrhundert der Galgen der angrenzenden Stadt stand. Rheinsberg verstopft sich die Ohren mit Wachs und bindet dem Hund einen Faden an den Schwanz. Dann lässt er ihn in der Erde unter der Linde graben. Als der Hund eine Alraune ausgräbt, bindet Rheinsberg das andere Ende des Fadens an der Pflanze fest, zeigt dem Hund ein Stück Wurst und wirft es ein paar Meter weit weg. Der Hund rennt hinterher, während die Alraune an seinem Schwanz aus der Erde gezogen wird und zu schreien beginnt. Nach ein paar Sekunden bricht der Hund tot zusammen. Rheinsberg beugt sich über ihn und steckt die Alraune in seine Hosentasche. Dann kehrt er nach Hause zurück.

Andere Namen für die Alraune sind: Mandragora, Alruncke, Arun, Baaras, Galgenmännchen, Wurzelknecht und Springwurz.

1999: Rheinsberg schneidet Ankündigungen für Erotikfilme aus der Fernsehzeitung seiner Eltern aus. Er legt sich ein DIN-A-4-Heft an, eines, das für die Schule bestimmt ist, und klebt alle Anzeigen sorgfältig in das Heft ein.

Rheinsbergs Sammelleidenschaft kommt heraus, als er in den Sommerferien des gleichen Jahres mit seinen Eltern und seiner Schwester in den Urlaub fährt. Als sie wieder nach Hause kommen, liegt das DIN-A-4-Heft im Mülleimer des Kinderzimmers. Von da an kann er seiner Großmutter, die sich, kaum ist die Familie weg, durch die leeren Zimmer schleicht, nie mehr in die Augen sehen.

In manchen Nächten träumt Rheinsberg davon, ein Auto zu haben. Das Auto fällt ihm im Traum plötzlich ein, er weiß nur nicht mehr, wo er es geparkt hat. Dann gerät er in Panik: dass er das Auto verloren hat, soll sein Vater nicht erfahren.

Kurz vor Ostern findet sich Rheinsberg in einer leeren Kirche wieder. Er betritt die Kanzel und wendet sich schüchtern der nicht anwesenden Gemeinde zu. Dann räuspert er sich und sagt:

„Ich bin das Wasser unter den Mühlen.“

„Ich bin der holprige Weg ins Tal.“

„Ich bin der Hund hinter einer Glastür.“

„Ich bin das Pochen am Fenster.“

„Ich bin der Paartanz in einer zu engen Küche.“

„Ich bin der Blick auf eine hinter Tannen verborgene Großmutter.“

„Die Menschen lassen durch ihren Tod die Orte im Stich“, sagt Rheinsberg, als er mit einem Freund durch die Stadt geht. Der sagt: „Halt doch endlich mal die Klappe.“

Rheinsberg öffnet den Mund um zu antworten, doch bevor er etwas sagen kann, beginnt ein neuer Abschnitt:

Am Muttertag besucht Rheinsberg endlich seine Mutter. Sie sitzen auf der Terrasse, essen Kuchen und reden nicht über die Großmutter. Als die Mutter kurz im Badezimmer ist, schleicht sich Rheinsberg in ihr Schlafzimmer und schiebt die Alraune, die mittlerweile aufgehört hat zu schreien, unter die Matratze. Dies ist sein Muttertagsgeschenk.

Legt man eine Alraunenwurzel auf den Kaminsims, soll sie dem Haus Wohlstand, Fruchtbarkeit und Schutz bringen.

Legt man sie in ein Bett, soll sie den Schläfer vor Schwermut zu bewahren.

Rheinsberg fertigt heute sein eigenes Grabtuch an. Er presst sein Gesicht in das feuchte Geschirrhandtuch aus der Küche, und lässt es den Abdruck seines Gesichts annehmen. Das wiederholt er mehrmals mit verschiedenen Handtüchern und verteilt sie anschließend an seine Freunde. Sie sollen sie aufbewahren in ihren Nachtschränken, so dass ein Teil von ihm übrig bleibt, wenn er mal nicht mehr ist.

Der Sommer geht seinem Ende entgegen. Dies bedeutet für Rheinsberg und die anderen Mädchen die Rückkehr nach Lindenhof. Was ist das für ein Hallo auf den Gängen des Internats! Die Mädchen toben umeinander, verlorene Tennisschläger liegen auf den Gängen, und auf einem jeden Mädchengesicht tanzt ein Lachen. Carlotta, das lebhafte Mädchen mit den dunklen Augen, hakt Rheinsberg unter, und zusammen begrüßen sie Bobby und Jenny. Die beiden sind schon fleißig dabei, Streiche für das kommende Schuljahr auszuhecken. Die fröhlichen Zwillinge Hanni und Nanni stoßen dazu und umarmen Rheinsberg herzlich. Hanni hat in den Sommerferien noch mehr Sommersprossen bekommen als sonst, und Bobby seufzt laut auf: „Na wenigstens kann man euch Zwillinge dann für eine Zeitlang auseinanderhalten!“ Alle lachen. Die stille Hilda, die im letzten Jahr das Amt der Klassensprecherin innehatte, tritt zu der kleinen Gruppe und gibt Rheinsberg feierlich die Hand. Dann winkt die sportliche Marianne von weitem, und sogar Elli, die eitle Cousine der Zwillinge, sieht kurz von ihrem Handspiegel hoch, um alle zu begrüßen. Als sich die Wiedersehensfreude einigermaßen gelegt hat, betritt Fräulein Theobald, die Schulleiterin, die Szene. Sie blickt ernst, aber nicht unfreundlich, in die Runde und hebt königlich die Hand zum Gruß. Als sie Rheinsberg sieht, verändert sich ihr Gesichtsausdruck. Mit schnellen Schritten läuft sie auf Rheinsberg zu, packt ihn an der Schulter und zischt: „Das hier ist kein Ort für dich!“

Da lässt er Carlottas untergehakten Arm fallen und flieht aus Lindenhof. Im Hinauseilen übersieht er Mamsell, die kurzsichtige Französischlehrerin, die, von seinen schnellen Schritten aus dem Gleichgewicht geraten, gegen eine Wand prallt und in tausend Stücke zerspringt.

1994: Rheinsberg riecht an der Schiebermütze seines Großvaters. Derselbe ölig-fettige Geruch überfällt ihn Jahre später, als er zu nah neben einem Mann im Zug sitzt.

Wie die Bäume an diesem Samstag aussehen, das kennt Rheinsberg schon, das hat er schon einmal gesehen. Vor vielen Jahren, nur woanders. Woanders war das, dass er an diesem klaren Tag einen Waldweg entlanglief, und auf beiden Seiten standen die Bäume. Ihre Äste berührten sich fast über ihm. Ein Zentimeter, zwei, dann wäre da über ihm ein Dach gewesen. Und das Gelb der Blätter strahlt ihm noch immer herüber durch die Jahre.

Und niemand begegnete ihm an diesem Tag. Als wären alle plötzlich gestorben, und er wäre durch ein Versehen, durch eine Unachtsamkeit, noch am Leben geblieben.

Damals breiteten sich vor Rheinsberg plötzlich die Felder aus. Und von weit her drängte sich die Ferne wie ein alter betrunkener Freund an ihn.

Rheinsberg bezweifelt, dass es diesen einen hellen Tag, an den er sich glaubt zu erinnern, wirklich gegeben hat.

Der Tag wird sich wohl eher über die letzten Jahre hinweg in ihm zusammengesetzt haben. Eine Mischung aus Träumen kurz vor dem Aufwachen und dem Film Ich denke oft an Piroschka.

Rheinsberg hat im Wald eine Bank entdeckt, auf der jede Woche ein Mann sitzt und liest. Rheinsberg findet heraus, an welchen Tagen der Mann auf der Bank sitzt und legt seine Spaziergänge genau in die Zeit, in der der Mann sein Taschenbuch hervorholt.

An einem Mittwochabend folgt Rheinsberg seiner Mutter heimlich durch die Stadt, drückt sich in Häuserecken und sieht, wie sie ein Vereinshaus betritt.

Rheinsberg läuft an der Außenwand des Gebäudes entlang, bis er zum einzig erleuchteten Fenster kommt. Er wagt es nicht, hineinzuschauen und drückt sich unter dem Fenstersims an die Wand. Dann lauscht er.

„Er hat mir irgendwas unter die Matratze gelegt, ich weiß nicht warum. Vielleicht Ingwer oder so etwas. Als ich es gefunden habe, war alles so verschimmelt, dass ich die Matratze wegwerfen musste“, sagt die Mutter.

„Er hat meinen Hund umgebracht. Draußen vor der Stadt hab ich ihn dann gefunden. Das ist eine Schweinerei“, sagt die Nachbarin.

„Er hat das Auto irgendwo abgestellt und findet es nicht wieder“, sagt der Vater.

„Er ist furchtbar neurotisch. Was ist das mit den Geschirrhandtüchern? Er soll endlich aufhören, die Leute zu belästigen. Außerdem ist er nur ausgedacht“, sagt die Erzählerin.

„Er hat einen ausgewachsenen Gottkomplex“, sagt der Pfarrer.

„Er ist ein Perverser“, sagt die Großmutter.

„Er kann einfach nicht mal für fünf Minuten die Klappe halten“, sagt der Freund.

„Niemand kauft tote Schmetterlinge“, sagt die Schwester.

Danach sagt keiner mehr etwas, und Rheinsberg hört, wie Stühle gerückt werden. Als es hinter dem Fenster still wird, und jemand das Licht ausschaltet, bleibt Rheinsberg noch eine Weile im Dunkeln sitzen. Über ihm bewegen sich die Äste eines Baumes im Takt eines plötzlich aufkommenden Windes. Da springt eine gelbe Katze aus der Baumkrone, streicht ihm ein paar Sekunden um die Beine, bis ihr Kopf zuckt, irgendwohin, und sie in den dunklen Straßen verschwindet.

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Stephanie Nebenführ

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