freiVERS | Simon Scharinger

Was es gibt. Versuch einer Liste

 

(A)

Die Aprikosenbäume gibt es.
Die Aprikosenbäume bei Inger Christensen gibt es.
Die Asche in meiner Hand gibt es.
Die Antwort auf meine Frage gibt es, zumindest hoffe ich das.
Den Adamsapfel gibt es.
Die Altgebliebenen gibt es.
Das Allein-Sein in jeder Stunde gibt es.
Das Auschwitz in den Büchern gibt es.
Das Auschwitz außerhalb von Büchern gibt es.
Den Anus als primäres Geschlecht gibt es.
Die Akropolis gibt es.
Den Anfang im Wort gibt es.
Die Architektur von deinem Zuhause gibt es.
Die Abtreibung als Recht gibt es.
Die Ausländer im Inland gibt es.
Die Ausländer im Ausland gibt es.
Das Andere gibt es.
Die Angst gibt es.
Das Auseinander-Setzen in der Schule gibt es.
Die Anschläge in Wien, in Paris etc. gibt es.
Die Anschläge außerhalb Europas gibt es, sie interessieren aber nicht.
Die Anschläge, fast ausnahmslos ausgeführt von Männern, gibt es.
Die an.schläge gibt es.
Die Aktionen gibt es, bei Hofer, Billa, Spar, Marina Abramovic´ und unübertroffen bei Pjotr Andrejewitsch Pawlenski.
Das ABC gibt es.
Das ACAB gibt es.
Das Agitative gibt es, bei Brecht, bei Gruber, bei Schlingensief, bei Hubsi Kramar.
Das Abschieben gibt es, von Verantwortung, von Schuld, von Pflicht, zusammengefasst im Abschieben von Menschen.
Den Anfang, dem ein Zauber innewohnt, gibt es.
Die Artikel in diesem Text gibt es.
Das Aus gibt es.

 

(B)

Die Blätter von Aprikosenbäumen gibt es.
Die Blätter von Ahorn, Kastanie, Buche und Eiche gibt es.
Die Balkone in Innenhöfen gibt es.
Den Balkan gibt es.
Das Babylon im 1. Wiener Gemeindebezirk gibt es, sprachverwirrt.
Das Bescheidene in Wünschen gibt es.
Das Baiser auf Torten gibt es.
Die Besen in Abstellräumen gibt es.
Die Brombeeren bei Inger Christensen gibt es.
Das Brot als Waffe gibt es.
Die Beerdigung des Kommunismus gibt es und seine Auferstehung.
Die Beliebigkeit in der Kunst gibt es.
Die Blunzn als Schimpfwort gibt es.
Die Bombe in Hiroshima gibt es und die in Nagasaki.
Das Beben von Valdivia gibt es, nebst dem grundsätzlichen Beben.
Das Balancieren in der Liebe gibt es.
Die Bücher von Friederike Mayröcker gibt es.
Die Bums‘n in Schärding gibt es.
Die Behörden hörig den Behörden gibt es.
Die Beamten gibt es.
Die Beleidigung von Beamten gibt es.
Die Brust von dir in meinen Händen gibt es.
Den Balsam für die Seele gibt es.
Die Backen gibt es, zusammengezwickt, gekniffen, errötet, immer eine Art Anus ummantelnd.
Die Bakchen gibt es. Und größenwahnsinnige weiße Regisseure, die sich an ihnen versuchen; im Chor, mittels Fließbandarbeit, auf faschistoide Weise Faschismus beleuchtend.
Die Besamung von Kühen gibt es.
Das Banale gibt es.
Die Banane gibt es.
Den Brand nach einem Rausch gibt es.
Den Brand der Wälder in Australien gibt es.
Das Beten von Auswendiggelerntem gibt es.
Die Bigotterie gibt es.
Das Bienensterben gibt es.
Die Blumen und die Blätter von Aprikosenbäumen gibt es.
Die Blicke, die ganz wie Flammen tanzen, gibt es; bei Marina Zwetajewa.
Das Biegsame gibt es, bei Birken, Rückrädern, etc. pp.
Das Bikini-Atoll gibt es – le bikini, la premiére bombe an-atomique – und seine Fischer und kontaminierten Thunfisch und Verstand.
Die Bierdeckel von Martin Peichl gibt es, und die im Café Bendl, einem um die Ohren fliegend.
Die Besinnlichkeit, die immer bloß Besinnlosigkeit meint, gibt es. Und sie ist zu verwerfen.
Die Bettgeher gibt es, bei diesen Mietpreisen vielleicht bald wieder.
Die Bretter, die eine Welt bedeuten, aber niemals die Welt, gibt es.
Den Blumenanbau, der Leben nimmt und Freude schenkt, gibt es.

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Simon Scharinger

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mosaik38 - ein bisschen Nähe

mosaik38 - ein bisschen Nähe

Herbst 2022

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INTRO

„Alle feiern“, sagt meine Mutter. „Ich verstehe nicht, wie alle feiern können.“ Sie sagt: „Ich verstehe nicht, wie alle so tun können, als ob nichts gewesen ist.“
„Ja“, sage ich. (Julo Drescowitz, S. 28)

Auch wenn es schon abgedroschen klingt und jede*r Zweite beim nächsten Satz seufzend das Intro-Lesen abbrechen wird: Wir leben in turbulenten, intensiven, bedrückenden Zeiten. Aber! Es ist schön zu beobachten, dass es Künstler*innen gibt, die sich den unterschiedlichsten Aspekten dieser lange andauernden Krisenprozesse annehmen und die diversen Implikationen auf Mikro- und Makro-Ebene thematisieren.

Aus Gesprächen wissen wir, dass viele Autor*innen von der Weltlage oder individuellen Notlagen am Schreiben gehindert werden – vielleicht findet sich in dieser Ausgabe für jeder*n von uns ein Text, der wieder Energie und Perspektive gibt.

„Schreiben braucht Gewusel“, meint Jakob Kraner im Kreativraum. Dem können wir uns nur anschließen: Der persönliche Kontakt, die geistige und körperliche Nähe, der Austausch, das Vertraute und das Neue – all das kann Kraft, Sicherheit, Vertrauen schenken. Das klingt auch im bewusst gewählten Titel der Ausgabe an.

„Ich suche in mehreren Sprachen, für eine Sammlung, sage ich, und bin umgeben von wackeliger Sprachigkeit“ – Franziska Füchsl (S. 65) führt uns in einen Schwerpunkt im [foej tõ], der uns schon lange ein Anliegen ist. Wir sind überzeugt, dass der Austausch zwischen den Sprachen nicht nur die möglicherweise wackelige Sprachigkeit festigt (und aber auch wackeliger macht), sondern auch die Distanz zwischen Menschen verringert. Und wenn wir in unseren Zeiten etwas brauchen, dann ist das „ein bisschen Nähe“ – wenn vielleicht auch räumlich getrennt.

euer mosaik

 

Inhalt

stets notbeleuchtet

Maja Goertz – Hinter der Deadline
Georg Großmann – Laternenfische
Helmut Blepp – Nachtarbeiter
Simon Scharinger – woanders

Es pocht

Anna Krauß – einmachglasvollwelt.
Tsovinar Hakobyan – Palermo
Clara Maj Dahlke – Imago
Julo Drescowitz – Grillfest

kein Sound?

Sascha Bruch – Das Schweigen häuten
Zoe Dackweiler – Der Verschleiß des Körpers (Einflussgrößen) – Zoe
Natalie Campbell – Läuterung

Kunststrecke von Veronika Klammer
BABEL – Übersetzungen

Das Thema unseres Feuilletons – nämlich Mehrsprachigkeit – steht hier bei BABEL in guter Tradition immer schon im Mittelpunkt, ohne sich aktuellen Trends anbiedern zu wollen. Schließlich ist Mehrsprachigkeit unser tägliches Geschäft – wenn es auch stets in einer deutschen Übersetzung mündet. Verstehen, Verstand, Verstandenwordensein, Verständigen oder Verständigthaben – unser Anliegen ist die Verständigung, obgleich wir uns der bescheidenen Wirkmacht unserer Rubrik bewusst sind. Also bitte, habt Verständnis, wenn wir euch in die Verantwortung nehmen! Stellt euch vor den Spiegel und lest die folgenden Gedichte laut im Original, damit ihr erahnt, wie groß die Welt eigentlich ist – und wir so klein.

[foejәtõ]

„Written in a Kloster, it natürlich turned out to be a book of erotic poetry.” – Wovon der chilenische Autor und Übersetzer Tomás Cohen hier spricht – oder auch: wie er spricht – ist ein Beispiel für Mehrsprachigkeit. Zahlreiche Positionen zu diesem weitreichenden Feld wollen wir hier versammeln: Die Zugänge von Übersetzer*innen, die Ansprüche von Verlagen, spannende neue Projekte, individuelle Herausforderungen. Herausgekommen ist eine klarerweise unvollständige Sammlung an Positionen, die das weite Feld öffnet und mehr Fragen aufwirft als sie beantworten will. Ein Gebilde aus „wackeliger Sprachigkeit“, wie es Franziska Füchsl in ihrem Intro formuliert.

Kreativraum mit Jakob Kraner

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>> Infos, Leseprobe und Bestellen


mosaik12 - auf die richtige Seite zurück

mit:

Magdalena Ecker, Wolfgang Kauer, Eva Löchli, Claudia Kraml, Christine Gnahn, Alexander Kleiß, Stefan Klingersberger, Simone Lettner, Leonhard Pill, Clemens Schittko, Sandra Maria Bernhofer, Lukas Wagner, Simon Scharinger, Philipp Feman, Cedric Fritsch, Renate Katzer, Martin Fritz, Eva Weingärtler, Tristan Marquart, Rick Reuther, Marko Dinic, Peter.W., Ogi Georgiev, Lisa Viktoria Niederberger, Karin Seidner, Lila, Cornelia Lindinger, Artemis, Maria M. Köchler, Josefin Jenewein und Lena Maria Kühleitner.

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