Die Wahrheit ist ein vages Ding und schwer zu greifen

Rezension

Kintsugi ist eine japanische Keramikbearbeitungsmethode, in der Brüche oder kaputte Stellen vergoldet, statt versteckt werden. Das soll die die Wertschätzung des Fehlerhaften, die Schönheit im Defekten ausdrücken. Fehlerhaft und defekt sind auch die vier Protagonist*innen in Miku Sophie Kühmels gleichnamigen Debüt, das im August bei S. Fischer erschienenen ist. Aber auch ihnen wird viel Wertschätzung entgegengebracht: Als Vexierspiel angelegt und von Dramoletten durchwachsen, die die Handlung zwischen den einzelnen Kapiteln vorantreiben, führt uns die Autorin durch wechselnde Erzählperspektiven

Kintsugi beginnt etwas schwer und konstruiert, wird aber noch im ersten Viertel ruhiger und entwickelt gleichzeitig eine irre Sogwirkung. Kühmels Figuren sind gleichsam liebenswert und verabscheuungswürdig, süß und unsympathisch – ein Emotionscocktail, dem man sich als Leser*in schwer entziehen kann. Vier Menschen, drei Männer und eine Frau, verbringen ein Winterwochenende gemeinsam am See.

Max und Reif sind seit zwanzig Jahren ein Paar, nehmen sich in ihrem Ferienhaus regelmäßig Auszeiten von ihren Leben als Künstler und Universitätsprofessor für Archäologie – manchmal auch von ihrer Beziehung. Und das, obwohl sie von allen beneidet werden: Für ihre Liebe, die schon so lange hält, und die Harmonie, obwohl oder gerade weil sie nicht verheiratet sind. An diesem Wochenende begleiten sie ihr langjähriger Freund Tonio und dessen studierende Tochter Pega, die für Max und Reif wie ein eigenes Kind ist. Pega sieht das mittlerweile anders und überhaupt ist keine der Beziehungen so, wie sie auf den ersten Blick scheint. Da geht es viel um Liebe: Zwischen Mann und Mann, Mann und Frau, Vater und Tochter, Kumpel und Kumpel.Es fließen Tränen, brechen Teetassen und Herzen. Manches kann man kitten, anderes nicht. Oft verschwimmen Vergangenheit und Gegenwart. Da geht’s um Abhängigkeitsverhältnisse, finanziell, gefühlsmäßig. Um Schuld, um Versäumnisse – aber auch, wie man am besten betrunken von einem zugeschneiten Hochstand im Wald herunterkommt, ohne sich etwas zu brechen. Es entwickeln sich Dynamiken: Konflikte brechen aus, manche neu, manche seit Jahrzehnten am heimlichen Brodeln. Miku S. Kühmel kann bodenständig und authentisch ohne Kitsch – aber mit schönem Pathos – über Liebe schreiben. Die Beziehung zwischen Reif und Max kann stellvertretend für alle Beziehungen gelesen werden, so klar sind die Bilder, die die Autorin darstellt, so kunstvoll verpackt sie Romantik und Tragik im Alltäglichen:

„Es beeinflusst meine Wahrnehmung vielleicht nicht mehr so sehr, die Proportionalitäten ändern sich, und spätestens, wenn wir zu zweit im Auto sitzen und auf unseren Schenkeln trommeln und laut Roxane singen, weiß ich, dass Reif das alles nicht missen oder eintauschen wollen würde.“ (S. 54)

Ebenso bemerkenswert stimmig ist der Stil, die Sprache in Kintsugi: Konsequent und realistisch lesen sich alle vier Protagonist*innen. Als 1992 geborene Autorin drei Männern Ende Vierzig eine glaubhafte Stimme zu verleihen, ist eine literarische Herausforderung, der sich Miku S. Kühmel nicht nur gestellt hat, sondern in der sie brilliert. Kritisieren kann man die gelegentlich zu bildungsbürgerlichen Formulierungen

„Ich gluckse, als sie mich an diesen alten Namen erinnert, den sie im Kindergarten oktroyiert bekommen hat und mit dem wir sie ewig getriezt haben“ (S. 116)

und die teils sehr abrupten Übergänge zwischen Rückschau und Realität. Aber das sind Bagatellen, denn hier liegt ein ausgezeichneter Roman vor. Unaufgeregt, ohne banal zu werden, mit einer Liebe zur Sprache und großem handwerklichen Geschick erschaffen. Mit Inhalten, in denen man sich als Leser*in sofort wiederfindet, ohne jemals gelangweilt zu werden. Mit Details, die in Erinnerung bleiben. Ein Buch, das schnell gelesen, aber keinesfalls schnell vergessen ist.

 

Miku Sophie Kühmel: Kintsugi, S. Fischer Verlag 2019, 304 S.

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Lisa-Viktoria Niederberger